Wir sehen die entscheidende Phase eines Grand Prix. Die Piloten durchfahren eine lang gezogene Kurve, ihre Hinterreifen arbeiten an der Rutschgrenze und ziehen feine schwarze Striche. Wir hören, wie die Fahrer noch in Schräglage hochschalten, bevor sie die folgende Gerade entlangsprinten. Hätten sie ein normales Getriebe, wären die Reifenspuren an dieser Stelle unterbrochen und würden erst einige Zentimeter weiter vorn wieder einsetzen; Zeichen einer kurzzeitigen Unterbrechung der Zugkraft und ihres erneuten Einsetzens.
Gewichtsverlagerung und Reifenschlupf
Selbst die nur wenige Hundertstelsekunden währende Unterbrechung bei einem konventionellen Getriebe bewirkt zunächst eine Gewichtsverlagerung nach vorn, dann wandert das Gewicht wieder nach hinten. Reifenschlupf, der plötzlich aus- und dann wieder einsetzt, verstärkt den Effekt. Weil die Motorräder dabei immer noch etwa 45 Grad schräg fahren, können die dabei entstehenden Ein- und Ausfederkräfte nur zu etwa 70 Prozent von den Federelementen kompensiert werden, deren Arbeitswege aber wegen der einwirkenden Radialkräfte in Schräglage ohnehin schon fast ganz aufgebraucht sind.
Die Reifen, die in diesem Moment Seiten- und Antriebskräfte am physikalischen Limit übertragen, müssen also plötzlich auch noch Kraftspitzen abfedern. Lenkmomente und kleine Rutscher sind die Folge, die der Fahrer spürt. Vielleicht wird er trotzdem das Gas voll aufgedreht lassen, auf jeden Fall wird der Reifen aber zusätzlichen Stress erleiden. Beim GP in Misano muss aus jeder der fünf Linkskurven vehement beschleunigt werden. Und die Motoren drehen dabei so rasch hoch, dass praktisch keine Beschleunigungsphase ohne Gangwechsel in Schräglage bleibt. Bei 28 Rennrunden addiert sich das oben geschilderte Szenario zu 140-maliger zusätzlicher Belastung für den Hinterreifen.
Ohne Fahrwerksreaktionen im Drift schalten
Oder 140-mal weniger mit einem sogenannten Seamless-Getriebe. Plus die Möglichkeit, ohne Fahrwerksreaktionen im Drift zu schalten. Gegenüber dem Entfallen der Schaltpausen sind dies viel größere Vorteile. Doch wie kommen sie zustande? Egal, ob man die von Honda patentierte Lösung betrachtet oder die Systeme, die Ducati und Yamaha vermutlich verwenden, alle Getriebe werden in zwei Punkten Gemeinsamkeiten haben: Erstens sind die Massen der für einen Gangwechsel nötigen Teile und deren Wege extrem reduziert, und zweitens sind sie so konstruiert, dass zwei Gänge für einen Zeitraum von wenigen Sekundenbruchteilen gleichzeitig im Eingriff sind. Bevor ein Zahnradpaar aussetzt, hat das andere bereits übernommen.
Um dies zu erreichen, hat Honda die Richtung des eigentlichen Schaltvorgangs gegenüber dem konventionellen Getriebe geändert; die Sperrklinken, welche die losen Zahnräder der Abtriebswelle nacheinander kraftschlüssig mit der Welle verbinden, bewegen sich, Kipphebeln gleich, in radialer Richtung, also vom Zentrum der Welle weg nach außen. Sie sind sehr klein und legen nur einen winzigen Weg zurück. Die Anordnung der Zahnräder ist kurioserweise genau so wie bei den Ziehkeilgetrieben von Hercules und Zündapp in den 70er- und 80er-Jahren. Bei diesen wurden die Loseräder durch Kugeln mit der Abtriebswelle verbunden, die von einem konischen Schiebestück – dem Ziehkeil – aus dem Zentrum der hohl gebohrten Welle nach außen in eine Aussparung der Zahnräder gedrückt wurden.
Hebelwirkung zerdrückte nicht wenige Kugeln
Schaltete der Fahrer in den nächsten Gang, wurde der Ziehkeil ein Stück weitergeschoben und drückte die Kugeln des nächsten Zahnrads nach oben, während die anderen wieder in ihre Ausgangsposition zurückfielen. In ihrer damaligen Ausführung konnten diese Getriebe nur geringe Drehmomente übertragen. Der Grund: Das Drehmoment des Motors, untersetzt durch Primärtrieb, und das erste Gangrad eines Paares greifen an der Verzahnung des Getrieberads an, also ganz außen. Vom Zahnrad auf die Abtriebswelle übertragen wird es aber viel weiter innen, und die so entstehende Hebelwirkung zerdrückt nicht wenige Kugeln.
Sperrklinken und eine dicke Abtriebswelle lösen das Problem
Diesem Problem begegnen die Ingenieure von Honda durch eine dicke Abtriebswelle und die schon genannten Sperrklinken. Sie sind auf stabilen Achsen gelagert, die parallel zur Abtriebswelle in Ausfräsungen liegen. Das Drehmoment wird also vierfach pro Zahnrad und relativ „breit“ statt wie bei den früheren 50ern punktuell übertragen. Eingerückt werden die Sperrklinken durch einen fast schon feinmechanischen Federmechanismus, ausgerückt durch Kulissen, also vier Metallstreifen mit Aussparungen, die parallel zur Getriebewelle gezogen werden. Es ist die genau bemessene Länge dieser Aussparungen, die den kurzen gleichzeitigen Einsatz zweier Gangradpaare ermöglicht.
Die zweite Möglichkeit, nahtlos die Gänge zu wechseln, behält die axiale Schaltrichtung konventioneller Klauengetriebe bei. Statt aber wie in modernen Serienmotorrädern ganze Zahnräder oder gar Doppelzahnräder und mithin eine große Masse Stahl seitlich hin- und herzuschieben, werden durch hauchdünne Schaltgabeln lediglich Sperrringe bewegt. Ob dabei drei Sperrringe je zwei Zahnräder direkt mit der Welle verbinden oder ob die Ringe dies über ein festes Zwischenstück bewerkstelligen, wie es die Konstruktion der britischen Firma Zeroshift vorsieht, ändert nichts am Prinzip. Hier sind Länge und Form der Klauen und Aussparungen von Ringen und Zahnrädern für die nahtlose Kraftübertragung entscheidend.

Vollendet werden beide Grundkonstruktionen durch ein wichtiges Nebenaggregat: eine Kraftmessdose am Getriebeausgang plus ausgefeilte Elektronik. Durch die Kraftmessdose kann das am Hinterrad wirksame Drehmoment im Augenblick des Schaltens erfasst und durch die elektronische Drosselklappensteuerung unmittelbar danach genau das gleiche Drehmoment bereitgestellt werden, obwohl der Motor nach dem Schalten ein viel höheres Drehmoment entwickelt. Erst dieses Zusatzsystem ermöglicht das gleichmäßige Durchziehen eines Drifts trotz Hochschaltens.
Zurückschaltautomatik beim BMW-Superbike
Durch ideenreichen Einsatz von Elektronik hat auch BMW die Möglichkeiten eines konventionellen Klauengetriebes beträchtlich erweitert. Möglicherweise nutzen Aprilia, Ducati, Honda und Kawasaki ähnliche Systeme, doch sie geben wenig bis gar keine Informationen dazu. MOTORRAD-Tester Georg Jelicic konnte die WM-Maschine von Marco Melandri fahren und berichtete begeistert von der, wie er es nannte, „Zurückschaltautomatik“. O-Ton Jelicic: „Man muss nur vor der Kurve das Gas schließen, bremsen und zurückschalten. Die linke Hand kann und sollte wegbleiben von der Kupplung. Zwischengas, Bremsmoment – alles regelt das System. Man kann sich voll aufs Bremsen und Einlenken konzentrieren.“
Den ersten Teil dieser Errungenschaft kann jeder selbst nachvollziehen, indem er in einem mittleren Gang fahrend das Gas schließt, den Schaltfuß auf den Hebel stellt und gleich darauf einen kurzen Gasstoß gibt. Der nächstniedrige Gang wird sauber einrasten. Bei der Renn-BMW bewirkt nicht der Fahrer den Gasstoß, der das Getriebe kurzzeitig lastfrei macht, sondern die Elektronik. Ob sie das Bremsmoment des Antriebsstrangs nur über die Drosselklappenstellung regelt oder einen Kanal eines ABS-Druckmodulators zur hydraulischen Kupplungsbetätigung nutzt, verraten die BMW-Techniker allerdings nicht. Die entsprechenden Teile verbargen sich hinter Karbonblenden, die nicht nur beim Sturz, sondern auch vor neugierigen Blicken schützen.
So schalten wir Normalos

Wenn ein Motorradfahrer auf einer Serienmaschine den Schalthebel betätigt, dreht er die Schaltwalze. Nicht zu sehen ist der Mechanismus, der dafür sorgt, dass diese Walze immer genau um den richtigen Winkel für das Einrasten des nächsten Gangs oder des Leerlaufs gedreht wird. Die Seele dieser Baugruppe ist eine kleine Metallplatte mit genau platzierten Rasterungen. Sie sorgen für exaktes Schalten.
Und so geht es weiter: Die Nuten der Schaltwalze, die über einen Mitnehmerstift mit den Schaltgabeln verbunden sind, verschieben diese seitlich nach einem genau ausgetüftelten Plan. Die Schaltgabeln wiederum verschieben einzelne Zahnräder. Sie sind entweder kraftschlüssig mit ihrer Getriebewelle verbunden oder drehen lose. Dann besitzen sie an den Flanken Klauen oder passende Aussparungen, mit denen sie im entsprechenden Gang an ein festes Rad andocken. Dessen Gegenüber muss dann natürlich gleichzeitig zum Loserad werden, sonst würde das Getriebe zerstört.