Modellhistorie Yamaha R1: Liebeserklärung und emotionale Abschiedstour

Liebeserklärung an die Yamaha R1
Modellhistorie und emotionale Abschiedstour

Veröffentlicht am 08.07.2025

Liebeserklärungen und Abschiede sollten nicht zusammenfallen. Aber, geliebte Yamaha R1, leider ereilt uns beide genau dieses Schicksal. 26 Jahre lang, fast mein ganzes Leben, hast du die Welt der Sportmotorräder geprägt. Hast mehrmals die Messlatte für deine Klasse nach oben gelegt, dich selbst neu erfunden und unzählige Herzen gebrochen. Ja, ein paar Knochen sicher auch, aber wenn der Abschied naht, neigt der Mensch dazu, Negatives auszublenden. Lass uns also in den schönen Erinnerungen schwelgen und noch einmal gemeinsam den Fahrtwind spüren.

Weißt du noch, wie alles begann?

Ich ehrlich gesagt nicht. Als du 1998 die Superbike-Bühne betratst, war ich noch nicht in der Lage, Begriffe wie "150 PS" und "202 Kilo vollgetankt" zu verstehen. Im Maßstab 1:12 habe ich dich trotzdem durchs Kinderzimmer geschoben und dabei den Klang deines Motors imitiert.

Auf den Straßen gab es derweil die besagten Knochenbrüche, denn deine brachiale Leistung und der Drehmoment-Punch zwischen 3.000 und 4.500/min waren nichts für grobe Gashände. Böse Zungen betitelten dich damals gar als "Witwenmacherin". Noch so ein Wort, das ich nicht zu verstehen imstande war. Und du schütteltest diese Bezeichnung ab, bevor ich sie begriff.

Erste Veränderungen

Mit neuer EXUP-Steuerung der Auspuffklappe und flexiblerem Chassis wurdest du schon im Jahr 2000 reifer und zugänglicher. Zwei Jahre später gab es dann eine Einspritzung mit geregeltem Kat und seidiger Leistungsentfaltung.

Es war das goldene Zeitalter der Superbikes, besonders der japanischen. Im dauerhaften Vergleich mit Suzuki GSX-R 1000, Honda CBR 1000 RR Fireblade und Kawasaki Ninja ZX-10R drehte dein Screamer-Reihenvierer immer höher, bekam immer mehr Spitzenleistung.

Gleichzeitig wurde dein Chassis bei der Suche nach dem besten Feeling und maximalem Grip mal flexibler, dann wieder steifer.

2009: die Zäsur

Plötzlich klangst du anders. Gut anders. Deine Erbauer hatten dich am Vierzylinder-Herzen operiert: Der Screamer mit 180 Grad Hubzapfenversatz und regelmäßiger Zündfolge wich dem Crossplane. 90 Grad Hubzapfenversatz, so wie in Rossis MotoGP-M1, brachten Punch im unteren und mittleren Drehzahlbereich und den bis heute unvergleichlichen, V4-artigen Sound.

Deine Fanbase wuchs rasant. Auch ich träumte zu dieser Zeit oft von dir, verschlang die MOTORRAD-Tests und meldete mich ein Jahr später in der Fahrschule an.

Lang ersehnter Traum

Während ich mit Warnweste geschmückt die ersten Pylonen auf einer weniger mitreißenden aber umso treueren Honda CBF 500 umkurvte, arbeitete man bereits an deinem Facelift und es gab erstmals eine Traktionskontrolle für die 182 PS, mit denen du inzwischen an der Kette zogst.

Für mich damals unvorstellbar, wie auch die knapp 15.000 Euro auf deinem Preisschild. Ich musste mich mit A2-konformen 34 Pferdchen meiner gerade so ins Budget passenden Suzuki GSF 600 Bandit zufriedengeben. Auch die habe ich geliebt, aber auf eine andere Weise.

Anschauen konnte ich deinen Underseat-Doppelauspuff immerhin während einiger Touren mit meinem Kumpel Max. Ein Fest, wenn er aufzog und unter monströsem Röhren vor mir immer kleiner wurde. Als RN22, wie er sie besaß, bist du noch heute auf der Landstraße eine Macht.

Alles neu

Doch das Wettrüsten in der Superbike-Klasse hatte ungeahnte Dimensionen angenommen. 2009 stieß BMW mit der S 1000 RR und 193 PS in neue Sphären vor. Da kamst du nicht ran. Bis 2015, als dein Datenblatt 200 PS Leistung offerierte und an dir auch alles andere gänzlich neu war.

Mich packte ganz besonders das Design, so aggressiv und böse wie bei keinem Superbike aus Japan je zuvor. Du bliebst ihm mit kleinen Änderungen bis 2024 treu, wie auch dem Motor und Chassis. RN65 nennt sich deine letzte Generation, seit dem Modelljahr 2020 unverändert.

Erste Begegnungen

In dieser Evolutionsstufe sind wir uns erstmals fahrdynamisch nähergekommen. Erst auf der Landstraße, dann in deiner Heimat – auf der Rennstrecke. Hierfür wurdest du geschaffen, vermittelst ein grandioses Anlehngefühl und machst jede Gerade zum Genuss für Ohr und Herz.

Einmal, im Jahr 2021, durfte ich dich dann sogar als echtes Rennmotorrad in Gestalt einer R1 M, aufwendig verfeinert von Yamaha-Händler und Tuner Dominik Klein, erleben. Die Erinnerung an die Runden auf dem Hockenheimring half mir seitdem durch einige kalte und graue Winter.

Abschied nehmen

Und dass wir jetzt im wieder mal kalten und grauen Januar auf südeuropäischen Straßen eine Abschiedstour unternehmen, bringt nicht nur belebende Sonnenstrahlen ins Gesicht, sondern auch weitere ins Herz.

Dein Crossplane-Motor generiert im Sattel noch immer Gänsehaut-Sound und spendet bei niedrigen Außentemperaturen auch angenehme Wärme untenrum. Obenrum forderst du sowieso zum sportlichen Liegestütz auf, der die Muskulatur aufwärmt.

Objektiv betrachtet mag es vielleicht nicht komfortabel sein, mit dir locker geschwungene Straßen zu surfen, diesseits von Vollgas und maximaler Schräglage. Landstraßentempo unterfordert dich und du gibst mir dadurch ein Gefühl der Überlegenheit. Ein kurzer Dreh am Gasgriff genügt für jedes Überholmanöver. Die meisten Vierräder setzen sowieso schnell den Blinker rechts, wenn sie dein Gesicht im Rückspiegel erblicken.

Momente mit Suchpotential

Weite Bögen magst du am liebsten, gibst reichlich Feedback und noch mehr Stabilität in Schräglage. Wird das Asphaltband schmaler und die Radien enger, muss man dich mit klaren Lenkbefehlen unterstützen.

Weil du im ersten Gang schon über 140 km/h erreichst, bräuchte man im Straßenverkehr den Quickshifter mit Blipperfunktion eigentlich gar nicht. Doch auch im unteren Drehzahldrittel macht es großen Spaß, die Fahrstufen kupplungsfrei durchzusteppen. Ins obere Drittel stößt man abseits der Rennstrecke nur höchst selten vor. In diesen raren Momenten verschwimmt dann die Umgebung und vor uns erscheint die Straße wie ein enger Tunnel. Momente mit Suchtpotenzial.

Trostpflaster

Ich weiß, die seit 2025 geltenden Regularien der Euro-5+-Norm hättest du nur mit großem Entwicklungsaufwand gepackt. Deine Tage als zulassungsfähiges Motorrad sind in Europa deshalb gezählt und wer dich erleben möchte, ist auf den Gebrauchtmarkt angewiesen. Das ist der Lauf der Dinge. Immerhin ein kleines Trostpflaster: Dem Yamaha-Portfolio bleibst du als reine Rennversion erhalten.

Es wird langsam dunkel, wir sind am Ziel der Tour. Danke, liebste R1. Danke für 26 schnelle, schräge und emotionale Jahre. Wir, deine Fans, werden dich vermissen.