Fliederlila. Nein, Dunkelblau. Oder doch Blau mit hohem Rot-Anteil? Die Meinungen über die Lackierung der Test-RT gehen deutlich auseinander. Ein Blick in die Pressemappe hilft: Darkblue-metallic. Okay. Und weiter: »Ihre Natur ist das Reisen.« Ja, nee, is klar. Wer irgendwann einmal an einem Alpenpass stand und die vorbeiziehende Bikekarawane beobachtete, glaubt sofort, dass rund 20000 Exemplare der 1150 und ihrer Vorgängerin R 1100 RT von bundesrepublikanischen Garagen aus ins Vergnügen starten. Macht einen Marktanteil im Tourersegment von 35 Prozent, weltweit sogar rund 50 Prozent. Woran liegts?
Mit exorbitanter Spitzenleistung klotzt die RT schon mal nicht, maximal 91 PS traben auf der Prüfstandsrolle an. Das dürfte der Gore-Tex-Fraktion ziemlich an der Naht vorbeigehen, sie ruft nach Kraft aus der Mitte. Und der Boxer antwortet. Ab 1500 Touren brummt er heiter los, versetzt die Kardanwelle bis knapp 6000/min schwungvoll in Rotation, bevor sein Elan deutlich nachlässt und er sich über die 7000er-Marke hinaufrappelt. Rappelt, jawohl, denn besonders geschmeidig schüttelt der dicke Twin seine Leistung obenraus nicht aus dem Ärmel. Ebenso wenig im Stadtverkehr, wenn der Gasgriff beim zähen Kolonnenverkehr nur einen kleines bisschen geöffnet ist. Hier bewegt sich der per Einspritzung versorgte Vierventiler bisweilen konstantfahrruckelnd vorwärts. Da hat BMW die leistungsschwächeren Geschwister R und GS besser erzogen.
Sobald sich verkehrsbedingte Verstopfungen lösen und die 45er-Drosselklappen endlich einen größeren Querschnitt freigeben dürfen, gefällt der mit 11,3:1 etwas höher als seine Geschwister verdichtete Zweizylinder mit adretter Midrange-Power - die allerdings stets von drehzahlabhängig variierenden Vibrationen begleitet wird. Zwischen 2500 und 6000 Touren prescht der Tourer los wie ein Bär auf Honigsuche - jedenfalls in den Gängen eins bis fünf. Der als Overdrive übersetzte Sechste zügelt Drehzahl und Temperament gleichermaßen, Zwischenspurts verlangen nach zügigem Herunterschalten. Dafür grummelt die R 1150 RT bei Tempo 100 mit läppischen 3000 Touren dahin, für europaübliche Autobahnreisegeschwindigkeiten langen etwa 4500/min. Erst nahe der Höchstgeschwindigkeit von 202 km/h überschreitet der Boxer die 6000er-Marke, seine Vibrationen werden deutlich härter.
Beim Swingen abseits der Magistralen stören die Schwingungen nicht, sondern etablieren sich als Teil des multimedialen Unterhaltungsprogramms, das der Pilot vom breiten, angenehm gepolsterten RT-Sattel aus genießt - bei prall gefülltem 25-Liter-Tank und einem Landstraßenverbrauch von knapp über fünf Litern übrigens bis zu 490 Kilometer am Stück. Schnell hat er sich an das seitliche Kippmoment, Produkt der längsliegenden Kurbelwelle, gewöhnt sowie die erdig-lebendige Artikulation des Boxers als Ausdruck seiner Persönlichkeit akzeptiert. Mit etwas Sensibilität geführt, verwöhnt die BMW ihren Fahrer mit einem satten Fahrgefühl und einer angesichts des stattlichen Gewichts von 281 Kilogramm überraschenden Handlichkeit. Von weit geschwungenen Bögen bis zu fitzeligen Spitzkehren, die RT beherrscht das komplette Repertoire ohne steifbeinig oder kippelig zu wirken.
Trotz recht hoher ungefederter Massen an der Hinterhand Tribut an Kardan und Paralever-Momentabstützung möbelt die Dicke Straßenoberflächen jedweder Qualität. Jedenfalls solange man die Fuhre schön gleichmäßig auf Zug hält: Notorischen Gasgriff-Wringern zeigt der bajuwarische Launebär nämlich die Pranken. Beim abruptem Aufziehen verhärtet sich die Hinterradfederung trotz Paralever, während ruckartiges Gaswegnehmen die Front abtauchen lässt, so dass die RT sanft ihr per Telelever geführtes Haupt schüttelt. Gerade so, als ob sie sagen wollte: Gemach, Junge, mach mal locker.
Alles andere als locker geht es im MOTORRAD-Handling-Parcours zu. In diesem pylonengespickten Freiluft-Versuchslabor sind Agilität und Neutralität Trumpf, Lichtschranke und Stoppuhr Schiedsrichter. Keine leichte Übung für einen üppig verschalten Sechs-Zentner-Boliden, der noch dazu das Kardan-Handicap mit sich trägt. Nach kurzer Einschwingphase des Fahrers umrundet die RT die Hütchen dennoch angemessen flott und ohne Hinterhältigkeiten, verlangt allerdings nach weiten Bögen und flüssiger Rhythmik. Leider verhindert die vollintegral arbeitende Bremsanlage handlingförderndes Mitbremsen hinten am Umkehrpunkt, dadurch dauert die Wende dort etwas länger.
Oha, die Integralbremse. Beliebtes Diskussionsthema bei der RT. Serienmäßig an Bord, befähigt die aufwendige, elektrisch bremskraftverstärkte Anlage dank ABS selbst durchschnittlich Begabte zu kurzen, auch unter schwierigen Bedingungen angstfrei reproduzierbaren Bremswegen. Das plötzliche Ansprechen ist jedoch etwas gewöhnungsbedürftig. Obwohl BMW hier bereits nachgebessert hat, zeitigt bereits ein zarter Tritt auf den Fußhebel rabiate Wirkung. Nach einigen Versuchen verinnerlicht man die vollintegrale Chose und verzögert, weil besser dosierbar, nur mit der Hand und immer noch mit beiden Bremsen. Vor allem im Stadtverkehr nervend bleibt hingegen das Jaulen der beiden Elektromotoren, die den Bremsdruck verstärken. Probates Gegenmittel: das im Staufach untergebrachte Kassettenradio. Für 795 Euro Aufpreis schmettert es aus seinen beiden Frontlautsprechern wacker gegen die jaulenden Pumpen an. Und bei flotter Fahrt liefert die Soundmaschine Musik zum Film - vom Lenker aus einfach fernbedienbar.
Ebenso einfach funktioniert die Einstellung der dreistufig höhenverstellbaren Fahrerbank mittels eines Hebelmechanismus. Wem es gar nicht weit genug runter gehen kann, dem schieben die BMWler gern einen flacheren Sitz - ab Werk kostenlos, danach für 164 Euro - unter den Hintern. Insgesamt stellt die wandlungsfähige Bayerin damit Sitzhöhen zwischen 780 und 845 Millimetern zur Wahl. Vor allem Letztere lässt den Piloten fast endurogleich über dem Geschehen thronen. Lulatsche wirds freuen, denn hinter den hohen, nach hinten geschwungenen Lenkerhälften sind auch Menschen über 1,80 Metern herzlich willkommen.
Zudem nimmt die ausladende Verkleidung mit Flankenpolstern die unteren Extremitäten quasi saugend auf, nur wer auf ganz großem Fuß lebt, stößt mit den Stiefeln beim Schalten und Bremsen ans Plastik. Im Gegenzug werden selbst bei Sauwetter Schuhe wie Hose von aufgewirbelter Gischt verschont. Eine feine Sache sowohl im Stadtverkehr als auch auf langen Strecken. Ab Landstraßentempo leitet die Verkleidung mit integrierten Spiegeln und elektrisch verstellbarer Scheibe sogar - zarte - Regenschauer weitgehend am RT-Treiber vorbei, während die Heizgriffe, Aufpreis 180 Euro, ihren wärmenden Teil zum Wohlbefinden beisteuern. Für das Reisegepäck sind serienmäßig Koffer samt Gepäckbrücke im Programm. Hobbyspediteure können mittels Topcase für 270 Euro zusätzlichen Frachtraum ordern. Überdies bieten die Münchener unterschiedlich breit ausgeformte Kofferdeckel an, um das Fassungsvermögen zu variieren und die möglichen 214 Kilogramm Zuladung vollständig auszuschöpfen.
Kein schlechter Plan, bietet sich der Boxer-Tourer als idealer Passagierdampfer an. Nicht nur wegen des bequemen Soziusplatzes mit separatem Sitzpolster und tief angebrachten Rasten, sondern auch wegen seiner Fahrwerksqualitäten. Sogar mit voller Zuladung gibt die RT nämlich kein Stück ihrer Stabilität preis. Im Windschatten Vorausfahrender schnelle Autobahnkurven passieren, über Frostaufbrüche donnern oder einfach nur Geradeausfahren kein Problem, die BMW kanns. Und die Anpassung an Beladung ist fix erledigt: Federbasis per Hydraulik-Handrad anheben, Leuchtweite des Scheinwerfers mittels elektrischem Stellmotor einpegeln, fertig.
Die Leuchtkraft des mit serienmäßigem Nebelscheinwerfern ausgerüsteten Lichtspenders reicht, um Spätheimkehrern ordentlich heimzuleuchten. Nur bei Regenfahrten beschlägt das gute Stück hartnäckig. Ein Phänomen, das bereits bei vorherigen Testexemplaren auftrat, und kein gutes Licht auf die Qualitätssicherung wirft. Im übrigen ist die RT sauber verarbeitet und gefällt im Alltag mit soliden, praxisgerechten Detaillösungen vom Einschlüsselsystem der Koffer über das leichte Aufbocken bis hin zum kompletten Bordwerkzeug inklusive Reifenreparaturset. Falls der Launebär mal einen Nagel in der Tatze haben sollte.
Was sonst noch auffiel
PlusIntegralbremssystem mit ABS serienmäßigSitzhöhe, Handhebel und Verkleidungsscheibe verstellbarNiedrige Sitzbank ab Werk ohne AufpreisEinfache Anpassung an Beladung: Federbasis hydraulisch und Leuchtweite elektrisch per Handrad verstellbarUmfangreiches Zubehörangebot von höherer Scheibe über Topcase bis zum TempomatLeichtgängiges AufbockenGute Sicht in den vibrationsfrei montierten, integrierten SpiegelnLeichter Radwechsel hinten dank EinarmschwingeSerienmäßige Nebelscheinwerfer mit guter FahrbahnausleuchtungGroßer LenkeinschlagWarnblinkanlageMinusFummelige Verstellung der Zugstufendämpfung mit simpel gemachter Blechverlängerung des SchraubendrehersZum Öleinfüllen ist Trichter nötigBatterie schlecht zugänglichScheinwerferglas beschlägt nach RegenfahrtFahrwerkseinstellungFederbein: Federbasisverstellung solo 20 Klicks auf, mit Sozius 10 Klicks von maximaler Vorspannung auf; Zugstufe ¾ Umdrehung auf
So testet MOTORRAD - Ausstattung
MOTORRAD erklärt die einzelnen Kriterien der 1000-Punkte-Wertung (Teil 6)
Alufelgen, Tempomat, Sitzheizung, Klimaanlage die Liste der aufpreispflichtigen Extras ist bei Autos meist endlos. Bei Motorrädern bleibt dem Kunden meist nur die Farbwahl. Die Ausstattung ist mehr oder weniger üppig, aber - abgesehen von BMW selten individuell zu gestalten. Punkte vergibt MOTORRAD für alle relevanten Features, etwa für sinnvolle Einstellmöglichkeiten. Die einstellbare Federbasis oder Dämpfung an Gabel und Federbein wird mit je einem Punkt belohnt, macht also maximal sechs. Das gleiche gilt für einstellbare Armaturen, Lenker, Fußrasten und eine justierbare Verkleidungsscheibe. Mit je einem Punkt werden ebenso ein Drehzahlmesser, ein Zeituhr, ein Tripmaster oder die Warnblinkanlage honoriert. Eine Benzinuhr bringt gleich drei Punkte, eine Reservekontrolle nur einen. Gepäckhaken und ein Staufach verdienen sich maximal je zwei Punkte, ein Helmschloss einen weiteren. Der Hauptständer holt zwei Punkte, macht sich jedoch auch noch in Kriterien wie Wartungsfreundlichkeit positiv bemerkbar. Schließlich gibt es für gutes Werkzeug noch zwei Pünktchen, ebenso für eine Wegfahrsperre. Mitgezählt? Eine optimal ausgestattete Maschine kann im Bestfall 30 Punkte einheimsen. Die BMW R 1150 RT schafft immerhin 22 Punkte und liegt damit in diesem Kriterium im Spitzenfeld.
MOTORRAD-Messwerte - BMW R 1150 RT
MOTORRAD Messwerte²Bremsen und FahrdynamikBremsmessungBremsweg aus 100 km/h 40,2 Meter Mittlere Verzögerung 9,6 m/s² Bemerkungen: Starke Regelvorgänge des ABS beim harten Verzögern spürbar. Bremse über den Fußhebel sehr schlecht dosierbar.Handling-Parcours I (schneller Slalom)Beste Rundenzeit 22,6 sek Vmax am Messpunkt 85,0 km/h Bemerkungen: Federt bei extremen Schräglagenwechseln hinten schnell aus, geht zum Teil gegen Negativanschlag, so dass das Heck abhebt. Große Baubreite erschwert das Hindurchzirkeln, weite Bögen nötig. Großer Lenkeinschlag ermöglicht enge Bögen am Umkehrpunkt.Handling-Parcours II (langsamer Slalom)Beste Rundenzeit 29,4 sek Vmax am Messpunkt 52,1 km/h Bemerkungen: Abruptes Motorbremsmoment beim Gasschließen. Unruhen beim Umlegen und Gas-auf-Gas-zu, Kardanreaktionen, wegen Vollintegralsystem kein Mitbremsen hinten allein möglich, relativ handlich.Kreisbahn d 46MeterBeste Rundenzeit 11,6 sek Vmax im Messpunkt 50,5 km/h Bemerkungen: Nahezu kein Aufstellmoment; setzt bei forciertem Tempo mit Rasten, Ständer, Verkleidung und Zylinder auf
Fazit - BMW R 1150 RT
Die RT ist und bleibt eine feste Größe im Tourersegment. Auch wenn der derzeit stärkste 1150er-Boxer sich in Leistung und Laufkultur der erstarkten Konkurrenz beugen muss, das stabile, erstaunlich handliche Fahrwerk sowie die praxisgerechten Ausstattung inklusive Zubehörangebot überzeugen nach wie vor der Komfort für Pilot und Passagier sowieso.