Technik: Windkanalvergleich
König der Lüfte

Welches Superbike setzt dem Fahrtwind den geringsten Widerstand entgegen? Welcher Sporttourer hat die ausgefeilteste Aerodynamik und bietet den besten Windschutz? MOTORRAD prüfte fünf potentielle Kandidaten für den König der Lüfte im Windkanal.

Ein Mausklick am PC in der Meßwarte genügt, und die zwei 860 Kilowatt (1170 PS) starken Elektromotoren im BMW-Aerodynamik-Windkanal heulen auf, setzen die beiden riesigen Gebläse in Gang. Nur wenige Sekunden später tobt ein Sturm mit Windgeschwindigkeiten bis zu 180 km/h durch die Meßstrecke. Strom für mehrere zehntausend Mark im Monat zieht die Anlage auf dem Aschheimer Meßgelände aus dem Netz, um die insgesamt 3000 Kilowatt zum Betrieb der beiden Gebläse und der Luftkühler bereit zu stellen.
Für zwei Tage nistete sich MOTORRAD bei den Münchern ein, um einer neuen Generation von Superbikes und Sporttourern auf den aerodynamischen Zahn zu fühlen. Zur Erinnerung: Zuletzt standen 1993 die Sporttourer Kawasaki ZZ-R 1100 und Suzuki GSX-R 1100 im Windkanal (MOTORRAD 7/1993), das letzte Superbike war die 1991 modellgepflegte Suzuki GSX-R 750 (MOTORRAD 2/1991). Die neue Generation von Motorrädern ist pausbackiger, runder, ihre Verkleidung haben weniger Ecken und Kanten - ein aerodynamischer Vorteil, den der aktuelle Zeitgeschmack mit sich brachte. Man durfte also gespannt sein auf einen neuen König der Lüfte.
Auch diemal mischte eine GSX-R 750 mit, allerdings vom Jahrgang 1996, und als zweite Vertreterin der Superbike-Spezies eine Ducati 916 Biposto. Als Sporttourer traten die - zumindest laut ihren Herstellern - aerodynamischen Wunderwerke Honda CBR 1100 XX und Yamaha YZF 1000 R Thunderace an sowie die neue BMW K1200 RS. Um den Windschutz besser beurteilen zu können gingen auch noch der vollverkleidete Tourendampfer BMW R 1100 RT und das Naked-Bike Suzuki GSF 1200 Bandit, sozusagen als Referenzfahrzeuge mit in den Windkanal (siehe Kasten Seite 20).
Die Messungen des Luftwiderstands und des Auftriebs am Vorderrad als auch die Beurteilung des Windschutzes wurden jeweils mit liegendem und sitzendem Fahrer bei einer Windgeschwindigkeit von 160 km/h durchgeführt. Eine Waage, auf der das Motorrad fixiert ist, mißt die Luftwiderstandskraft, die dabei auf Mann und Maschine wirkt und die beiden nach hinten drückt. Diese Kraft steigt mit der Windgeschwindigkeit im Quadrat, das heißt, sie ist zum Beispiel bei 200 km/h viermal höher als bei 100 km/h, bei 300 km/h ist sie schon neunmal so hoch. Der zweite Faktor neben der Geschwindigkeit, der sich auf den Luftwiderstand auswirkt, ist die Luftwiderstandsfläche (cw x A). Daher ist es Aufgabe eines jeden Aerodynamikers, diesen Faktor so gering wie möglich zu halten. Denn nur so läßt sich die vorhandene Motorleistung in eine möglichst hohe Spitzengeschwindigkeit umsetzen. Der meist unerfüllte Traum eines jeden Aerodynamikers ist es im übrigen, daß auch dem zuständigen Designer diese Zusammenhänge klar sind.
Die Größe der Luftwiderstandsfläche - nach der Messung im Windkanal bekannt aus Windgeschwindigkeit und Luftwiderstandskraft - hängt also von zwei Parametern ab: Von der Stirnfläche A (die frontale Projektionsfläche, sie wird mit Hilfe eines Laser-optischen Meßverfahrens ermittelt) und dem Luftwiderstandsbeiwert, dem cw-Wert. Er ist das Maß für die aerodynamische Qualität eines Fahrzeugs.
Die zweite im Windkanal, ebenfalls mit einer Waage gemessene Kraft ist der Auftrieb am Vorderrad, oder anders ausgedrückt: um wieviel die Vorderradlast bei steigender Windgeschwindigkeit abbnimmt. Dieser Wert hängt entscheidend von der Haltung des Fahrers ab: Ein sitzender Fahrer entlastet das Vorderrad bei hohen Geschwindigkeiten mehr als ein liegender, da er sich nicht mehr auf dem Lenker abstützt, sondern vielmehr daran zieht, um sich festzuhalten. Je »leichter« das Vorderrad bei hohen Geschwindigkeiten wird, desto instabiler wird das Motorrad auf Bodenwellen und Längsrillen, und desto eher neigt es zum Pendeln.
Bei der Ducati besteht diesbezüglich kein Grund zur Sorge, mit liegendem Fahrer bleibt sie als einzige - und zudem deutlich - unter 100 Newton (etwa zehn Kilogramm) bei Tempo 160 km/h: Nur um 68 Newton wird ihr Vorderrad entlastet. Wie erwartet bietet die schlanke Italienerin dem Fahrtwind mit 0,61 m² auch die mit Abstand geringste Angriffsfläche - sowohl mit liegendem als auch mit sitzendem Fahrer. Diese verdankt sie nicht nur ihrem schmal bauenden Vau-Motor. Auch die tiefen Einbuchtungen am Tank, die die Oberschenkel des Fahrers perfekt integrieren, oder die unter der Heckverkleidung verstauten Schalldämpfer tragen entscheidend zu dieser kleinen Stirnfläche bei. Eine echte Überraschung ist dagegen ihr zweiter Gesamtrang in der Wertung »cw-Wert mit liegendem Fahrer«: Trotz ihrer winzigen Frontverkleidung leitet sie den Fahrtwind effektiv über Helm und Schultern des Fahrers ab. So setzt sie insgesamt dem Fahrtwind den geringsten Widerstand entgegen, für 200 km/h reichen der 916 rechnerisch 50 PS.
Fünf PS mehr braucht dazu das zweite gemessene Superbike, die Suzuki GSX-R 750. Obwohl sie sich gegenüber ihrem 1991er Vorgängermodell (cw x A liegend 0,359 m²) verbessert hat, fällt sie gegenüber der Ducati immer noch deutlich ab. Daran kann auch ihre aerodynamisch günstig gestylte Heckverkleidung nichts ändern, die für eine wirklich wirbelfreie Luftströmung am Übergang zur Sitzbank mindestens zehn Zentimer höher sein müßte - doch dies war vermutlich dem Designer nicht klar zu machen. Auch im Windschutz wurde die GSX-R von beiden MOTORRAD-Testern schlechter beurteilt als die 916.
Klingen die fünf PS, die der Suzuki-Motor für 200 km/h mehr leisten muß, noch relativ harmlos, so sind es für 300 km/h - wegen dem Quadrat und so - ganze 17 PS mehr. Rein rechnerisch reichen der Ducati für 300 km/h 159 PS, die Suzuki müßte 176 PS stemmen. Natürlich ist keine der beiden Maschinen im Serientrimm dazu in der Lage, doch beim WM-Lauf in Hockenheim erreichen die Superbikes diese Geschwindigkeiten auf den langen Waldgeraden, wenn auch unter günstigeren Bedingungen: deutlich abgespeckt und ohne Spiegel, Blinker und andere abstehende Bauteile. Kein Wunder also, daß die in der Topleistung etwas schwächeren, aber schlankeren Ducati selbst auf Hochgeschwindigkeits-Kursen mit dem japanischen Vierzylindergeschwader mithalten können. Auf engen Kursen nutzen die Italiener dann den Vorteil des stärken Antritts ihres Vau-Zwo.
Unter den Sporttourern hielt lange Zeit die bärenstarke Kawasaki ZZ-R 1100 den Topspeed-Rekord. Ihre aerodynamischen Eckdaten mit liegendem Fahrer aus dem Windkanalvergleich 1993: cw-Wert 0,510, Stirnfläche 0,666 m², ergibt eine Luftwiderstandsfläche von 0,340 m². Dagegen stand die schwächere Suzuki GSX-R 1100 mit ihrem um sieben Prozent größeren Luftwiderstand auf verlorenem Posten. Aber 1996 tauchte ein dunkler Schatten im Rückspiegel der schnellen Kawasaki auf, blinkte und zog vorbei: die Doppel-X von Honda.
Die nominell 164 PS starke CBR 1100 XX trägt seit dem das blaue Band für die schnellste Serienmaschine der Welt. MOTORRAD ermittelte 284 km/h (Heft 22/1996) bei echten 162 PS. Diese beiden Daten deuteten schon an, daß Honda nicht nur in der Motorleistung neue Maßstäbe gesetzt hat. Die Bestätigung dann im Windkanal: Die Doppel-X erreicht mit liegendem Fahrer einen sensationell niedrigen cw-Wert von nur 0,439. Zwischen ihr und dem Rest der Sporttourer-Welt liegen damit mehr als sechs Hundertstel - für einen Aerodynamiker Welten. Selbst mit sitzendem Fahrer bleibt ihr cw-Wert nur knapp über dem der aerodynamisch sehr guten Ducati mit liegendem Fahrer. Ausschlaggebend für den insgesamt höheren Luftwiderstand der Honda ist ihre deutlich größere Stirnfläche, 53 PS Motorleistung sind bei ihr für die 200 km/h mindestens notwendig.
Im Hochgeschwindigkeitsoval von Nardo will man sie sogar schon mit 300 km/h gemessen haben, doch dafür benötigt sie rein rechnerisch 170 PS - ein Wert, der selbst unter Berücksichtigung der Staudruckaufladung in der Airbox durch die beiden winzigen Schlitze in der Verkleidungsschale wohl kaum erreicht wird (die Auswirkung eines Ram-Air-Systems bleiben auf einem Leistungprüfstand unberücksichtigt). Auch der Abbau von Spiegel und Blinker reicht vermutlich nicht aus, um mit der Doppel-X als erstes Serienmotorrad 300 km/h zu knacken.
Weniger berauschend als der cw-Wert fällt der Windschutz aus, den die Honda bietet - zumindest im Vergleich zur BMW. Trotz absolut identischer Stirnfläche mit liegendem wie mit sitzendem Fahrer hält die K 1200 RS den Wind besser vom Fahrer ab, besonders vom sitzenden. Mit hochgestellter Scheibe sind die Kräfte, die an Kopf, Nacken und Oberkörper auf der K zerren, sogar nur um Nuancen stärker als auf dem vollverkleideten Tourer BMW R 1100 RT.
Mit der Rauchfahne deutlich sichtbar, leiten die Blinkerohren der K den Fahrtwind wirkungsvoll vor den Fingern um. Aerodynamisch sinnvoll wäre es allerdings gewesen, auch gleich die Spiegel in diese Ohren zu integrieren - Honda macht`s vor, wenn auch hier nur in einer Doppelfunktion, denn für den Schutz des Fahrers bringen die strömungsoptimierten Spiegelfassungen mit integrierten Blinkern nichts.
Ein Indiz für den guten Windschutz der K ist außerdem, daß der cw-Wert mit liegendem Fahrer und heruntergeklappter Scheibe (der schlechteste im Feld der Superbikes und Sporttourer) fast identisch ist mit dem bei einem sitzendem Fahrer und hochgeklappter Scheibe (der zweitbeste im ganzen Feld). Bei ihr war offensichtlich nicht die blanke, möglichst hohe Endgeschwindigkeit - immerhin gemessene 254 km/h in der offenen Version (Heft 9/1997), sondern eine möglichst lang für den Fahrer zu ertragende, hohe Endgeschwindigkeit das Entwicklungsziel.
Mit der von MOTORRAD ermittelten v-max von 261 km/h (Heft 9/1996) gehört auch die Thunderace nicht gerade zu den Langsameren. Ihr Hersteller verweist dabei stets auf die ausgefeilte Aerodynamik, die diesen Speed möglich macht. Im Windkanal mußte die Yamaha ihr Donner-As aufdecken und erkennen, daß sie zumindest gegen die Honda und gegen die Ducati keinen Stich macht. Immerhin schlägt sie trotz komfortabler Zweiersitzbank die Suzuki im cw-Wert und braucht nur wegen ihrer größeren Stirnfläche drei PS mehr für die 200 km/h. Daß die YZF 1000 R unter den Sporttourern den schlechtesten Windschutz bietet, ist keine Überraschung, liegt doch bei ihr die Betonung - stärker als bei der Honda und der BMW - auf Sport.

Unsere Highlights

Vergleich Bekleidung - Jacke wie Hose oder doch den Strampler?

Jeden Winter steht MOTORRAD-Meßfahrer Helmut Faidt vor derselben kniffligen Frage: Nehm` ich das dünne Lederund bekomme ordentliche Höchstgeschwindigkeitswerte, liege aber anschließend mit Grippe im Bett, oder nehm` ich den Textilanzug und kann mich anschließend vor Leser-Anfragen nicht mehr retten, die wissen wollen, ob ich die Hosen voll hätte und warum da nicht mehr drin war? Meßfahrer Faidt entscheidet sich meist für die Leser und gegen das Bett, und das ist gut so. Wieviel km/h mit einer Textilkombi nun tatsächlich auf der Strecke bleiben, wußte aber bisher keiner so genau.Ein Test im Windkanal brachte die Antwort: Im Fall der Ducati 916 verschlechterte sich der cw-Wert mit Textilkombi um knapp sechs Prozent (bei angenommen gleicher Stirnfläche). Dies bedeutet, daß die Biposto nicht mehr mit in einteiligem Sportfahrerkombi gemessenen 261 km/h (MOTORRAD 5/1997) durch die Lichtschranke rast, sondern rein rechnerisch mit 256 um fünf km/h langsamer.Zumindest bei Motorrädern mit einer ähnlich knapp geschnittenen Verkleidung wie der 916 dürfte die Einbuße an Höchstgeschwindigkeit prozentual etwa identisch ausfallen. Für den nächsten Winter hat Meßfahrer Faidt jedenfalls schon mal einen Taschenrechner und eine Tabelle mit der Luftdichte in Abhängigkeit der Temperatur neben seinem Telefon bereitgelegt.Mit einem von Dainese speziell für den Windkanalvergleich maßgeschneiderten Aerokombi samt mitgeliefertem Helmspoiler aus durchsichtigem Kunststoff (kleines Bild) verbesserte sich der cw-Wert gegenüber einer normalen Sportfahrerkombi um immerhin knapp zwei Prozent. Die dann rechnerisch erreichbare Geschwindigkeit wäre 262,5 km/h. Eine weitere Optimierung des Helmspoilers mit Pappe und Tape (wie auf dem großen Bild dargestellt) ergab keine weitere Verbesserung.

Verkleidung vs. Naked - Das muß kesseln in den Ohren

Unverkleidete Motorräder sind mega in, unmenschlich und aerdynamisch betrachtet kompletter Unfug: Ein invernalischer Sturm tobt wenige Millimeter neben den Ohren, der Fahrtwind drückt einem das Helmvisier an die Nase, und mit den Fingern krallt man sich am Lenker fest, um nicht rückwärts vom Bock zu kippen.Die Stirnfläche, die man zum Beispiel auf einem Naked-Bike in die Atmosphäre stanzt, ist zwar in etwa nur genausogroß wie auf einem verkleideten Motorrad gleichen Hubraums, der cw-Wert durch die Verwirbelungen an den vielen Ecken und Kanten aber deutlich schlechter. Schon bei 160 km/h und sitzendem Fahrer wird das Vorderrad um fast 25 Kilogramm »leichter«. Für 200 km/h benötigt der aufrechte Bandit-Treiber theoretisch 88 PS, in der Praxis biegt es wahrscheinlich bei 199 km/h schon die Lenkerenden nach hinten. Liegend sinkt der Luftwiderstand enorm, so daß für diese Marke auch 20 PS weniger ausreichen.Auf einem vollverkleideten Reisedampfer wie der BMW R 1100 RT hat die Haltung des Fahrers kaum Auswirkungen auf den Topspeed. Im cw-Wert mit sitzendem Fahrer schlägt der Boxer sogar die beiden Superbikes und die Yamaha YZF - samt Koffer und Topcase. Ohne Koffer und Topcase sinkt sein cw-Wert sogar auf 0,520. Nur die wuchtige Verkleidung bremst ihn ein: Mit einer Stirnfläche von knapp einem Quadratmeter muß er gegen den Fahrtwind antreten, was ihm bei 200 km/h 84 PS abverlangt.Die Idee ist zwar recht pfiffig, mit der vom Ölkühler kommenden warmen Abluft die Finger des BMW-Treibers zu wärmen, aber effektiv funktioniert sie nicht. Eine am Kühllufteintritt eingeleitete Rauchfahne bestätigt die von MOTORRAD-Testern bereits gemachte Erfahrung mit R 1100 RT: Der Abstand zwischen Hand und Luftaustritt ist zu groß, die Wärme geht vorher verloren.

Ducati 916 - Die Schlanke

Ein längs eingebauter V2 bietet grundsätzlich sehr gute Voraussetzungen für ein schlankes Motorrad. Außerdem integriert die Ducati den Fahrer durch den engen Knieschluß perfekt, so daß sie dem Fahrtwind die kleinste Stirnfläche entgegen setzt. In Kombination mit ihrem sehr guten cw-Wert kann sie mit dem kleinsten Luftwiderstand glänzen, zusätzlich mit dem geringsten Auftrieb am Vorderrad. Der König der Lüfte heißt deshalb Ducati 916.

Honda CBR 1100 XX - Die Schnittige

Zugunsten eines tourentauglichen Windschutzes mußten die Honda-Ingenieure - was die Stirnfläche der CBR 1100 XX betrifft - Kompromisse eingehen. Kompromißlos und erfolgreich zugleich war dagegen ihr Streben nach dem besten cw-Wert unter allen Serienmotorräder, um die enorme Motorleistung in eine hohe Endgeschwindigkeit umsetzen zu können. Für die versprochenen 300 km/h fehlen aber sowohl in der Praxis als auch rein rechnerisch immer noch ein paar PS.

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023