Es ist an der Zeit, dass wir einmal über Geschwindigkeit reden, denn Motorradfahren und Speed, das geht Hand in Hand. Auf zwei Rädern, stabil nur in Fahrt, ohne Karosse, Knautschzone oder Airbag, erlebt der Motorradfahrer Tempo hautnah, roh und ungefiltert. Uns alle eint der Spaß an Geschwindigkeit. Das Durcheilen von Raum über Zeit, Bewegung im Hier und Jetzt, das Zurücklegen von Strecke, genau darum dreht sich doch alles. Dafür stehen Motorräder seit über 100 Jahren. Nichts hat den Menschen so nachhaltig Geschwindigkeit gegeben wie das Kraftrad.
Doch auch der Rest der Welt steht niemals still. Unsere Umwelt, in der das Motorrad stattfindet, verändert sich. Und damit, wie wir fahren. Die Verkehrsdichte steigt. Immer breiiger wälzen sich von Smartphone-Zombies pilotierte Blechkolonnen durch immer dichter besiedelte Regionen über immer flickschusterigeren Asphalt. Dauerbaustelle, Verkehrsinfarkt, Blitzermarathon – die Möglichkeiten, Geschwindigkeit zu erleben, werden zunehmend rar. Vielleicht noch bedeutsamer: Geschwindigkeit im Straßenverkehr widerspricht dem Zeitgeist. Natürlich gibt es gute Gründe, warum wir als Gesellschaft die körperliche Unversehrtheit als hohes Gut schätzen, daher zurecht den törichten, verantwortungslosen Umgang mit Geschwindigkeit eindämmen. Zwischen Genuss und Sicherheitsdenken, zwischen persönlicher Freiheit und vollkommener Regulierung steht der sippeninhaftierte Motorradfahrer halt meist auf der Verliererseite. Geschwindigkeit hat keine gute Lobby. Kein Wunder also, dass sie sich, wie eine vom Aussterben bedrohte Raubkatze, immer mehr zurückzuziehen scheint.
Forschungsreise, keine tölpelhafte Raserei
Nutzen wir also die mußevolle Spätsommerzeit und begeben uns auf eine Forschungsexpedition der besonderen Art. Wo kann man die Geschwindigkeit heute noch finden? Was erzählt sie uns? Wie machen unterschiedliche Motorräder sie erlebbar? Wie viel ist genug? Falls Sie an dieser Stelle einen harten Vergleichstest erwartet haben – jetzt wäre der Zeitpunkt zum Weiterblättern.
In jedem Fall kann es für ein so streng wissenschaftliches Unternehmen auf unserem bunten Kontinent eigentlich nur ein Ziel geben. Die Insel Man ist das Epizentrum des Speed. Die TT ist das größte Straßenrennen der Welt, und Man ist die TT. Der Mythos Tourist Trophy strahlt, während überall der umstrittene Straßenrennsport abgeschafft wird, so hell wie eh und je. Jährlich pilgern Zehntausende dorthin, um dabei zu sein, wenn moderne Gladiatoren sich und ihre Fähigkeit im Umgang mit Geschwindigkeit messen, dabei aus freien Stücken Leib und Leben riskieren und oft genug verlieren. Politische Unabhängigkeit und gesunder insulanischer Widerstandsgeist erlaubt den Manx, das, was für Uneingeweihte völligen Wahnsinn darstellt, seit über 100 Jahren immer wieder aufs Neue zu feiern. Der gleiche Trotz bedingt auch, das kann gern unter uns bleiben, dass dort bis heute nennenswerte Teile des Straßennetzes keiner Geschwindigkeitsbeschränkung unterliegen. Genau da müssen wir hin.
Aber keine Sorge, nicht tölpelhafte Raserei ist unser Anliegen. Schließlich ist dies eine Forschungsreise, wir nicht blöd, und möglicherweise lesen Behörden und Versicherung mit. Deshalb nähern wir uns der Sache zunächst einmal ganz rational. Essenziell ist die Wahl der Motorräder. Geschwindigkeit braucht Leistung, und die darf üppig ausfallen. Für echtes Power-Touring nehmen wir rund 150 PS als Minimum, nach oben braucht es keine Grenze. Fast 4000 Kilometer werden wir zurücklegen, von Stuttgart (immerhin der Geburtsort des Motorrads) nach Calais, rüber, quer durch England, dann per Fähre noch Douglas (Karte, siehe Bild), mitten hinein in die Vorbereitungswoche des zweiten großen Inselspektakels, dem Classic Grand Prix. Gern genommen ist dementsprechend eine gewisse Tourentauglichkeit. Yamaha FJR 1300, Ducati Multistrada 1200 S, KTM 1290 Super Duke GT, Kawasaki ZZR 1400 und BMW K 1600 GTL sollten ein möglichst breites Spektrum an High-End-Power-Tourern abdecken. Unterschiedliche Konzepte von sportlich bis kommod und so einiges dazwischen.
BMW K 1600 GTL - touristischer Luxus
An einem spätsommerlichen Sonntagmorgen geht es endlich los, erste Etappe. Es gibt wahrlich schlechtere Motorräder als eine BMW K 1600 GTL, um die knapp 800 Kilometer von Stuttgart bis Calais abzureißen. Gigantischer touristischer Luxus erwartet den Piloten der Sieben-Zentner-GTL-Brumme. 1,62 Meter Radstand, eine Sänfte von elektronischem Fahrwerk, die Sitzbank eine Sofalandschaft, Herrenreiter-Ergonomie, wie der Orthopäde sie gerne sieht, eine Schrankwand von Windschild. Der Tempomat auf 140, aus der Stereoanlage dudelt Phil Collins, im frisch ausgesaugten Kofferraum verströmt der Wunderbaum „Neuwagenduft“. Irgendwo ganz tief drinnen säuselt der Reihensechszylinder sein Mantra von sehr viel Hubraum und perfektem Masseausgleich. Eine BMW K 1600 GTL zu fahren, ist so entspannt wie „Sonntags kommt Tante Gertrud zu Kaffee und Kuchen“. Aber wehe, wenn die linke Spur der A 3 endlich frei ist. Dann wird der Kaffeeklatsch ungeahnt prickelnd, denn Tantchen hat statt Backpulver Kokain in der Erdbeertorte. Ganz, ganz unten, quasi ab Standgas, so laufruhig und manierlich, dass man es kaum glauben mag. Fast elektrisch. Immer über 140 Nm! Dann, bei Kommando Volllast, zeigt der 24-Ventiler sein wahres Ich. Unnachahmlich, unanständig, heiser kreischt er mit steigender Drehzahl, wirkt in diesem Übertourer fast deplatziert. Deinen ersten Sechs vergisst du nie.
Leider wird die linke Spur gegen Mittag von Sonntagsbummlern regiert, also verlieren wir uns in den Weiten des Bordcomputers. Etliche Tageskilometerzähler, Reifendruckkontrolle, Navigationssystem, zigfache Einstellmöglichkeiten für Griff- und Sitzheizung, Bluetooth-Stereo, Equalizer, etc. Hier finden sich ganz sicher auch ein Rezept für Kaiserschmarrn und der Bauplan der Apollo-11-Rakete. So abgelenkt schlägt die BMW K 1600 GTL, ohne zu oft ihre Muskeln spannen zu dürfen, eine Schneise durchs Dosen-Dickicht auf der A 4, und im Handumdrehen befinden wir uns in Belgien. Hat uns der limousinenartige Komfort der K 1600 GTL etwa eingelullt? Der Reihensechser maskiert, verschleiert Speed. Eine BMW K 1600 GTL strapaziert den Ruhepuls des Piloten nur dann, wenn alle 50 Kilometer der Sender gewechselt werden will. Geschwindigkeit ist auf dieser BMW wie 3-D-Kino. Und trotzdem, oder gerade deshalb, hat das Power-Touring etwas sehr Erhabenes. Du steigst morgens auf deinen Ofen und zischst mit Gepäck und vollem Tank genau dahin, wohin du willst. Und wie du willst. Kein Ticket, kein Fahrplan, keine plärrenden Gören im Abteil. Nur gediegenster Komfort, irrsinnige Tankreichweiten (26,5-Liter-Tank!) und das gute Gefühl, selbst der Herr des Reiseverlaufs zu sein. Erste Gewissheit: Hollywood hatte recht. Geschwindigkeit ist die Freiheit der Seele.
Yamaha FJR 1300 AE - der gute Kompromiss
Aber auch Tester Schorschi, Racefuchs und Cheflogistiker, scheint der 800-km-Stint auf der Yamaha FJR 1300 AE nichts anhaben zu können. Okay, die Yamaha hat schon einige Jährchen auf dem Buckel, bekam zuletzt neben elektronischem Fahrwerk und einem sechsten Gang kräftig Lidschatten und Wimperntusche aufgetragen. Aber die Kosmetik darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Konzept des Tourers mit einem kräftigen Schuss Sportlichkeit noch immer voll aufgeht. Die FJR 1300 markiert den guten Kompromiss. Über ein Zentner weniger schiere Masse als die BMW (294 Kilo fahrfertig), daher lange nicht so behäbig, aber um Welten komfortabler als eine ZZR, mit sahnigem Vierzylinder, voller Ausstattung (Sitz- und Griffheizung, elektronisches Fahrwerk, etc.), viel Platz und gutem Windschutz – wären die Allround-Qualitäten der FJR nicht hinlänglich bekannt, sie wäre ein Geheimtipp. Dass knapp 150 PS in diesem hochpreisigen und hochpotenten Power-Tourer-Umfeld auf dem Papier beinahe konservativ wirken? Geschenkt. Auch wenn Souveränität und Gelassenheit viel eher die Wesensmerkmale einer FJR 1300 sind als explosive Leistungsabgabe – ein Dreh am Kabel und auch die Yamaha trägt vehement in führerscheinfeindliches Territorium. Geschwindigkeit ist, besonders auf einer Yamaha FJR 1300 AE, trügerisch. Makulatur allerdings, denn in Belgien hat unsere Expedition nie mehr als 30 PS gebraucht.
Kawasaki ZZR 1400 - nicht ganz so entspannt
Seinem leicht qequälten Gesichtsausdruck nach empfindet Gabriel die stundenlange Autobahnfahrt als nicht ganz so entspannt. Unser Grandseigneur des Klassik-Racing ist begnadeter Sprücheklopfer, professioneller Raucher, und er war in der Früh spät dran. Also musste er sein Gepäck auf der Kawasaki ZZR 1400 verzurren, der einzigen Maschine ohne serienmäßigem Koffersystem. Nach der BMW K 1600 GTL fühlt sich die Schnellzug-Kawa an wie eine Supersport-750er aus den 80er-Jahren. Höchstens die Hälfte an Motorrad, aber langer Tank, tiefe Lenkerstummel, gespannte Liegeposition. Nicht einmal Sitzheizung und Tempomat? BMW K 1600 GTL und Yamaha FJR 1300 AE verwöhnen arg. Trotzdem hat die Kawa natürlich jede Daseinsberechtigung, schließlich warten hier 200 PS darauf, in alternative Bewusstseinszustände zu schleudern. Dumm nur, dass bis Calais immer noch 120 gelten, und die schafft die Kawasaki ZZR 1400 spielend im Ersten. Hier ist zwar weniger Verkehr, aber wir haben noch viel vor und möchten unser Forschungsanliegen nicht in U-Haft abhaken. Geschwindigkeit will frei sein. Doch erzwingen lässt sie sich nicht.
Was ist bloß bei den Engländern los?
Die Motorräder sind auf der Fähre verzurrt, die Blicke richten sich auf die andere Seite des Kanals. So eine Fährüberfahrt ist immer etwas Besonderes, hat beinahe metaphysische Qualität. Darüber könnte man mal sinnieren, aber jetzt ist keine Zeit. In Canterbury, einer sehenswerten Stadt, die weniger rasenden Reisenden bestimmt viel zu sagen hätte, wartet das erste Nachtlager. Pub, Bed and Breakfast. Weil wir in einer ehemaligen Methodistenkirche übernachten, werden wir beim dritten Bier spontan zu den „Manic Speed Preachers“. Nach Geschwindigkeit zu suchen macht durstig.
Tag zwei, schnell sind 100 Britische Pfund in Form von Super-Kraftstoff in den gierigen Schlünden unserer Kraft-Geschosse verschwunden. Geschwindigkeit kostet. Ein großteils frittiertes Powerfrühstück, Linksverkehr, und dann, auf der langen A 1, man will wenigstens etwas sehen vom Land, stellen wir ernüchtert fest: In England werden wir die verlorene Geschwindigkeit ganz sicher nicht finden. Die Verkehrsdichte ein Debakel, das Reisetempo pendelt sich weit unterhalb der erlaubten 70 Meilen pro Stunde ein, und wie zum Hohn kündigen Warnschilder im Minutentakt Geschwindigkeitskontrollen und Durchschnittsgeschwindigkeitskontrollen an. Was ist bloß bei den Engländern los? In der geistigen Heimat des Liberalismus, der Denkschule der Freiheit, herrscht eiserne Bevormundung. Hier darf sich keiner das Knie aufschürfen. Das traurige Tüpfelchen auf dem i dann irgendwo auf Höhe Nottingham. „27 sind wegen Treibstoffmangels liegen geblieben. Überprüfen Sie Ihren Kraftstoffvorrat.“ „Bleiben Sie zu Hause, auf der Straße lauert das sichere Verderben“, könnte da auch stehen. Schon wirkt Belgien im Rückblick wie das Paradies für Vollgas-Junkies. Geschwindigkeit muss wohl relativ sein.

Zäh zieht sich der Transfer durch das Land der unbegrenzten Geschwindigkeitskontrollen, aber wir, unser Ziel fest vor Augen, machen tapfer Meter. Spätabends dann, endlich an der Fähre, nach mehr frittiertem Kraftfutter, sammelt sich um unsere verladefertigen Bikes peu à peu der Rennsporthype. In einigen Tagen beginnt der Classic Grand Prix, und die ersten vollgasverstrahlten Racer, Überzeugungstäter und Helden alter Schule, rücken schon früh zur Überfahrt an. Vielsagende Aufkleber auf imageträchtigen Trailern. Geschwindigkeit ist ihr Geschäft. Und dem Anschein nach laufen die Geschäfte gut.
Vorboten des nahenden Inselwahnsinns, sicherlich. Wir erwarten nicht weniger als eine Welt von Magie und Mythos, den Gegenentwurf zu unserer eigenen, durchrationalisierten Welt. Die begeisterten Geschichten der Kollegen, vorgetragen mit großen Augen, und die lange Anreise haben in unserer Fantasie einen überlebensgroßen Insel-Speedpark entstehen lassen. Drachen und Dämonen muss es dort geben, Feen sowieso, und wehe dem Racer, der sie bei Ferry Bridge nicht grüßt. Halbgötter auf geweihten Eisen werden uns auf dem Hinterrad überholen und uns in sagenhafter Geschwindigkeit um die Insel ziehen, auf dem Weg zum eigenen Rundenrekord. Auch dort wird die Durchschnittsgeschwindigkeit kontrolliert, aber je mehr, je besser. Und die Blitzer lösen aus, wenn du zu langsam bist. Wie sonst sollte es sein?
Lange Gesichter, leise Enttäuschung
Zum Sonnenaufgang spuckt uns die „Ben-my-Chree“ ziemlich übernächtigt in Douglas aus, der mit rund 27.000 Einwohnern größten und einzigen Stadt der Insel. Wir schleppen uns zum Basislager. Wieder Bed and Breakfast, wie gemalt, umrahmt von Schafweiden und sattgrünem Wald, direkt aus einem Rosamunde Pilcher-Roman. Vor ernsthafter Feldforschung steht aber ernsthafter Matrazenhorchdienst. Geschwindigkeit suchen macht müde.
In freudiger Erwartung einer ersten Aufwärmrunde legt der Treck am Nachmittag die Koffer ab. Hat schon was, mal eben zehn, 20, 30 Kilo tote Masse abzustreifen. Streckenbesichtigung. Doch was finden wir vor? Statt Michael Dunlop auf seiner S 1000 RR oder wenigstens einen ölverschmierten Klassik-Racer auf Norton Manx zuckeln Senioren in alten Rovern und Hedgefonds-Trophäenweiber im Range Rover (die Insel ist auch ein Steuerparadies) um die Wette. Auch hier gibt es Feierabendverkehr. Dazu verlaufen weite Teile des rund 60 Kilometer langen Mountain Course innerorts, hier gibt es natürlich Tempolimits, und hier schieben junge Mütter Kinderwagen über Zebrastreifen. Rücksicht ist angesagt, Geschwindigkeit verpflichtet. Obendrein natürlich immer noch exotischer Linksverkehr, der bei jedem Überholvorgang alles abverlangt. Nach zwei langen Tagen sind wir endlich auf der Insel angekommen, inmitten der Realität und am Boden der Tatsachen. Lange Gesichter, leise Enttäuschung. Das haben wir uns anders vorgestellt. All dem zum Trotz sickert die Magie der Insel langsam, aber unaufhaltsam durch das Gore-Tex in unsere Herzen.
Allein die Namen der Streckenabschnitte, in Hinweisschildern vor wichtigen Kurven abzulesen: Glen Helen, Kirk Michael, Ballaugh Bridge, Gooseneck, Bungalow. Gänsehaut. Hier haben sich die Dunlops, die McGuinesses, die Agostinis und die Meier-Georgs dieser Welt unsterblich gemacht. An jedem Meter dieser Strecke klebt so viel Rennsport-Flair (und Blut), so viel große Motorsport-Geschichte, dass es woanders für eine ganze Erlebniswelt reichen würde. Sogar, wenn man mit Tempo 40 hinter einem Corsa hängt.
Ducati Multistrada 1200 S - kräftiger Desmo-Arschtritt
Immerhin, wir haben erstmals seit 1500 Kilometern wieder Kurven unter den Rädern, und da und dort geht was, so richtet sich der Blick wieder auf unsere Maschinen. Gehörte die Anreise eher den echten Tourern mit sechs und sieben Zentnern, regieren hier auf der Insel die V-Zwei-Maschinen. Mit 249 Kilo nicht unbedingt ein Fliegengewicht, nimmt sich die Ducati Multistrada 1200 S aber nach eingängiger Erfahrung mit BMWs Sechzylinder-Flaggschiff aus wie eine 450er-Sport-Supermoto. Herrlich, wie leichtfüßig, wie fluffig die schöne Crossover-Duc durch die Alleen fetzt. Bestechend, wie sportlich ihre Regelsysteme arbeiten. ABS, Traktionskontrolle, Wheeliekontrolle – alles so, als wäre es genau für die harte Inselprüfung gemacht worden.
Kam uns die BMW K 1600 GTL auf glattem Belag bislang oft etwas weich gefedert vor, so passt dieses schluckfreudige Setup hier auf der Man sehr gut. Es ermöglichte zudem zusammen mit der aufrechten Sitzposition eine recht komfortable Anreise. Eine Wucht auch der Motor, in dem immer noch so viel Superbike steckt. Was haben sie nicht alles versucht, aus ihm einen Tourenantrieb zu machen. Doppelzündung, Ride-by-Wire, Fahrmodi, variable Ventilsteuerung – der 1198er-Testastretta hat in der Multistrada eine lange Evolution hinter sich. Ja, das alles hilft, die Laufkultur ist für einen V2 in sämtlichen Drehzahlbereichen hervorragend. Aber nein, er will noch immer mehr sein als ein schnöder Kilometerfresser. Den Beweis tritt der Desmo-Vau ab 6000 Touren an, wenn er wie ein angeschossener Löwe abgeht. Der Zorn, das Gebrüll, die ungestüme Drehfreude, alles wahnsinnig Ducati.
Geschwindigkeit serviert die Ducati Multistrada 1200 S in Form eines kräftigen Desmo-Arschtritts. Das macht die Duc zum Gegenentwurf zur Yamaha FJR 1300 AE. Letztere pure Zurückhaltung, Understatement, stille Kraft, erstere auf die Brust trommelndes Selbstbewusstsein und zur Schau gestellte Performance. Interessant dabei, dass beide völlig unterschiedliche Wege gehen, am Ende aber, was das Einsatzspektrum angeht, gar nicht mal so weit voneinander weg landen. Beide taugen mit Windschutz, Komfort, Tankreichweite wahnsinnig gut als transkontinentale Power-Tourer. Stef, Navigator und Ruhepol der Truppe, hat genau gewusst, warum er sein Navi an die Multistrada geschraubt hat. Schorschi hingegen, jetzt auf der BMW K 1600 GTL, malt in jeder halbwegs engagiert angegangenen Kurve dicke schwarze Striche auf den Asphalt. Der Hinterreifen der K-BMW kann einem echt leidtun. Auch wenn der Sechsender bestechend neutral fährt und viel mitmacht – die Physik setzt halt Grenzen. Das hohe Gewicht und die begrenzte Schräglagenfreiheit fordern Tribut. Erfahrung und Entschlossenheit sind gefragt, will man die rollende Stereoanlage halbwegs respektabel über die Insel schippern.
Gabriel, wieder auf der Kawasaki ZZR 1400, gibt alles, doch auch er hat Mühe, denn auf den engen, welligen Sektionen des Rundkurses kann die ZZR ihren langen Radstand, ihre bolzstabile Auslegung als Hochgeschwindigkeitssportler nicht verbergen. Die 200 PS auf den Boden zu bringen, dafür bräuchte es schon Ian Hutchinson. Das Fahrwerk arbeitet zwar schön gelassen, stabil und sämig, aber auch die ZZR fordert Eingewöhnung. Die lawinenartige Power, die sehr vorderradorientierte Geometrie, das macht es Normalsterblichen schwer. Geschwindigkeit fordert.
KTM 1290 Super Duke GT - auf der Insel die Königin
Sven, Lebenskünstler, Fotomodell und Rennfahrer-Yogi, seit Beginn auf KTM 1290 Super Duke GT unterwegs, schmunzelt darüber nur. Die komfortabelste Anreise hatte er nicht unbedingt. Kerniger Motorlauf, knochige Sitzbank, Windschutz nur Durchschnitt – man kann schon reisen mit der GT, aber vor ihrem Komfort steht im Vergleich mit den anderen Power-Tourern eher ein „Rest“. Dazu hat die KTM das mit Abstand straffste Fahrwerk. Auch das kostet etwas Langstreckenkomfort, aber damit liegt sie auch wie das sprichwörtliche Brett. Wo die anderen vier die Fahrbahn lesen und reagieren, betoniert die 1290 GT einfach drüber. Der Sportmodus des semiaktiven Fahrwerks ist auf dem unerhört welligen Untergrund viel zu hart, aber im Street-Modus passt es. Obendrein ist die KTM 1290 Super Duke GT 17 Kilo leichter als die Ducati Multistrada 1200 S. Und so ist am Ende die Orangene das Motorrad, mit dem man hier so richtig fliegen kann. Selbst, wenn der Leistungsvergleich dank 1600er-Sechszylinder-BMW und 200-PS-ZZR ausnahmsweise mal keine One-Man-Show des 1290ers ist – die unbedingte Mühelosigkeit, die katapultartige Vehemenz, mit der der V-Zwei quasi ab Rundlauf losprescht, können beide nicht erreichen. All das macht die Super Duke GT zur Inselkönigin. Und es zeigt: Landstraßen-Geschwindigkeit, welche mit ständig wechselnder Schräglage, Beschleunigung und Verzögerung einhergeht, ist die vielleicht erlebnisreichste, reizvollste Spielart des Speed. Und ebenjene ist auf der GT augenblicklich verfügbar, gut beherrschbar und herrlich derb.
Doch auch die KTM muss sich der Langsamkeit der Insel beugen. Ob unsere Suche ein zweckloses Unterfangen war? Die vermeintliche Geschwindigkeit eine Illusion? Wahrscheinlich war unsere Erwartung einfach etwas absurd. Am Ende eines langen Tages dann hilft Lyn, unsere Gastgeberin, zu verstehen, wie die Dinge hier so laufen. Mit der Muttermilch saugen die Manx das Rennen auf, es ist in ihrer DNA, in ihrem Blut. In der Vorschule lernen die Kinder alles darüber, malen Bilder mit ihren Helden, den heimischen Fahrern. Das Jahr, es unterteilt sich für die Insulaner in vor der TT, während der TT, nach der TT. So ziemlich jeder hier verdient am Rennen, nicht wenige leben vom Rennen. Das erklärt, wieso unsere Expedition, wo wir auch ankamen, aufs Herzlichste willkommen geheißen wurde. Kinder winken an jeder Straßenecke, Senioren erkundigen sich nach unseren Maschinen, unserer Geschichte, berichten mit funkelnden Augen von ihren alten BSAs und Triumphs, die sie früher mal gefahren sind. Trucker halten an und winken mit Gruß vorbei. Als wir reihum über die Ballaugh Bridge springen, eilen Besucher aus dem nahen Pub herbei. Aber nicht, um sich zu beschweren, sondern um sich zu vergewissern, ob wir das auch anständig machen.
Man liebt das Motorrad auf dieser Insel, und man liebt die Geschwindigkeit, wenngleich eher die der anderen. Die speziellen Bande der Manx mit ihrem Rennen, sie erklären auch, wie sie ihren Frieden gemacht haben mit dem Blutzoll. Jeder, der hier antritt, wissen sie, tut dies im vollen Bewusstsein des Risikos. Hier hat jeder noch die Freiheit, sich den Kopf einzurennen. Auch in diesem Jahr sind einige nicht aus der Arena zurückgekommen. Dann halten sie kurz inne, trauern und machen weiter. So, wie sie es schon immer gemacht haben. Nämlich in aller Langsamkeit. So geerdet nehmen wir uns den nächsten Tag frei, tun es den Manx gleich und erkunden mit Muße die Umgebung. Den Hafen von Peel, die Cafés in Ramsey, die Promenade in Douglas, natürlich die Grandstands, Start-Ziel und das Fahrerlager, wo die Rennteams in geschäftiger Konzentration ihr Material für den Classic Grand Prix vorbereiten. Hier, in der Ruhe vor dem Sturm, wird klar: ohne den Kontrast der Langsamkeit keine Geschwindigkeit. Ying und Yang.

Am Abend dann der letzte, einsame Versuch einer anständigen Runde. Schorschi, Gabriel, Stef und Sven bereiten sich schon mental auf den langen Rückweg vor. Zur blauen Stunde, noch eben genug Licht, auf der KTM 1290 Super Duke GT, das machte sie in gewisser Weise zur Testsiegerin, wenn es eine gäbe. Raus aus Ramsey, Gooseneck hinauf, weit und breit kein Auto, nur Schafe und ein Local Hero auf seiner zornigen Aprilia. Der gibt eine saubere Linie vor, im Schlepptau darf die GT einmal richtig rennen. Zehn Meilen bloß bis Cregny-Baa, viel zu wenig und doch eine Ewigkeit. Meilenweit entfernt vom Speed der Profis, aber doch eine Offenbarung. Weil endlich schnell genug. Zumindest für das persönliche Empfinden. Es zeigt sich: Geschwindigkeit ist subjektiv. Schnell ist, was in deinem Kopf passiert. Und das gilt immer, für alle Formen des Motorradfahrens. Egal ob 60 auf dem Cruiser oder 190 auf der Mountain Mile – was schnell ist und wann genug, entscheidet jeder selbst, stets aufs Neue und hoffentlich richtig. Vielleicht hat sich da heimlich ein einsames Tränchen ins Helmpolster gedrückt. Und mit diesem letzten, ewigen Eindruck auf der Festplatte verlassen wir die Insel Man am folgenden Morgen wieder Richtung Heimat.
Übrigens, auch die Kawasaki ZZR 1400 durfte noch ihren Geschwindigkeitsmoment erleben. Samstagabends, auf der A 4 zwischen Aachen und Köln, welch feine Ironie. Die ZZR 1400 verschaffte uns den rohen Topspeed-Kick. Freie Autobahn, linke Spur, Feuer. 200, 240, 260, 280, da, wo die anderen Power-Tourer schon lange aufgegeben hätten, unaufhaltsam, immer weiter mit Warpspeed in Richtung der magischen 300. Erschütternd, was dann passiert, wie plötzlich Kurven entstehen, wo vorher keine waren. Als wenn sich im Tunnel Raum und Zeit krümmen. Geschwindigkeit hat eben viele Facetten. Und eine davon lag die ganze Zeit vor unserer Nase.
Daten BMW K 1600 GTL
Wassergekühlter Sechszylinder-Reihenmotor, Hubraum 1649 cm³, Leistung 118,0 kW (161 PS) bei 7750/min, max. Drehmoment 175 Nm bei 5250/min, Brückenrahmen aus Alu, Doppellängslenker aus Alu, Zweigelenk-Einarmschwinge aus Aluminium, Radstand 1618 mm, Lenkkopfwinkel 62,2 Grad, Gewicht vollgetankt 357 kg, Tankinhalt 26,5 Liter, Preis mit Nebenkosten 26.495 Euro, Höchstgeschwindigkeit 220 km/h, Beschleunigung 0–200 km/h 11,7 sek, Durchzug 100–140 km/h 4,2 sek
Daten Yamaha FJR 1300 AE

Wassergekühlter Vierzylinder-Reihenmotor, Hubraum 1298 cm³, Leistung 107,5 kW (146 PS) bei 8000/min, max. Drehmoment 138 Nm bei 7000/min, Brückenrahmen aus Alu, Upside-down-Gabel, Ø 48 mm, Zweiarmschwinge aus Aluminium, Radstand 1545 mm, Lenkkopfwinkel 64,0 Grad, Gewicht vollgetankt 294 kg, Tankinhalt 25,0 Liter, Preis mit Nebenkosten 19.465 Euro, Höchstgeschwindigkeit 245 km/h, Beschleunigung 0–200 km/h 11,4 sek, Durchzug 100–140 km/h 4,9 sek
Daten Ducati Multistrada 1200 S

Wassergekühlter Zweizylinder-90-Grad-V-Motor, Hubraum 1198 cm³, Leistung 112,0 kW (160 PS) bei 9500/min, max. Drehmoment 136 Nm bei 7500/min, Gitterrohrrahmen aus Stahl, Upside-down-Gabel, Gleitrohrdurchmesser Ø 48 mm, Einarmschwinge aus Aluminium, Radstand 1529 mm, Lenkkopfwinkel 66,0 Grad, Gewicht vollgetankt 249 kg, Preis mit Nebenkosten 19.335 Euro, Höchstgeschwindigkeit 250 km/h, Beschleunigung 0–200 km/h 10,8 sek, Durchzug 100–140 km/h 4,3 sek
Daten Kawasaki ZZR 1400 Performance Sport

Wassergekühlter Vierzylinder-Reihenmotor, Hubraum 1441 cm³, Leistung 147,2 kW (200 PS) bei 10 000/min, max. Drehmoment 158 Nm bei 7500/min, Monocoque aus Alu, Upside-down-Gabel, Ø 43 mm Zweiarmschwinge aus Aluminium, Radstand 1480 mm, Lenkkopfwinkel 67,0 Grad, Gewicht vollgetankt 267 kg, Tankinhalt 22,0 Liter, Preis mit Nebenkosten 19.425 Euro, Höchstgeschwindigkeit 298 km/h, Beschleunigung 0–200 km/h 7,2 sek, Durchzug 100–140 km/h 3,3 sek
Daten KTM 1290 Super Duke GT

Wassergekühlter Zweizylinder-75-Grad-V-Motor, Hubraum 1301 cm³, Leistung 127,0 kW (173 PS) bei 9500/min, max. Drehmoment 144 Nm bei 6750/min, Gitterrohrrahmen aus Stahl, Upside-down-Gabel, Ø 48 mm, Einarmschwinge aus Aluminium, Radstand 1482 mm, Lenkkopfwinkel 65,1 Grad, Gewicht vollgetankt 232 kg, Tankinhalt 23,0 Liter, Preis mit Nebenkosten 18.195 Euro, Höchstgeschwindigkeit 260 km/h, Beschleunigung 0–200 km/h 8,9 sek, Durchzug 100–140 km/h 3,2 sek