Konzeptvergleich Enduro gegen Tourer

Konzeptvergleich Enduro gegen Tourer Vaus dick

Sie ist seit fast zehn Jahren auf dem Markt und setzt bei den Tourern noch immer Maßstäbe:Hondas ST 1100. Nun bekommt sie hausgemachte Konkurrenz mit der bis dato stärksten Serien-Enduro, der Varadero.

Da nützte alles empörte Aufschreien der eingefleischten Motorrad-Touristen nix. »Seelenloses Plastikgebilde, sieht aus wie ein Auto, wiegt zuviel«, waren noch die gnädigsten Beschimpfungen, als Honda anno 1990 die ST 1100 auf den Markt brachte. Mochten sie sich auch noch so aufregen. Genau für sie hat Honda die ST 1100, Beiname Pan European, erdacht. Für Leute also, bei denen 5000 Kilometer nicht den Jahresschnitt bedeuten, sondern gerade mal einen Urlaubstörn. Für Motorradfahrer, die Hamburg-Palermo nicht mit dem Finger auf der Landkarte bereisen, sondern diese Strecke unter die Räder nehmen.
Inzwischen ist klar: Honda hat mit der in Europa entwickelten Pan ins Schwarze getroffen. Aber es dauerte eben eine Weile, bis die in der Regel eher wertkonservativen Tourenfahrer die ST 1100 so richtig ins Herz schließen wollten. Sie mußte sich zunächst mal bewähren, sich einen Namen machen. Durch einen beispiellos guten 100000-Kilometer-Langstreckentest (MOTORRAD 19/1992), durch Selbsterfahrung bei einer Probefahrt oder Mund-zu-Mund-Propaganda, bekanntermaßen die beste Werbung.
Und genauso wird’s mit der Varadero laufen, jede Wette. Was für Parallelen. Mal ehrlich, haben Sie diese bauchige Erscheinung auf Anhieb ins Herz geschlossen? Liebe auf den ersten Blick? Nein? So wird’s den meisten Motorradfahrern gehen. Honda entfernt sich mit der Varadero Lichtjahre vom ursprünglichen Enduro-Gedanken. Was für ein riesiges Motorrad, was für eine ausladene Verkleidung. Und dann auch noch Gußfelgen statt Speichenräder. Nicht den Hauch des Rallye-Images einer Africa Twin. Gedeckte Farben statt wilder Kriegsbemalung sollen Gediegenheit dokumentieren, verstärken aber den (ersten) Eindruck: Sie wirkt etwas plump, diese Varadero, fast ein bißchen verbaut.
Wobei sie, verglichen mit der ST 1100, mit ihren 256 Kilogramm schon fast als Federgewicht durchgeht. Die Pan European stemmt nämlich stolze 328 Kilogramm auf die Waage. Dieses Gewicht traut man der ST auf den ersten Blick gar nicht zu, aber schließlich beherbergt sie unter ihrer Verkleidung nicht nur einen sehr laufruhigen und (beinahe) unkaputtbaren V4-Motor, sondern einige weitere Baugruppe: ABS kombiniert mit einem Integralbremssystem (CBS) und eine Traktionskontrolle (TCS). Ohne diese Little Helpers kostet die 1100er zwar 3160 Mark weniger, doch das spürbare Plus an Sicherheit sollte man sich unbedingt gönnen. Allerdings stellt schon die Basisversion mit 23935 Mark beileibe kein Sonderangebot dar.
Beim Preis hat die Varadero ganz souverän die Nase vorn. Satte 8605 Mark beträgt die Differenz zur ABS-bestückten ST 1100. Das ist mehr, als nur Kleingeld für die Portokasse. Ein sanftes Polster fürs Reisebudget, ein Plus an Urlaubskilometern, Inspektionen und Hinterreifen, deren frühes Dahinscheiden wegen des potenten Zweizylinders einkalkuliert werden muß. Zudem ist die ST nach fast zehn Jahren Bauzeit etwas in die Jahre gekommen, das kann und darf nicht wegdiskutiert werden. BMW beispielsweise hat die Honda ST 1100 mit der G-Kat-bestückten K 1200 RS in puncto Fahrwerk und Motorleistung überholt.
Und gegenüber der hauseigenen Konkurrenz? Nun, da brilliert die Pan European mit fast reaktionsfreiem Kardanantrieb, integriertem Koffersystem und einem Hauptständer. Dinge, bei denen die Über-Enduro Varadero verlegen passen muß. Kardan gibt’s nicht, Koffer und Hauptständer werden jedoch in Kürze als Sonderzubehör angeboten. Hallo Honda, ein Hauptständer als Sonderzubehör, das riecht nach Pfennigfuchserei. Ist da der Chefkalkulator mit seinem Rotstift verrutscht? Was Fahrwerk, Bremsen – auch die Enduro verfügt über das CBS – und Antrieb anbelangt, wurde gottlob nicht gespart.
Auch bei der ST nicht. Noch immer erstaunlich, wie leichtfüßig und behende sich der Koloß bewegen läßt, sobald man ihn mal vom Hauptständer bugsiert hat. Das hohe Gewicht spürt der Fahrer nur ansatzweise. Nicht mal bei noch so engen Kehren. Kein Wegklappen, kein ekeliges Eigenlenken des sanften Riesen, sondern Fahrkultur pur. Sogar zügige Gangart macht er dank des stabilen Fahrwerks klaglos mit. Garantiert auch durch einen recht durchzugsstarken Motor, der selbst im Zweipersonenbetrieb jederzeit Souveränität ausstrahlt. Daß die Verkleidungsscheibe noch immer nicht in der Höhe einstellbar ist, ärgert jedoch kleinere Menschen über die Maßen, weil sie permanent durch die getönte Scheibe linsen müssen. Bei Regen und nachts überhaupt nicht lustig.
Die Varadero bietet sowohl kleinen wie auch großen Zeitgenossen einen ausgewogenen, langstreckentauglichen Arbeitsplatz. Ihr Sitzkomfort und der Windschutz zählen zum Besten, was bei Reise-Enduros ab Werk angeboten wird. Und des nächtens leuchtet ihr Abblendlicht die Fahrbahn deutlich besser aus als das der ST. Angesichts des Einsatzzwecks ein wichtiges Kriterium. Mitunter will man ja auch bei Dunkelheit zügig vorankommen. Überdurchschnittlichen Zweipersonenkomfort bieten beide, enorme Reichweite ebenso, wobei die ST 1100 mit ihrem 28 Liter fassenden Tank nahezu konkurrenzlos dasteht.
Über den unbändigen Schub des Varadero-Antriebs verfügt der ST-V4 freilich nicht. Schlichtweg atemberaubend, dieses nur mild gedrosselte Sportler-Triebwerk, das aus der VTR 1000 übernommen wurde. Brachte ihr den Kosename »Kampfsau« ein. Auch wegen der Nehmerqualitäten ihres Fahrwerks auf schlechtem Geläuf, verbunden mit ihrer erstaunlichen Handlichkeit.
Die Varadero ist vielleicht kein Motorrad fürs Auge, dafür eins für den Bauch. Sie verbindet hohe Tourerqualitäten mit einer herzhaften Portion Spannung – wenn man es drauf anlegt. Genau das hat sie der ST 1100 voraus.

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