Triumph baut die 660er-Modellpalette aus. Bevor es in den Klassenvergleich geht, muss sie sich dem Top-Test stellen.
Triumph baut die 660er-Modellpalette aus. Bevor es in den Klassenvergleich geht, muss sie sich dem Top-Test stellen.
Mit der weithin bekannten Hauskatze, einem nach Duden-Definition "kleineren Tier mit schlankem Körper, kleinem rundem Kopf, einem langen Schwanz und weichem Fell, das bevorzugt Mäuse jagt" hat die hier vorgestellte Hausstreckenkatze, auch bekannt als Triumph Tiger Sport 660, nicht viel gemein. Gut, einen schlanken Körper besitzt auch dieses Tierchen, aber das war’s dann auch.
Die Tiger Sport 660 wird nicht in engen Wohngebieten gehalten, sie kann mehrere Hundert Kilometer am Stück zurücklegen und nennt jede asphaltierte Straße ihr Hausstreckenrevier. Auch macht sie keine Jagd auf Nagetiere, sondern bevorzugt auf zwei- und vierrädriges Großwild – und heute ganz besonders auf die 1.000 möglichen Punkte des Top-Tests.
Nach dem Naked Bike Trident ist die Tiger Sport das zweite Modell auf der Ende 2020 vorgestellten 660er-Plattform von Triumph. Aus dem Stand schaffte es die Trident 660 zum Bestseller der Marke und fand allein in Deutschland im vergangenen Jahr 1.296 neue Besitzer. Im Test sammelte sie außerdem zuletzt 642 beachtliche Punkte, ließ aber klassenüblich gerade bei der Tourentauglichkeit einige Zähler liegen. Als Crossover-Bike darf sich die Tiger Sport 660 hier Vorteile versprechen. Sie folgt dem altbewährten Tiger-Prinzip der Briten, ein Naked Bike mit hohem Lenker und sportlicher Halbschale zu versehen, die Ergonomie zu entschärfen und so ein quirliges Crossover-Bike zu formen.
Die Tiger Sport 660 übernimmt deshalb Hauptrahmen und Motor unverändert von der Trident. Das (geschweißte) Rahmenheck wurde aber zugunsten von Kofferaufnahmen und Soziustauglichkeit etwas verlängert und die Federwege auf 150 Millimeter vorne und hinten erhöht. So lehnt die Tiger Sport optisch hochbeinig auf dem Seitenständer.
Weil die optionalen (599 Euro) Koffer noch nicht montiert sind, schwingt das Bein aber problemlos über die Sitzbank und das Gesäß findet in 835 Millimetern Höhe ein straffes Polster vor. Sofort fällt auf, dass die Tiger Sport viel Bewegungsspielraum bietet, vor allem nach hinten ist reichlich Platz. Die Knie umschließen einen schmalen Tank, und die Tiger Sport reicht dem Fahrer oder der Fahrerin den 810 Millimeter breiten (Trident: 770 Millimeter), wenig gekröpften Lenker in angenehmer Höhe entgegen. Das Arrangement insgesamt: bequem, aufrecht, aber trotzdem fahraktiv.
Auch der Soziuskomfort stand offensichtlich im Lastenheft der Entwickler in Hinckley. Der Passagier sitzt weit oben und im Vergleich zur Trident fällt der Kniewinkel weiter aus. Sitzplatz Nummer zwei bleibt insgesamt zwar kompakt, zu zweit mit Gepäck verreisen ist mit der Tiger Sport aber allemal drin, gerade mit den großen Seitenkoffern (in jeden passt ein Helm). Sie stören auch im Zweipersonenbetrieb nicht, und bevor es vollbepackt auf die Reise geht, lässt sich die Vorspannung des Federbeins bequem per Handrad auf den Soziusbetrieb anpassen.
Den Top-Test beginnen wir aber traditionell im Solobetrieb. Dass die Grundabstimmung der sonst nicht weiter einstellbaren Federelemente hierfür besonders stimmig ist, beweist die Tiger Sport 660 mit viel Stabilität bei flotten Richtungswechseln. Für einen Crossover sind Gabel und Federbein straff abgestimmt, leiten beim Umlegen keine Schwingungen ins Chassis und sprechen dabei über Unebenheiten im Belag so fein an, dass der Komfort nicht auf der Strecke bleibt. Das Feedback von der Front liegt wegen des hohen Lenkers und langen Federwegs nicht auf dem Niveau eines Naked Bikes, es reicht aber aus, um vom Start weg viel Vertrauen zu geben.
Aus der Vertikalen taucht die Tiger Sport auf Befehl handlich ab, gibt sich zunächst als Kurvenräuber. In mittlerer Schräglage sträubt sich der Michelin Road 5 Serienreifen dann aber besonders bei niedriger Temperatur spürbar und möchte das Motorrad lieber wieder aufstellen. Bremsen verstärkt diesen Drang.
Wer das Bike dagegen mit Körpereinsatz noch tiefer abwinkelt, ändert seine Meinung, und ganz tief unten (die Schräglagenfreiheit ist üppig) will es dann doch wieder von sich aus bis auf die Raste kippen. Immerhin: Mit steigender Temperatur legt die Tiger Sport den Aufstelldrang immer weiter, aber nicht vollständig ab. Nächste Station: Buckelpiste. Hier machen die Federelemente eine gute Figur. Die Gabel nutzt ihren Federweg beim Bremsen über grobe Verwerfungen voll aus. Auch im Zweipersonenbetrieb rauscht das Federbein voll vorgespannt nur im Extremfall hart durch. Allerdings schickt es den Sozius aufgrund von wenig Zugstufendämpfung beim anschließenden Ausfedern über den langen Heckrahmenhebel mit Schwung nach oben.
Ob allein oder zu zweit ist dem kräftigen und sehr elastischen Motor derweil egal. In seinen Grundzügen stammt er aus der Daytona 675 und wurde mit 67 neuen Teilen zum 660er-Allrounder. Beim Kaltstart braucht er ab und an den zweiten Startversuch und heizt sich dann einige Sekunden mit erhöhter Drehzahl auf. Die leichtgängige Kupplung rückt über den nicht einstellbaren Hebel fein dosierbar und ruckfrei ein. Fein, auf zu den Durchzugsmessungen! Ab 3.000 /min schiebt der Triple die Tiger Sport mit über 55 Newtonmetern Drehmoment voran und dreht fröhlich – wenn auch im oberen Drittel mit spürbarer Vibration – bis in den fünfstelligen Bereich.
Die Hausstreckenkatze vereint hier das Beste aus Raubtier und Stubentiger, mag hohe Drehzahlen ebenso gerne wie untertouriges Cruisen im sechsten Gang. Für seine Hubraumklasse brennt der Motor starke Durchzugswerte in den Testasphalt, auch wenn ihm dies in der laut Waage 15 Kilogramm leichteren Trident noch einen Tick besser gelang. Die um ein paar Millisekunden verzögerte Gasannahme spielt dabei keine Rolle, beim Anlegen im Kurvenscheitel muss man sich aber an sie gewöhnen. Ohne spürbare Lastwechselreaktionen aus dem Antriebsstrang geht die Tiger Sport 660 dafür vom Schiebebetrieb in die Beschleunigungsphase über.
Für 259 Euro Aufpreis lässt sich anschließend der nächsthöhere oder -niedrigere Gang dank Schaltautomat mit Blipperfunktion kupplungsfrei einlegen. Eine gute Investition, denn in beide Richtungen rasten die Fahrstufen präzise ein, der Blipper funktioniert auch unter Last und dosiert das Zwischengas in allen Drehzahlen gut. Er arbeitet wie fast die gesamte Elektronik auf sehr hohem Niveau. Die beiden Fahrmodi "Road" und "Rain" lassen sich während der Fahrt über die einfache, aber funktionale Schaltereinheit auf der linken Lenkerseite wechseln. Im Rain-Modus gibt die Tiger Sport nur sehr zaghaft, hauskatzenmäßig, Leistung frei, und die Traktionskontrolle schreitet früh ein. Road bedeutet dagegen eher Tiger-Modus, denn für viel Vortrieb braucht es nur einen leichten Dreh am Griff. Dann lässt die Traktionskontrolle aus engen Ecken auch härteres, nicht aber wirklich hartes Beschleunigen zu.
Der Hinterreifen könnte deutlich mehr Kraft übertragen als die Elektronik ihm zutraut. Sportfahrer dürften die Traktionskontrolle deshalb schon mal ausstellen, wenn es richtig flott vorangehen soll. Beim ebenfalls sicherheitsorientiert abgestimmten ABS ist das nicht möglich. Es greift bei hartem Verzögern früh ein und hält das Hinterrad zuverlässig am Boden oder in dessen Nähe. Die in dieser Klasse nicht übliche Anti-Hopping-Kupplung steuert zusätzlich ihren Teil zur ausgezeichneten Bremsstabilität der Tiger Sport bei.
Wegen der groben Regelintervalle des ABS braucht das Bike aus 100 km/h aber ganze 46,7 Meter bis zum Stillstand. Die Nissin-Zweikolben-Schwimmsättel trifft keine Schuld, sie packen bis in den Regelbereich kräftig und gut dosierbar zu. Auch bei extremer Belastung nach vielen Vollbremsungen geben sie nicht nach.
An der Zapfsäule gibt sich die Tiger Sport 660 genügsam. Entspannt bewegt reichen ihr 4,5 Liter Super Benzin auf 100 Kilometern. Das sind nur 0,1 Liter mehr, als die leichtere Trident 660 schluckt. Bei 130 km/h genehmigen sich beide 1,3 Liter extra. Mit 17-Liter-Tank (Trident: 14 Liter) sammelt die Tiger Sport aber ein paar Extrapunkte für die üppige 382-Kilometer-Reichweite. Zu langen Etappen lädt sie nicht nur mit der erwähnt tourentauglichen Ergonomie, sondern auch mit top Windschutz ein. Die hohe Scheibe lässt sich während der Fahrt einfach verstellen.
Am Testmotorrad überzeugt zudem sinnvolles Zubehör wie die leistungsstarke Griffheizung (239 Euro) und die Handprotektoren (119 Euro). Und sollte die Tiger Sport 660 auf großer Reise mal bis in die Dunkelheit unterwegs sein, helfen ihre Nachtsicht-Katzenaugen. Das rechte (Abblendlicht) erhellt die Straße schon ausreichend, das linke (Fernlicht) macht die Nacht bis in weite Ferne zum Tag. Überhaupt nicht tourentauglich ist dagegen das "Bordwerkzeug". Nur bestehend aus einem Inbus-Kreuzschlitz-Kombischlüssel ließe sich damit nicht einmal ein losgerüttelter Spiegel wieder festziehen. Während der Testprozedur war das aber auch nicht notwendig, die Tiger Sport präsentiert sich hochwertig und top verarbeitet. Oberflächenfinish und Materialgüte sind in der Crossover-Mittelklasse zweifellos schwer zu toppen.
Eingangsfrage beantwortet: beides. Die Tiger Sport 660 vereint Raubkatze und Stubentiger in sich. Gelungene Ergonomie, spritziger Motor und stimmiges Fahrwerk laden ebenso zur schnellen Runde wie zur größeren Tour ein. Gut durchdachte Details wie Scheibenverstellung und Kofferaufnahmen runden das Allround-Paket ab. Die Tiger lässt mit grobem ABS und nicht ganz neutralem Kurvenverhalten aber auch etwas Luft nach oben.