Gibt es den idealen Weg zum Weltmeister? Das Diagramm auf der folgenden Doppelseite scheint ihn zu zeigen: der direkte Kurs, ohne Umwege von der Wiege aufs Podest. Aber: Keiner der hier vorgestellten „echten“ Weltmeister aus dem Straßen- und Motocross-Sport gewann einen Titel auf diesem direkten Weg; manche mussten lange, einige von ihnen bedrohliche oder kuriose Umwege absolvieren.
Zum Beispiel die beiden italienischen Multi-Weltmeister Giacomo Agostini und Valentino Rossi. Agostini musste sich das Einverständnis seines Vaters regelrecht erschleichen, indem er den Unterschied zwischen „corse motociclistiche“ und „corse ciclistiche“, also zwischen Motorrad- und Fahrradrennen, geschickt verschleierte. Rossi hingegen begann, wohl auf Initiative seiner Mutter Stefania, mit dem Kartsport und wechselte erst dann aufs Minibike, als er seinem Einsteiger-Kart entwachsen war und seine Eltern kein größeres finanzieren konnten.
Die Krise des jungen Stefan Bradl war da schon von ernsterer Natur. Mit kaum 17 Jahren schmiss er das für seine militärische Strenge bekannte Ausbildungsprogramm beim spanischen 125er-Team von Repsol Honda unter dem ehemaligen Grand Prix-Piloten Alberto Puig. Dass er vor Saisonbeginn sieben Wochen weg von zu Hause unter der Obhut von Zuchtmeister Puig hätte bleiben sollen, war ihm einfach zu viel, und unter immensem Druck verkündete er sein Karriereende. Später entschied er sich doch fürs Weiterfahren, startete für das Blusens Aprilia-Team bei der spanischen Meisterschaft und nach ersten Erfolgen auch in der 125er-WM. Die spanische Meisterschaft konnte er gewinnen und bei den Grands Prix beachtliche Erfolge erzielen, wodurch der Vertrag mit dem Kiefer-Team zustande kam. Der Rest ist Geschichte.
Sicherlich am schwersten hatte es Mick Doohan auf dem Weg zu seinem ersten Titel. 1992 hatte er ihn schon fast in der Tasche, als er sich bei der Dutch TT in Assen bei einem heftigen Sturz das rechte Bein so kompliziert brach, dass die Ärzte es nach schwierigen Operationen zeitweilig an das linke nähten, um die Blutversorgung zu verbessern. Um die Funktion des steif gebliebenen Fußgelenks beim Bremsen zu ersetzen, erfand Doohan mit seinem Techniker Jeremy Burgess die Daumenbremse, bei der das Hinterrad mit dem linken Daumen gebremst wird. Weil dies anders als die normale Fußbremse in Rechts- und Linkskurven gleichermaßen gut funktioniert, übernahmen seither auch etliche Rennfahrer ohne Behinderung dieses System.
Doch kaum genesen, stürzte Mick Doohan bei der Vorbereitung der 1993er-Saison erneut und geriet deshalb mit seinem Training in Rückstand. Erst in der zweiten Saisonhälfte fand er zu seiner Topform. Im Winter 1993/94 berichtete MOTORRAD-Grand-Prix-Reporter Friedemann Kirn, der Doohan in Australien getroffen hatte, in der Redaktion von dessen Fitness und Entschlossenheit. „Der wird Weltmeister“, prophezeite Kirn nicht weniger entschieden als sein Interviewpartner und behielt recht. Doohan wurde es fünfmal in Folge.
Mick Doohan ist gleichsam eine Verkörperung der wichtigsten Voraussetzung für den Gewinn eines Titels - die unbedingte Entschlossenheit. Sie äußert sich in vielfältigen Formen und bewährt sich bei den Großen des Sports gerade in Situationen des Umbruchs und der Krisen. Dazu zählt der Entschluss des 17-jährigen Ken Roczen, sich sofort nach dem Gewinn der MX2-Weltmeisterschaft der Herausforderung der amerikanischen Supercross-Serie zu stellen, die zu gewinnen sein Jugendtraum war. Dazu zählt aber auch der mutige Entschluss Stefan Bradls, die vielversprechend begonnene Karriere lieber wieder zu beenden, als sich einem rigiden Programm zu unterwerfen, das ihm nicht entsprach.

Weltmeisterliche Entschlossenheit bleibt allerdings nicht ohne Risiken und -Nebenwirkungen. Verbale und sonstige -Attacken gegen die Konkurrenz, Fahrmanöver an und jenseits der Grenze der Fairness sowie allerlei Psychospielchen sind der interessierten Öffentlichkeit bestens bekannt; sie gehören geradezu zum Rahmenprogramm des Motorsports.
Wie der eigene Ehrgeiz auf die Sportler selbst zurückfällt, wenn er nicht zum Ziel geführt hat, wird dagegen seltener offen-bart. Ein prominentes Beispiel dafür gab Motocross-Multiweltmeister Stefan Everts im Beisein von MOTORRAD-Redakteur Peter Mayer. Der war dabei, als Everts aus Frustration in Ohnmacht fiel, nachdem er beim letzten 250er-Motocross-GP des Jahres 1997 den WM-Titel an Sebastien Tortelli verloren hatte, mit dem er während der Saison erbitterte Duelle ausgefochten hatte.
Wohlgemerkt, Everts war zu diesem Zeitpunkt nach einer märchenhaft verlaufenen Karriere bereits vierfacher Weltmeister. Der vierfache Superbike-Weltmeister Carl Fogarty wusste genau, was Ehrgeiz und selbst gemachter Erfolgsdruck mit der eigenen Persönlichkeit anstellen können. Am Ende seiner Laufbahn als Rennfahrer sagte er im Gespräch mit dem verstorbenen MOTORRAD-Sportredakteur Michael Rohrer einen beziehungsreichen Satz: „Ich habe 20 Jahre lang den Rennfahrer in mir kultiviert. Jetzt wird es Zeit, dass ich den Menschen wieder hervorbringe.“ Der Mann ist ein wahrer Champion.
Giacomo Agostini


Giacomo Agostini
Er ist der Superstar der 1960er- und 70er-Jahre. Kein anderer wurde 15-mal Motorrad-Weltmeister. Wer glaubt, seine Siege seien allein der Überlegenheit der MV Agusta-Rennmaschinen zu verdanken, sollte das letzte Drittel seiner Rennkarriere genauer studieren. Da zeigte Ago, dass er auch unter massivem Druck gewinnen konnte; sein Wechsel von MV zu Yamaha und damit vom Vier- zum Zweitakter bewies fahrerische Klasse.
Toni Mang


Toni Mang
Mit fünf WM-Titeln immer noch der erfolgreichste deutsche Straßenrennfahrer. Renntaktisch ein Genie, als Techniker ebenfalls ein Ausnahmekönner, dazu sehr ausdauernd und in hohem Maß lernfähig - Toni Mang ließ sich viel Zeit, seine vielfältigen Talente zu entwickeln, war schon 31, als er seine erste Weltmeisterschaft gewann. Dafür schaffte er im Jahr 1986 seine fünfte noch im Alter von 38 Jahren.
Mick Doohan


Mick Doohan
Vor dem Gewinn seiner fünf Titel wäre er beinahe zur tragischen Figur geworden. Genau 51 Punkte Vorsprung hatte Mick Doohan 1992 in der 500er-WM, als er sich beim GP in Assen sein rechtes Bein so kompliziert brach, dass er es beinahe verloren hätte. Zur Saison 1993 verletzte er sich erneut. Mit enormer Willenskraft und viel Mut entfaltete er ab Mitte 1993 die Dominanz, die ihm fünf Titel in Folge brachte.
Stefan Everts


Stefan Everts
Mehr Motocross-WM-Titel als Everts, nämlich zehn an der Zahl, hat noch niemand errungen. Sein Vater Harri, selbst vierfacher Weltmeister, vererbte ihm das Talent, das Gewusst-wie und den Ehrgeiz - und der Sohn übertraf ihn in allem. Er war der einzige Motocrosser, der an einem Tag in drei Hubraumklassen (125, 250, 500) einen Grand Prix gewann - so geschehen 2003 in Ernée in Frankreich.
Valentino Rossi


Valentino Rossi
Der erfolgreichste Fahrer der Neuzeit wurde in vier Hubraumklassen neunmal Champion. Brillante Fahrmanöver und geniale Showeinlagen machten ihn populär, seine Härte und sein Geschick im psychologischen Kampf abseits der Rennstrecke hielten ihn lange an der Spitze. 2013 wird ein Schicksalsjahr für Rossi; seine Rückkehr zu Yamaha weckt hohe Erwartungen.
Jorge Lorenzo


Jorge Lorenzo
Der amtierende MotoGP-Champion gehört wie Casey Stoner zu einer neuen Fahrergeneration. Nach zwei 250er-WM-Siegen reifte er in der Auseinandersetzung mit seinem Teamkollegen Valentino Rossi zum MotoGP-Weltmeister. Konstanz auf höchstem fahrerischen Niveau, mentale Stärke in schwierigen Situationen und Respekt vor seinen Konkurrenten zeichnen das spanische Ausnahmetalent aus.
Stefan Bradl


Stefan Bradl
Der Bayer ist ein Meister in der Kunst, das zu schaffen, was man ihm nicht zugetraut hatte. Als er 2007 mit kaum 17 Jahren seinen Rücktritt vom Rennsport bekannt gab, ahnte er sicher nicht, wozu er noch fähig sein würde: Moto2-Weltmeister 2011, MotoGP-Rookie of the Year 2012. Auf die Spitze fehlen ihm nur wenige Zehntelsekunden pro Runde - die schwersten Zehntel. Und 2013 kommt noch Erwartungsdruck dazu.
Ken Roczen


Ken Roczen
Für ihn und alle Motocross-Insider ist die US-Supercross-Meisterschaft die wahre WM. Ken Roczen wurde nicht nur von seinen Eltern gefördert, sondern fand im damaligen Suzuki-Vertriebsleiter Bert Poensgen einen weiteren Mäzen. Dank dieser Frühförderung schaffte er beinahe planmäßig Station um Station auf dem Weg in die US-Supercross-Meisterschaft. Eine dieser Stationen war der MX2-WM-Titel 2011.