2007 kam die letzte Black Shadow der Serie C auf der Classic Bike Show in Stafford unter den Hammer. MOTORRAD CLASSIC-Mitarbeiter Alan Cathcart erzählt aus ihrem Leben; und sie ist verdammt lebendig.
2007 kam die letzte Black Shadow der Serie C auf der Classic Bike Show in Stafford unter den Hammer. MOTORRAD CLASSIC-Mitarbeiter Alan Cathcart erzählt aus ihrem Leben; und sie ist verdammt lebendig.
Wohl wenige andere Motorräder dieser Welt sind so unumstritten Legende wie die Vincent Black Shadow; das Schnellste, was es vor 50 Jahren für Geld zu kaufen gab und legal auf die Straße kam: Mit einer Höchstgeschwindigkeit von offiziell 122 Meilen pro Stunde ließ die 1000er alle anderen Serienmotorräder hinter sich. Die zahlreichen Vincent-Erfolge bei Rennen und Geschwindigkeitsrekorden gründeten auf der immensen Power des V2-Motors mit 50 Grad Zylinderwinkel. Für den Ventiltrieb waren hoch gelegte Nockenwellen und kurze Stoßstangen verantwortlich. In der Rennversion Black Lightning setzte dieses Triebwerk sagenhafte 70 PS frei und war damit allen anderen großvolumigen Motorradmotoren haushoch überlegen: Nach dem Zweiten Weltkrieg mündeten Versuche, auf der Isle of Man eine Clubman TT für 1000er einzuführen, in drei dominanten Vincent-Siegen. Bei der letzten Auflage im Jahr 1950 traten gar ausschließlich Vincents an.
Das ultimative Vincent-Straßenmotorrad heißt bezeichnenderweise Black Shadow. Gerade mal 1507 Exemplare dieses Traums auf zwei Rädern verließen zwischen Ende 1948 und 1955, als Vincent schließen musste, die Werkshallen in Stevenage nahe London. In ihrem letzten Jahr, 1955, gab es zusätzlich zur C-Serie eine zeittypisch verkleidete D-Version; während der ersten Monate dieses Jahres entstanden jedoch weiterhin die heute noch viel beliebteren C-Modelle. Die Unterlagen aus dem Werksarchiv befinden sich mittlerweile im Besitz des rührigen Vincent Owners Club in Orpington, Kent/GB (www.voc.uk.com), und sie besagen, dass die Allerletzte jener 287 im Jahr 1955 produzierten C-Black Shadows – mit identischer Fahrwerks- und Motornummer – just jene ist, die Bonhams am 21. Oktober 2007 auf der Stafford Motor Show versteigerte.
28000 Meilen zeigt der Zähler in dem berühmten fünf Zoll großen 150-mph-Tacho, als ihr damaliger Besitzer Nigel Brown sie wenige Tage vor der Show aus der Garage rollt. Einen Tag darf ich mich in Hertfordshire vergnügen, dort, wo diese allerletzte Black Shadow – nahe der Vincent-Fabrik in Stevenage – die letzten zehn Jahre verbracht hat. Ich war ja selbst vor einigen Jahrzehnten Besitzer einer Vincent Rapide, dem schwächeren Parallelmodell der Black Shadow. Sie befand sich zwar in weit schlechterem Zustand als Nigels Prachtexemplar, ihre Fahrleistungen begeisterten mich dennoch stets. Verkauft
habe ich sie, weil mich ihr Startverhalten tief frustrierte: Ein einziges Mal sprang sie auf den ersten Tritt an, und zwar just an dem Tag, an dem ich sie ihrem nächsten Besitzer vorstellte. Wahrscheinlich signalisierte sie mir damit, wie gerne sie mich loswerden wollte. Und angesichts der neuen Ducati 750 SS vermisste ich sie im Gegenzug auch nicht wirklich.
Doch heute muss ich eingestehen, dass ich meiner Rapide wohl nie eine echte Chance gegeben habe. Sofort, als ich Nigels Shadow erblicke, erfassen mich tiefe Bewunderung und lebhafte Vorfreude. Fast zehn Jahre wurde sie in dem wundervollen Zustand verhätschelt, in den sie eine ebenfalls mehrjährige Restaurierungsarbeit versetzt hat. Das zahlt sie mit großer Zuverlässigkeit und wunderbarem Fahrspaß zurück. Eingedenk übler Erfahrungen überlasse ich Nigel den Kaltstart und zähle gespannt bis zum sechsten Tritt mit, aber warm kommt sie auch bei mir auf den ersten.
Dies zu üben, gibt mir das vergleichsweise präzise arbeitende und knackig schaltbare Getriebe Gelegenheit: Der Leerlauf nämlich ist im Stand schwer zu finden, und weil obendrein die Kupplung blitzartig zuschnappt, würge ich den V-Twin an einer Ampel versehentlich ab. Bis zur nächsten Grünphase beeile ich mich, die rechte Fußraste hoch- und den Kickstarter auszuklappen, mit Hilfe des Deko-Hebels am linken Lenkerende den oberen Totpunkt des richtigen Zylinders zu finden und – mehr in inniger Hoffnung als in optimistischer Erwartung – zu kicken.
Mit überraschender Leichtigkeit findet die Black Shadow ins Leben, so dass ich schon nach einem Gang suche, bevor ich die Fußraste wieder heruntergeklappt habe. Keine gute Idee, aber der ältere Taxifahrer hinter mir bewahrt die Ruhe und verzichtet auf ein Hupkonzert. Vielleicht hat auch er, wie so viele von uns, in seiner Kindheit den seltenen Vincents hinterhergeträumt.
Nigel Browns Vater Dan jedenfalls hat das getan, und schließlich kauft er sich in den frühen 50ern eine Rapide der Serie C, welche er in einer Garage nahe dem Londoner Stadtteil Forest Hill verwahrt. Viele Motorradfahrer teilen sich zu der Zeit Garagen und schrauben am Wochenende gemeinsam an ihren Motorrädern. Einer der Gründe, warum Dans Rapide etwas besser geht als die meisten anderen und ganz sicher auch als meine ehemalige, ist, dass er sie von Cliff Brown in Form bringen lässt, dem Bruder des Vincent-Speed-Gurus George Brown. Dessen Vincent-befeuerte Geschosse dominierten ein Vierteljahrhundert lang die englischen Dragstrips; sie wurden von Cliff Brown getunt.
Verärgert, dass ihn sein Garagen-Kumpel Dan Brown ständig mit seiner gut präparierten Rapide verbläst, ordert ein gewisser Frank Stanyon eine Black Shadow; der lokale Vincent-Händler liefert sie im Februar 1955 aus. Dieser heißt Jack Surtees, ist damals auf Vincent erfolgreichster englischer Gespannfahrer und hat einen Sohn namens John, der bei Vincent gelernt hat, auf dem Werks-Prototyp Grey Flash die Rennerei anfängt und kurze Zeit
später zum MV Agusta-Star aufsteigt.
Doch zurück zu Nigels Shadow. Wie an der Rapide von Dan will auch er unbedingt breite anstelle der gekürzten, weniger praktischen Shadow-Schutzbleche. Es handelt sich um dieselben, die noch heute, 52 Jahre später, montiert sind. Stanyon fährt seine Vincent bis Ende 1956, verkauft sie dann an John Carmalt, den Dritten aus der Garagen-Gang, der die meisten der 28000 Meilen auf dem Tacho herunterspult. Dessen Schwester offeriert das Motorrad 1994 Dan Brown als einzigem Überlebenden der Clique. Es ist seit 1969 in Teile zerlegt, weil ein kleinerer Unfall den Anlass für eine Restaurierung bietet. Solche Projekte kennt wahrscheinlich jeder, oder?
"Dad hatte schon einmal eine Rapide in den Neuzustand zurückversetzt, er kannte von diesem Projekt alle wichtigen Vincent-Spezialisten in England und war sicher der richtige Mann, um PYE 714 wieder in ihren ursprünglichen Glanz zu versetzen", sagt Nigel Brown. "Wann immer ich ihn in den nächsten Jahren besuchte, konnte ich sehen, wie sie Gestalt annahm und wie mein Vater sich daran freute. Leider starb er 1999, bevor die Restaurierung abgeschlossen war. Ich habe sie dann in seinem Sinn vollendet, und seither läuft sie wieder so gut wie 1955."
Dem kann man nur zustimmen. Als ich mein Bein über die Doppelsitzbank schwinge, entdecke ich, wie niedrig und schmal die Vincent ist. Viel kleiner, als man es von einem 120-mph-Motorrad aus den 50er-Jahren erwartet. Dennoch wirkt die Sitzposition locker, fühlt sich genau richtig an, und alle Bedienelemente sind dort, wo sie nach zeitgenössischer Vorstellungen eben sein sollten.
Der einteilige Lenker ist flach und schmal, aber mit nach oben gekröpften Enden versehen, die bequemes Meilen-Fressen erlauben und in engen Kurven gute Führungsarbeit gestatten. Bei niedrigen Geschwindigkeiten verhält sich die Vincent eher störrisch, folgt ihrer Trapezgabel in Schräglage in eher trägen Bögen. Dabei will das Gefühl nicht weichen, die Gabelholme seien just dabei, sich zusammenzufalten. Dies passiert natürlich nie, stattdessen verbessert sich das Fahrverhalten mit steigendem Tempo immer weiter und erreicht dann eine größere Präzision, als es eine der damals noch recht primitiven Telegabeln erlaubt hätte. Kein Wunder, dass John Britten und Claude Fior, zwei weitsichtige Techniker, die leider nicht mehr unter uns weilen, drei Jahrzehnte später mit Weiterentwicklungen der Vincent-Gabel experimentierten. Auf jeden Fall ist das Fahrverhalten der Vincent gemessen an damaligen Standards exzellent, vor allem die Hinterradfederung arbeitet vorzüglich. Zwei Federbeine unter der Sitzbank stützen die Dreieckschwinge gegen den Rahmen ab. Yamaha brachte dieses Prinzip später als "Cantilever-Federung" erneut ins Spiel.
Aber letztlich ist der drehmomentgewaltige, herrlich klingende 998-cm³-V2 der echte Star dieses Motorrads. Mit 84 Millimetern Bohrung und 90 Millimetern Hub dezent langhubig ausgelegt, produziert er 55 PS bei 5700/min und lässt jedes dieser Pferdchen antraben, bietet Leistung, die noch heute mehr als befriedigen kann – und vor 50 Jahren schlicht unglaublich gewesen sein muss. Die Vincent beschleunigt kraftvoll, auch wenn man einige Zeit braucht, um zu lernen, mit der plötzlich zupackenden Kupplung umzugehen und harmonisch zu schalten. Aber mit dem herrlichen Klang der 2-in-1-Anlage im Ohr gerät es zum echten Erlebnis, die Gasschieber mit dem leichtgängigen Gaszug aufzureißen und der Nadel zuzuschauen, die gern auf Rundreise im riesigen Tachogehäuse geht.
Es gibt keinen Drehzahlmesser, aber auch keinen wirklichen Grund, ihn zu vermissen: Der Motor liefert so viel Punch und reagiert so direkt, dass der Fahrer einfach dann hochschaltet, wenn er es für richtig hält. Bald schon surft man fröhlich im letzten von vier Gängen auf der Drehmomentwelle, die Phil Irvings Meisterstück beseelt. Kein Wunder, dass dieser Motor über viele Jahre auf den Rennstrecken die Gegner weit hinter sich ließ – wenn sie denn antraten.
Beschleunigen ist eine Sache, Bremsen eine andere; und hier liegt aus heutiger Sicht der einzige Schwachpunkt des Vincent-Pakets. Weil vollkommen original, hat auch Nigel Browns Black Shadow vorn und hinten je zwei Sieben-Zoll-Simplex-Trommelbremsen. Selbst unter härtestem Zug entwickeln alle vier zusammen allenfalls passable Bremsleistung. Wer sie mehrmals hintereinander hart hernimmt, erntet obendrein Fading. Obwohl diese Bremsen in den 50ern ein ganz heißer Tipp waren, ist im heutigen Verkehr eine weit vorausschauende Fahrweise ein unbedingtes Muss, und Panikbremsungen sollte man man um jeden Preis vermeiden. Vor allem bei einem Motorrad, das für mindestens 80000 Dollar versteigert werden soll.
Vincent Black Shadow, Serie C
Motor: Luftgekühlter Zweizylinder-Viertakt-50-Grad-V-Motor, je eine hoch liegende, zahnradgetriebene Nockenwelle, zwei über Schlepphebel, Stoßstangen und Kipphebel betätigte Ventile pro Zylinder, Bohrung 84 mm, Hub 90 mm, Hubraum 998 cm³, Verdichtung 8,5 : 1, 55 PS bei 5500/min, 2 Amal TT-Vergaser, 1 1/8", Ø 28,6 mm
Elektrische Anlage: Kickstarter, Lucas-Magnetzündung
Kraftübertragung: Zweischeiben-Trommel-Servokupplung, klauengeschaltetes Vierganggetriebe, Primärtrieb: Kette Sekundärantrieb: Rollenkette
Fahrwerk: Rückgratrahmen mit integriertem Öltank, Motor mittragend, vorn Girder-Parallelogrammgabel, hydraulisch gedämpft, hinten Dreiecksschwinge, zwei Federbeine, Drahtspeichenräder, Reifen vorn 3.00-19, hinten 3.50-18, vorn und hinten Doppel-Simplex-Bremse, Ø 178 mm
Maße und Gewichte: Radstand 1435 mm, Gewicht 208 kg, Tankinhalt 16 Liter
Fahrleistungen: Höchstgeschwindigkeit 195 km/h (Werksangabe)
Preis: zirka 5000 Mark (1954)
Hersteller: Vincent H.R.D. Co. Ltd., Stevenage, Hertfordshire, England