Worauf es bei MotoGP-Bremsen ankommt

Reportage Brembo in der MotoGP Worauf es bei MotoGP-Bremsen ankommt

Brembo ist fast Monopolist im MotoGP-Fahrerlager. Brembo-Ingenieur Lorenzo Bortolozzo verrät, worauf es bei MotoGP-Bremsen ankommt.

Worauf es bei MotoGP-Bremsen ankommt PSP/LukaszSwiderek
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Motor, Fahrwerk, Aerodynamik, Reifen, Steuerelektronik – es gibt eine ganze Reihe wichtiger Komponenten an so einem MotoGP-Motorrad, die allesamt nur auf ein Ziel ausgerichtet sind. Darauf, ein 160 Kilogramm schweres Fahrzeug samt seinem rund 60 Kilogramm schweren Fahrer in kürzester Zeit auf die höchstmögliche Geschwindigkeit zu katapultieren. Und dann kommen die Bremsen ins Spiel, die nichts anderes zu tun haben, als die im ausgefuchsten Zusammenspiel aller übrigen Systeme erzeugte Bewegungsenergie möglichst effektiv wieder zu vernichten. 

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Unglaublich effektiv. „Die gewaltige Leistung ist zunächst ein Schock“, gab MotoGP-Aufsteiger Jack Miller nach seinen ersten Runden auf der MotoGP-Honda zu Protokoll. „Doch nach zwei, drei Runden gewöhnst du dich daran. Aber es gibt nichts, was dich auf die Bremskräfte vorbereitet!“ Einer, der es wissen muss, hat es einmal anders formuliert. „Die Bremsen eines MotoGP-Motorrads leisten doppelt so viel wie der Motor.“ Eugenio Gandolfi, der frühere Rennchef des italienischen Bremsenfabrikanten Brembo, wusste sehr genau, wovon er sprach. Ein Beispiel: Starke 800 Meter der 1,1 Kilometer langen Geraden in Mugello, der längsten im GP-Kalender, werden dazu verwendet, eine MotoGP-Maschine von rund 130 km/h auf 360 km/h zu beschleunigen. Den Bremsen stehen dann etwa 320 Meter zur Verfügung, um daraus die in der Kurve eins beherrschbare Geschwindigkeit von 120 km/h zu machen. Noch Fragen?

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"Die Bremsen sind das Wichtigste"

„Die Bremsen sind das Wichtigste“, sagt auch Lorenzo Bortolozzo. Der Italiener hat seinen Landsmann Gandolfi vor einiger Zeit im Amt beerbt und ist, gemeinsam mit einem Kollegen, für alle Brembo-Bremsanlagen zuständig, die an einem GP-Wochenende eingesetzt werden. Bortolozzos Überzeugung: „Wenn der Motor kaputtgeht oder das Fahrwerk nicht richtig funktioniert, wird ein Motorrad langsamer, bleibt schlimmstenfalls stehen, aber der Fahrer ist sicher. Wenn aber am Ende der Geraden die Bremse versagt, hat der Fahrer ein richtig fettes Problem.“ Dafür zu sorgen, dass es so weit nicht kommt – das ist seine Aufgabe.

Und mit der ist er gut beschäftigt. An den drei Tagen eines Rennwochenendes ist er üblicherweise um acht Uhr im Fahrerlager, dann beobachtet er alle freien Trainings, die Qualifyings und natürlich die Rennen. „Nach jeder Session gibt es ein kurzes Briefing mit den Teams“, sagt Bortolozzo. Mit den Teams der Moto3-, der Moto2- und der MotoGP-Klasse, die Brembo-Bremsen verwenden. Und das waren 2014 alle – bis auf die Moto2- und die MotoGP-Fahrer des Gresini-Teams.

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Cal Crutchlow ist ein Brachialbremser

Glücklicherweise gibt es nur in den wenigsten Fällen direkten Handlungsbedarf, denn die Bremsanlagen verrichten ihren Dienst üblicherweise – darf man in diesem Kontext „reibungslos“ sagen? Und das, obgleich durchaus nicht alle Fahrer dieselbe Bremskonfiguration verwenden. Beispiel MotoGP: Da stehen grundsätzlich zwei verschiedene Hauptbremszylinder-/Handhebel-Einheiten zur Verfügung, drei unterschiedliche Karbonbremsscheiben in je zwei Materialmischungen sowie zwei Versionen der Bremsbeläge. Lediglich die Bremszangen gibt es nur in einer Ausführung. Allein aus diesen Teilen lassen sich 20 Bremsvarianten kombinieren.

Der Handbremshebel ist die Stelle, an der Mensch und Bremssystem miteinander in Kontakt treten. Über ihn betätigt der Fahrer die Kolbenstange, die den Kolben in den Hauptbrems­zylinder presst und so den Druck im System erzeugt, und bereits an dieser Stelle wird es individuell. Der Durchmesser des Brembo-Hauptbremszylinders für MotoGP-Motorräder beträgt stets 19 Millimeter, doch die Fahrer können sich aussuchen, ob ihr Bremshebel 18 oder 20 Millimeter entfernt vom Drehpunkt auf die Kolbenstange drückt. Diese zwei Millimeter Differenz machen einen gewaltigen Unterschied. „18 Millimeter Offset sind für Fahrer gedacht, die sehr gefühlvoll bremsen und über den Bremshebel viel Rückmeldung erwarten. Andrea Dovizioso vom Ducati-Werks­team zum Beispiel“, erklärt Lorenzo Bortolozzo, „sein Teamkollege Cal Crutchlow ist dagegen ein Brachialbremser. Er zieht sehr hart am Bremshebel, bei ihm baut sich der Bremsdruck sehr schnell auf, seine Bremsscheiben werden im Rennen schon mal 900 Grad heiß. Während viele Fahrer nur den Mittel- und den Ringfinger benutzen, bremst Crutchlow kraftvoll mit Mittel-, Ring- und kleinem Finger. Dafür passt die Bremshebel-/Hauptbremszylinder-Einheit mit 20 Millimetern Offset besser.“

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Crutchlow ist der härteste Tester. Und verrückt.

Bortolozzo findet Crutchlows persönlichen Stil beim Bremsen verrückt, aber faszinierend. „Er ist unser härtester Tester“, sagt Bortolozzo, „wenn unsere Teile ein Crutchlow-Rennen überleben, sind sie für alle Fahrer gut.“ Und er erläutert in einem Nachsatz gleich die Philosophie, die hinter der Konstruktion der Brembo-Bremsanlagen steckt. „Die wirkliche Leistung eines Bremssystems ist nicht die Bremsleistung, die es erzeugt, sondern die Möglichkeit, die Entstehung dieser Bremsleistung zu kontrollieren. Die Stärke der Brembo-Anlagen liegt dabei in der zweiten Phase des Bremsmanövers, wenn der Fahrer den Bremshebel langsam wieder loslässt. Da darf es nicht passieren, dass die Bremse das Vorderrad plötzlich freigibt und das Motorrad überraschend schneller wird.“

Crutchlows Art, brutal zuzugreifen und schnell Bremsdruck aufzubauen, passt gut zu einer technischen Eigenheit der MotoGP-Reifen. Denn die griffigen Rennpellen funktionieren ganz anders als übliche für den Straßenverkehr zulässige Pneus. „Es gilt, den Reifen beim Beginn des Bremsvorgangs maximal zu verformen, um die Kontaktfläche zur Straße so weit wie möglich zu vergrößern und dadurch den optimalen Grip zu erreichen“, erklärt Lorenzo Bortolozzo.

Fette 340-Millimeter-Scheiben für Motegi

Üblicherweise entscheiden sich die Fahrer zum Anfang der Saison für die 18- oder die 20-Millimeter-Offset-Variante am Handbremshebel und fahren dann das ganze Jahr damit. Bei den Bremszangen, wo der vom Piloten erzeugte Druck ankommt, haben sie keine Auswahl. Die aus einem einzigen Block einer Aluminium-Lithium-Legierung gefrästen Zangen pressen die Bremsbeläge mit je zwei Kolben auf beiden Seiten auf die Bremsscheiben. Wie die genau aussehen, hängt von den Gegebenheiten der aktuellen Rennstrecke ab. Es gibt dreierlei Karbonbremsscheiben: solche mit 320 Millimetern Durchmesser in einer Standardausführung sowie in einer Version mit mehr Masse, außerdem eine 340-Millimeter-Scheibe mit hoher Masse. Nötig sind die, wie auch Bremsbeläge mit unterschiedlich großen Auflageflächen, um die Temperaturproblematik in den Griff zu bekommen. Kohlefaserbremsen funktionieren weder wenn sie zu kühl sind, noch wenn sie überhitzen, was von Rennen zu Rennen zu unterschiedlichen aerodynamischen Lösungen auch der Radabdeckungen und der kühlenden Luftströme führt. Die Standard-320er-Scheiben kommen auf Strecken wie Assen zum Zug, die mit schnellen Kurven und langen Geraden keine besonderen Ansprüche an die Bremsanlage stellen. Die fetten 340-Millimeter-Scheiben müssen dagegen auf Kursen wie Motegi ran, wo viel und hart gebremst wird.

Hinterradbremse als Traktionskontrolle

Ein Wort noch zur Hinterradbremse – in einer Zeit, in der Moto­GP-Fahrer beim Anbremsen einer Kurve fast schon standardmäßig mit dem Hinterrad in der Luft daherkommen. „Wegen der hohen Bremswirkung der Viertaktmotoren nutzt sie auf der Geraden tatsächlich nichts“, bestätigt Andrea Dovizioso, „aber in der letzten Phase der Kurvenfahrt ist es sehr wichtig, sie einzusetzen. Wenn du die Vorderradbremse loslässt, das Gas aufziehst und dann das Hinterrad beginnt durchzudrehen, kannst du die Hinterradbremse leicht benutzen. Das ist nicht einfach, aber wenn du es hinkriegst, hilft es, das Motorrad zu stabilisieren.“ Die Fahrer verwenden die Hinterradbremse wie eine Art Traktionskontrolle, weiß auch Brembo-Techniker Bortolozzo: „Und zwar auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Deshalb gibt es für die Hinterradbremse noch mehr Konfigurationsmöglichkeiten als für das Vorderrad – bis hin zur Betätigung per Daumen, weil es mit dem Fuß in extre­mer Schräglage manchmal nicht möglich ist.“

Respektable 87 der in den drei Klassen Moto3, Moto2 und MotoGP 2014 fest eingeschriebenen 91 Fahrer vertrauten auf Brembo-Bremsen – ein schöner Marketingerfolg, sollte man meinen. Doch es ist ein sehr subtiler. Denn bei einem Spaziergang durchs MotoGP-Fahrerlager sind auf den Trucks der Teams keinerlei Brembo-Sticker zu finden – außer auf dem vergleichsweise kleinen Werkstattwagen von Lorenzo Bortolozzo und seinem Team. Brembo-Pressesprecher Massimo Arduini erklärt: „Brembo tritt in der MotoGP-WM nicht als Sponsor auf. Alle Teams bezahlen für die Teile, die sie von uns bekommen – ausnahmslos.“

Was kostet so eine MotoGP-Bremsanlage?

Das wirft natürlich die Frage auf: Was kostet so eine Bremsanlage für die Werks-Honda von Weltmeister Marc Márquez? Da werden die Brembo-Leute einsilbig. „In der MotoGP-Klasse betreiben wir unseren Entwicklungsaufwand für 25 Motorräder“, windet sich Manager Roberto Pellegrino, „wenn wir zum Beispiel für Harley-Davidson ein Bremssystem konstruieren, geht es um eine Stückzahl von 25.000 – das lässt sich nicht vergleichen.“ So viel aber lässt sich sagen: Wer seine straßenzulässige Honda Fireblade am Vorderrad mit feinster Brembo-Technik ausrüsten will, muss dafür keine 2000 Euro investieren. In der Superbike-WM sind für eine Brembo-Bremsanlage etwa 8000 Euro pro Motorrad fällig. Was Marc Márquez und seine Kollegen an Brembo-Material spazieren fahren, dürfte – vorsichtig geschätzt – zehnmal so teuer sein. Wobei es vermutlich weniger darum geht, was die Teile kosten, als darum, was Brembo dafür verlangt. Die MotoGP-Helden haben sicher ihre guten Gründe dafür, der Marke aus Bergamo mit ihren mehr als 50 Jahren Erfahrung im Bremsenbau trotzdem treu zu bleiben.

Spitzen-Werte MotoGP-Bremsen

–1,8 g
ist die maximale Verzögerung, der ein MotoGP-Pilot übers Jahr ausgesetzt ist – beim GP in Texas.

11 kg
beträgt die größte Kraft, mit der MotoGP-Fahrer den Bremshebel betätigen – beim GP in Texas.

250 km/h
ist der Geschwindigkeitsunterschied vom Beginn bis zum Ende der Bremsphase – vor der ersten Kurve auf der Rennstrecke in Doha.

361 km/h
ist die höchste Geschwindigkeit eines MotoGP-Motorrads am Anfang des Bremsvorgangs – auf der Start-/Ziel-Geraden in Mugello.

35 Prozent
einer Runde sind MotoGP-Piloten mit Bremsen beschäftigt – beim GP in Argentinien.

333 Meter
lang ist die längste Bremsphase im MotoGP-Zirkus – in Texas und in Brünn.

17,4 kWh
werden während eines MotoGP-Rennens maximal an Bremsleistung produziert – beim WM-Lauf in Houston/Texas.

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