Top-Test Ducati MH 900 evoluzione
Zur Sache, Schätzchen

Leidenschaftliches Design, liebevoll verspielte Technik, jede Schweißnaht perfekt – Ducatis MH 900 evoluzione ist wie geschaffen für die Vitrine. Oder für den MOTORRAD-Top-Test, der die wahren Qualitäten des schicken Twins enthüllt.

Zur Sache, Schätzchen
Foto: Gragolov

Es passiert nicht oft – und im Lauf der Jahre eigentlich immer seltener –, dass einem ein Motorrad so richtig den Kopf verdreht. Das liegt zum einen an der Flut übermäßig gestylter Mode-Bikes avantgardistischer Designer, die zweifelsfrei sehr unkonventionell, aber nicht unbedingt schön daherkommen. Und auf der anderen Seite verfolgen die meist supersportlichen Kräder nur einen ganz banalen Zweck: schnell zu sein. Da uns jedoch die Physik lehrt, dass nur die Annäherung an die Tropfenform den Weg zum richtig Schnellsein ebnet, geht der Trend auch hier zu pummeligen Formen und bauchigen Verkleidungskuppeln, um bei der hurtigen Fortbewegung durch möglichst wenig Widerstand möglichst viel Topseed zu mobilisieren. Hayabusa, ick hör dir trabsen – nur so wird dem Fahrtwind ein Schnippchen geschlagen.

Und mitten im Geschwindigkeitsrausch dreht die Ducati MH 900e frei von allen Ansprüchen an die beinharte Competition den Aerodynamikern eine lange Nase. Hier pfeift der Wind ungeniert durchs luftige Gitterrohrgestell, verheddert sich im strömungstechnisch skandalös zerklüfteten Heck, dem der Aero-Bürzel einfach fehlt. Mit dem bewussten Verzicht auf die laminare Strömung und dem keck im Freien platzierten Schalldämpferpärchen hat Ducati die Grundlage für verliebt schmachtende Zweiradler geschaffen. MH 900e, die witzig-freche Mischung aus Ducati Pantah, Königswellen SS 900 und 916, im Detail mit so viel Herzblut und Liebe gemacht, dass auch engagierten Edelbastlern der Schraubendreher aus der Hose fällt.

Poliertes Aluminium an allen Ecken und Enden, schicke Abdeckkappen für die normalerweise seitlich offenen Knoten der kunststoffbeschichteten Rahmenrohre. Leichte, passgenaue GFK-Teile in tadelloser Lackierung. Selbst die vorgetäuschte »Ölwanne«, wie die funktionslose Tankabdeckung und der kleine Protektor über dem Kettenritzel als markantes Designelement geplant, haben die Italiener in Aluminum mit herb grober Oberfläche gegossen. Nicht ein einziges verchromtes Plastikteil hat sich hierher verirrt, dafür blinzelt der Freiflächenscheinwerfer etwas verschlafen aus einem soliden Aluminium-Bullauge, sitzt der polierte Instrumentenblock und die Blackbox auf zierlichen Silentblöcken. Wer sich seine 900er-SS in ähnlicher Qualität selbst zurecht machen wollte, säße von November bis April im Keller – und hätte immer noch keine MH 900e. Insofern sind die 30000 Mark keine schlechte Anlage.

Jetzt zur Sache, Schätzchen. Wie schlägt sich den das offiziell 29 327 Mark teure Edelmetall, wenn’s ums Fahren geht? Klare Ansage bei der Sitzprobe: Sport. Der Sitz höher als die Lenkerstummel, schmaler Tank, hartes Polster, hohe Rasten – die Ducati 916 lässt grüßen. Klare Ansage auch beim Anwerfen des 900er-Desmo-Twins: Immer noch typischer Ducati-Sound, immer noch knurriges Ansaugschnorcheln beim Galopp, wenn die messerscharf dressierte Einspritzung des Reiters Kommando eins zu eins in Schub verwandelt.

Kaltstart, Stop and go, lässige Bummelei, der V-Twin macht ohne Rucken und Zucken mit, kommt nur unter 2000/min gelegentlich ins Straucheln und bittet um die Mithilfe der an der Testmaschine relativ leichtgängigen Kupplung. Davon abgesehen ein herzerfrischendes Triebwerk mit reichlich Schmalz aus dem Keller, feuriger Drehfreude und dem richtigen Schuss kerniger Mechanik. Mechanik, die nicht zu überhören ist. Leise surrende Zahnriemen, im Hintergrund das klickernde Auf und Zu der Desmodromik, untermalt von zirpenden Kühlrippen. Der alt ehrwürdige Ducati-Twin weckt den Maschinist im Manne, macht richtig Laune.

Aber Achtung, der Auftritt mit der MH 900e sollte gut geplant sein. Rangieren und Wenden aus dem 850 Millimeter hohen Sattel ist eigentlich unmöglich, zumal ein brauchbarer Lenkeinschlag nicht vorhanden ist. Also wird die Ducati per Schiebung auf den Startplatz bugsiert, und los geht’s. Kurz und knackig wechseln die sechs Gangstufen beim Landstraßensprint ihre Position, reißen die gemessenen 80 PS den vollgetankt 195 Kilogramm leichten Renner heftig nach vorn. Das Ganze fühlt sich subjektiv eher nach 160 denn nach 195 Kilogramm an, was hauptsächlich der ungemein schlanken und geduckten Linie der MH 900e zu verdanken ist. Satt ins Tank-Sitzbank-Arrangement integriert, fühlt man sich vom Fleck weg daheim – vorausgesetzt, man frönt der radikal sportlichen Gangart. So gebückt die Haltung auch ausfällt, in Sachen Ergonomie sind die Ducati-Ingenieure kaum zu schlagen. Keine Kanten, kein Ecken, perfekt angewinkelte, mehrteilige Lenkerstummel und das breite, straffe Sitzpolster sorgen beim Piloten selbst nach hunderten von Landstraßenkilometer für ein zufriedenes Grinsen.

Nicht überragend, aber den Fahrleistungen locker gewachsen, greift das Brembo-Ensemble nach den beiden 320er-Bremscheiben und zwingt auf wellig zusammengeschobenen Asphaltteppichen die nicht einstellbare Upside-down-Gabel gelegentlich auf Block. Straffere Federn vorn wie hinten wären das Tüpfelchen auf dem i, denn dieses Ducati-Chassis lässt sich in die Ecken pfeffern, dass selbst Mike »the bike« Hailwood seine Freude gehabt hätte. Mit reichlich viel Dämpfung in den Federelementen und dem stabilen Chassis bügelt die MH 900e in akurat gezeichneten Bögen durch die Landschaft. Nix wackelt, nix pumpt – klasse.

Das liegt auch am Verzicht auf eine überkandidelte Breitbereifung. Mit einem 120/65er vorn und in handlingsfreundlicher 170/60er-Bescheidenheit hinten wechselt die MH 900 auf engen Landstraßen mit Lässigkeit von einer Schräglagen in die andere, ohne dass es beim beherzten Aufziehen der beiden Drosselklappen an Traktion und Haftung mangelt. Wobei die beinahe unendliche Schräglagenfreiheit den griffigen Michelin Pilot Sport freien Lauf lässt und rasante Kurventänzchen freudig unterstützt. Lediglich beim Einbremsen in Kurven sträubt sich die Ducati, will mit Kraft auf die Linie gezwungen werden.

Werden die Kurven weiter, das Tempo höher, schleicht sich auch an der MH 900 evoluzione etwas von der Ducati-typischen Trägheit ein und zwingt zu nachdrücklichen Lenkbefehlen, verschafft dem roten Renner aber auch dieses ungemein gute Gefühl von Sicherheit und Rückmeldung. Wie hingenagelt. Zu aller Überraschung bügeln die Federelemente trotz der honigzähen Dämpfung übelste Landstraßen zwar nicht ganz, aber fast eben. Und so baumelt der einstellbare Lenkungsdämpfer über die gesamte Testdauer ziemlich gelangweilt an seinen Kugelgelenken. Und zwar in der weichsten Position, damit er auch beim Serpentinengewürge nicht den gewünschten Strich beeinträchtigt. Denn der gelingt mit der MH 900e in höchster Präzision, die allenfalls durch ausgelatschte Längsrillen gestört wird. Der obligatorische Stabilitätstest auf der unreglementierten Autobahn bringt ebenfalls keine neuen Erkenntnisse in Sachen Geradeauslauf. Rabiates Reißen und Zerren am Lenker- keine Reaktion. Üble Bodenwellen und bockelig harte Trennfugen mit Volldampf überflogen – war was?

Solch souveräne Stabilität hat natürlich Hintergründe, die sich schon allein aus den Eckdaten herauslesen lassen. Mir relativ viel Gewichtsanteil auf der Vorderachse, dem 1415 Millimeter langen Radstand und stabilisierenden 110 Millimeter Nachlauf muss man sich auf der Ducati über den Geradeauslauf nicht viel Gedanken machen. Und dass sich die zierliche Gitterrohrkonstruktion, die den Motor, der zudem die Schwingenlagerung bildet, als tragendes Element einbindet, hat sich über Jahre hinweg weltmeisterlich bewährt. Was sich auch auf die bildschöne Einarmschwinge übertragen lässt. Wie der Rahmen wird das Puzzle aus Rohren und Röhrchen im aufwendigen WIG-Schweißverfahren zur stabilen Fachwerkskonstruktion verbunden. Das Ergebnis: zierliche Schweißraupen wie gemalt bis in den letzten Winkel, nichts zu sehen von lieblos hingebruzzelter Roboter-Arbeit.

Eine Sache, die sich freilich nur bei überschaubaren Produktionszahlen verwirklichen lässt. Zweitausend MH 900e werden in Bologna in der eigens dafür geschaffenen Abteilung montiert. Was in Anbetracht der Tatsache, dass diese Ducati nicht nur ein visuelles Großereignis darstellt, sondern dem Traum von der puristischen Fahrmaschine einen Riesenschritt näher kommt, sicherlich zu wenig sind. Ducatisti mit prall gefülltem Konto, einem Platz in der Vitrine und der Lust auf unverfälschte Mechanik sollten sich also sputen.

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War sonst was? - Ducati MH 900e

War sonst was?Plus0 Wasserdichte Steckverbindungen der Bordelektrik0 Ölkühler flexibel befestigt, kann nach hinten wegklappen0 Spielfreie Kugelgelenke am Schaltgestänge 0 Einfache Montage von Monocoque und SitzbankMinus0 Der zu kurze Aluseitenständer klappte selbsttätig ein und biegt sich bei Belastung durch0 Schlechte Sicht in den Rückspiegeln0 Tankdeckel lässt beim sich beim Öffnen schlecht greifen0 Keinerlei Spritzschutz von Hinterrad zu Motor, Vorderradkotflügel zu kurz0 Keine Einstellmöglichkeiten an der Gabel0 Auffallend geringer Einstellbereich der Zugstufendämpfung hinten Was auffiel:0 Zwei kleine Batterien im Bereich des Schwerpunkts links und rechts montiert 0 Stark unterschiedliche Länge der beiden Auspuffkrümmer0 Rahmen und Schwinge kunststoffbeschichtetFahrwerkseinstellungen im TestGabel: nicht einstellbar, Federbein: Federbasis von 200 auf 196 mm vorgespannte Länge geändert, Zugstufe 5 Klicks auf, Druckstufe für sportliches Fahren 1 Klick, für mehr Komfort auf Landstraßen 8 Klicks auf. Bereifung im Test: Michelin Pilot Sport, Luftdruck 2,3/2,5 bar

MOTORRAD-Messwerte - Ducati MH 900e

MOTORRAD-Messwerte Bremsen und FahrdynamikBremsmessungBremsweg aus 100 km/h 40,2 MeterMittlere Bremsverzögerung 9,6 m/s2Bemerkungen: Etwas teigiges, indirektes Gefühl zu Beginn der Bremsung, mit zunehmender Bremskraft hebt das Hinterrad ab, lange bevor das Vorderrad die Blockiergrenze erreicht. Der maximale Verzögerung bei warmen Reifen und griffigem Asphalt wird also nicht durch die mögliche Bremskraftübertragung des Vorderrads, sondern durch die Überschlagsneigung beschränkt. Die Gabel federt dabei bis zum Anschlag ein. Handling-Parcours I. (schneller Slalom) Beste Rundenzeit 21,4 sekVmax am Messpunkt 99,5 km/hBemerkungen: Gute Lenkpräzision mit befriedigendem Handling. Die stark nach vorn geneigte Sitzhaltung macht das Anbremsen der engen Wendeschleife etwas mühsam, auch wirkt das Motorrad in normaler Sitzhaltung gefahren hier etwas kippelig. Dank der geringen Lastwechsel kann aus dem Wendepunkt früh und weich beschleunigt werden. Bei harten Schräglagenwechseln geht das Federbein teilweise auf Block und muss in der Druckstufendämpfung nachreguliert werden.Handling-Parcours II. (langsamer Slalom)Dieser Test konnte aufgrund von Umbauarbeiten an der MOTORRAD-Teststrecke nicht gefahren werden. Kreisbahn 46 m 0Beste Rundenzeit 10,3 sekVmax am Messpunkt 55,8 km/hBemerkungen: Gute Kurvenstabilität auch bei Lastwechsel, keinerlei aufsetzende Teile, jedoch deutliches Aufstellmoment beim Bremsen.

Fazit

Ein gewagtes Design mit provokanten Elementen polarisiert die Gemeinde. Doch der stehende Applaus des Publikums bestätigt: Die MH 900e kommt an, begeistert nicht nur das Ducati-Lager. Dass mit der feuerroten Ducati zudem noch echter Kurvenbrenner mit brillanter Fahrdynamik geboren wurde – umso schöner.

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MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023