Test Yamaha YZF-R 1
Die Versuchung

Sie ist einfach unwiderstehlich. Die R1 macht an wie keine andere. Wie sonst ist zu erklären, daß die meisten für Deutschland georderten Maschinen schon verkauft sind, lange bevor sie beim Händler steht.

Es wird Zeit, Klartext zu reden. Über Eckdaten, Herstellerangaben und erste Eindrücke gab es bereits genug zu lesen. Jetzt müssen Fakten her. Ist die neue Yamaha YZF R1 wirklich so leicht, so stark und so schnell wie versprochen?
Diese Fragen zu klären, hatte MOTORRAD zwei Möglichkeiten. Entweder auf eine der ersten nach Deutschland gelieferten Maschinen zu warten, die allerdings frühestens ab Mitte Januar eintreffen sollen, oder schon vorab eine der wenigen Vorserienexemplare genauer unter die Lupe zu nehmen. Und da MOTORRAD der Versuchung nicht länger widerstehen kann, heißt es ab nach Spanien. Denn dort ist durch einen glücklichen Zufall eine solche Maschine für eine Woche zu haben.
Kommen wir also zu den Fakten. Vollgetankt inklusive Bordwerkzeug wiegt der Supersportler 202 Kilogramm und liefert 148 PS auf dem Bosch-Prüfstand unserer spanischen Schwesterzeitschrift MOTOCICLISMO ab. Dabei überrascht nicht die Spitzenleistung des neuen Motors - schließlich waren sogar 150 PS versprochen -, sondern die gleichmäßige, füllige Leistungskurve ohne die geringsten Einbrüche, mit ein Verdienst der Exup-Auslaßsteuerung. Der Drehmomentverlauf ist ein Gedicht, ab 4000/min stehen bereits traumhafte 100 Newtonmeter parat.
Diese theoretischen Zahlen wirken sich in der Praxis wie folgt aus: Leistung satt in allen Lagen, ohne jemals das Gefühl zu haben, von dieser schlagartig überrascht zu werden. Die R1 meistert enge Serpentinen im nordspanischen Bergland mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie die schnellen Landstraßenpassagen im flachen Umland von Alicante. Der genutzte Drehzahlbereich reicht bei der abwechslungsreichen Fahrt Richtung Süden von 3000 bis 8000/min. Nur selten kratzt die Nadel des Drehzahlmessers an der 10000er Markierung. In Konflikt mit dem roten Bereich, der bei 11700/min beginnt, kommt die Nadel auf der Landstraße so gut wie nie. Das hat die R1 selbst bei forscher Gangart einfach nicht nötig. Kein Anflug von Aggressivität und Hektik, die Yamaha agiert mit Ruhe und Souveränität. Erste Sahne ist auch die Bremsanlage. Die einteiligen Bremszangen haben zwar nur vier Kolben, sind aber perfekt zu dossieren und super in der Wirkung. Und bei Überholvorgängen lassen sich die sechs Gänge im Gegensatz zu einem bei der ersten Präsentation gefahrenen Exemplar (siehe MOTORRAD 24/1997) bei dieser Maschine sauber und nahezu lautlos wechseln.
Dagegen muckt jetzt die Kupplung auf. Schon beim lockeren Anfahren rupfen die Beläge bedenklich. Nach Anheben des Ölstands auf maximales Level wird dieses bereits von anderen Yamaha-Modellen bekannte Phänomen deutlich besser.
Und so kann die R1 dann endlich zeigen, was sie unter geübter Hand zu leisten im Stande ist. Bewegt sich die Beschleunigungszeit mit 3,2 Sekunden von null auf hundert km/h noch im üblichen Rahmen, markiert sie mit 8,6 Sekunden auf 200 km/h einen Traumwert. Nicht, daß man so etwas im Alltag braucht, aber es spiegelt die Entschlossenheit und die Kompetenz wieder, mit der die Yamaha-Ingenieure an ihrem R1-Projekt gearbeitet haben.
Den Herren von der Fahrwerks-Entwicklung gebührt ebenfalls großes Lob. Denn zum ersten Mal ist es gelungen, das bislang als einzigartig geltende Fahrgefühl auf einer Ducati 916 nicht nur zu kopieren, sondern gar zu übertreffen. Die R1 scheint sich auf der Straße festzusaugen, vermittelt ein sehr direktes Gefühl zum Vorderrad und läßt sich - anders als eine 916 - auch noch bei Geschwindigkeiten über 140 km/h überraschend leicht von einer Schräglage in die andere werfen.
Allzu forsche Richtungswechsel bei geöffnetem Gasgriff sind jedoch mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Obwohl das Gewicht des Fahrers durch den kurzen Tank weit nach vorn verlagert wird und die lange Dreiecksschwinge in Verbindung mit einem zum Vorgängermodell um zehn Prozent erhöhten Negativfederweg der Gabel ein aufsteigendes Vorderrad verhindern soll, neigt die R1 dennoch zum Lenkerschlagen. Mit den für den spanischen Markt als Erstbereifung gelieferten Michelin TX 15/25 war diese ungeliebte Neigung vor allem bei höheren Geschwindigkeiten unter Vollast zu spüren. Die in Deutschland ausgelieferten Metzeler ME Z3 unterbinden dagegen das Kick-back weitgehend. Weil sich die Japaner dieses Problems bewußt sind, sollen die käuflichen Serienmaschinen mit einer Halterung für einen Lenkungsdämpfer ausgestattet werden.
Daß die R1 kein braves Alltagsmotorrad sein möchte, wird schnell klar. An die Beförderung eines Sozius - grundsätzlich möglich und erlaubt - scheint niemand ernsthaft einen Gedanken verschwendet zu haben. Der Windschutz, den die winzige Verkleidungskuppel bietet, ist kaum der Rede wert, und das Cockpit steht ganz im Zeichen des großen Drehzahlmessers. Dennoch läßt es sich mit der R1 nicht nur im Extrembereich prima Leben. Der digitale Tacho ist dank riesiger Ziffern gut ablesbar, und das multifunktionale Display kann sogar auf eine kleine Zeitanzeige umgestellt werden. Der Sitzkomfort geht selbst auf längeren Strecken in Ordnung, die Fahrwerksabstimmung ebenso, da die Federelemente - zumindest die der Vorserien-R1 - neben einer sportlich straffen auch eine supersofte Landstraßenabstimmung zu lassen. Problematisch kann dagegen der geringe Tankinhalt werden. Bereits nach 130 Kilometern zügiger Autobahnfahrt mahnt die Reserveleuchte einen Tankstopp an. Dann wird es kritisch, denn die Versuchung, einfach immer weiter zu fahren, ist bei dieser Yamaha größer denn je.

Unsere Highlights

Motorenvergleich: Yamaha - Kawasaki - Zweimal 148 PS - die Motoren der YZF-R1 und der Kawasaki ZX-9R im Vergleich

148 PS bei 10100 Umdrehungen drückt die YZF-R1, ebenfalls 148 PS bei 1000 Umdrehungen mehr die ZX-9R auf Prüfstandsrolle. Und 111 Newtonmeter bei 9200 respektive 103 Newtonmweter bei 8500/min als Gipfelpunkte zweier üppiger Drehmomentkurven sind nicht weniger beachtlich. Die Yamaha kratzt sogar schon bei 4500/min an der 100-Newtonmeter-Marke.Vergleichbare Potenz trotz unterschiedlicher Bauweise von Yamaha und Kawasaki? 1000 zu 900 Kubikzentimeter Hubraum, Fünf- gegenüber Vierventiltechnik (beide mit Tassenstößeln), Kurz- zu Ultrakurzhuber. Unterschiede auch bei den Eckdaten: 65,3 Kilogramm leicht und ultrakompakt der R1-Triebling, trotz Hubraumdefizit mit 73,4 Kilogramm deutlich schwerer, aber ebenfalls gedrungen das ZX-9R-Triebwerk.Die Konstruktionen zeigen durchaus Parallelen: Die Nockenwellentriebe sitzen am rechten Kurbelwellenende. Das spart gegenüber einer mittigen Anordnung Kurbel- und Nockenwellenlager ein. Beide Lichtmaschinenrotoren sitzen am rechten Kurbelwellenstumpf. So entfällt der Antrieb für eine separate Lichtmaschine. Beide Maßnahmen verringern die Reibungsverluste, das Gewicht und den Fertigungsaufwand für das Motorgehäuse.Die Yamaha-Ingenieure dachten noch weiter. Die Anordnung der beiden Getriebewellen übereinander spart nochmals Baulänge. Trotzdem reicht eine Motorgehäuseteilung: Kurbel- und Getriebeeingangswelle ruhen zwischen Gehäuseober- und Unterteil, während die darüberliegende Getriebeausgangswelle und die Schaltwalze von der Kupplungsseite her eingeschoben werden. Weiterhin bilden Zylinderbank und obere Gehäusehälfte eine Einheit. Dies spart eine Dicht- und Bearbeitungsfläche und somit Fertigungsaufwand. Der Kopf kann mit kurzen, leichten Schrauben befestigt werden, der Motor wird leicht, kompakt und steif. Das Kawa-Triebwerk mit konventioneller Getriebeanordnung und separater Zylinderbank sowie eingeschrumpften Guß- Laufbuchsen baut aufwendiger und schwerer.Die R1-Kolben oszillieren direkt in den verschleißfest beschichteten Alu-Zylindern. Diese Bauart gewährleistet einen stabilen Schmierfilm sowie einen ausgezeichneten Wämeübergang. Die Kawa-Kolben dagegen laufen konventionell in Graugußbuchsen. Sie messen in der Bohrung einen Millimeter mehr. Der Hub ist kürzer, das Drehzahlniveau höher.Bei der für den Drehmomentverlauf so wichtigen Zylinderfüllung liegen die Vorteile bei der Fünfventiltechnik der Yamaha. Mit ihren drei kleinen Einlaßventilen erreicht sie schon bei moderatem Nockenhub den freien Ventilquerschnitt der ZX-9R, die allerdings mit höheren Drehzahlen das Füllungsmanko ihres kleineren Hubraums wettmacht.Insgesamt also ein klarer Vorsprung für den Yamaha-Motor, der seine Leistung schonend aus dem vollen Liter Hubraum schöpft, dabei aber leicht und kompakt baut. Der Kawasaki-Vierzylinder ist deutlich konventioneller konstruiert und kann deshalb das geringe Gewicht des Yamaha-Motors nicht erreichen. Leistungsmäßig reizt er sein Potential aber konsequenter aus. JÖS

Mein Fazit

Leistung wird zur Nebensache, spielerisches Handling zur Selbstverständlichkeit und Wohlfühlen zur Pflicht. Die R1 leitet nicht nur für Yamaha eine neue Ära ein. Sie ist kompromißlos, ohne dabei große Opfer zu fordern. Natürlich muß man bei einem Vorserienmotorrad immer etwas vorsichtig sein. Die vorgesehene Änderungen am Getriebe und die Halterung für einen Lenkungsdämpfer sollten den Serien-R1 nicht unbedingt schaden. Bis dahin gilt: Ich bin begeistert. Gerhard Lindner

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023