Stuttgart-Barcelona. Hin fliegen, zurück fahren. Ein schlauer Plan von Honda. Macht mit kleinen, aber feinen Umwegen 1400 Kilometer retour nach Deutschland mit dem Inbegriff eines Supertourers, der Gold Wing. Mehr Leistung, Honda verspricht 119 PS und 167 Drehmoment, mehr Umweltverträglichkeit mit Hilfe von Einspritzung und G-Kat, mehr Sicherheit dank Verbundbremssystem sowie ABS und mehr Komfort und mehr Fahrspaß bitte auch noch, so lauteten die klaren Vorgaben für die Ingenieure rund um Gold-Wing-Projektleiter Aoki. Ob die Japaner alle Hausaufgaben gut gelöst haben? Die Rückreise nach Deutschland und der Top-Test werden es zeigen.
Erstaunlich, wie leicht die GL von ihrem Hauptständer gleitet und bei Bedarf wieder aufgebockt werden kann. Ebenfalls top: der wahrhaft üppige Stauraum. Das mit Zentralverriegelung ausgestattete Gepäcksystem bietet laut Honda fast 147 Liter Ladekapazität, in denen sich die Sporttasche und das Regenzeug des Testers beinahe verlieren. Schade, dass die Zuladung mit 200 Kilogramm begrenzt ist. Einen Kofferdeckel aus Versehen nicht richtig geschlossen? Kein Problem, im Multifunktionsdisplay leuchtet ein Warnhinweis auf. Überhaupt sehr bedienerfreundlich und übersichtlich gestaltet, diese Gold Wing.
Die Fülle der Schalter und Knöpfe verwirrt nur im ersten Moment, alles sitzt da, wo man es von einem »normalen« Motorrad kennt. Außer, dass die beiden Daumen mehr als gewöhnlich zu tun haben: der linke bedient bei Bedarf das Radio und den Bordfunk, der rechte den Rückwartsgang und den Tempomat. Trotzdem nett, dass es sich der freundliche Herr Aoki nicht nehmen lässt vor der Abfahrt noch eine kurze Einweisung zu geben. Wegen der technischen Feinheiten, kommentiert er. Wie die bei laufendem Motor per Hydraulik variierbare Federbasis. Zwei Einstellungen lassen sich individuell in einem schlauen Chip abspeichern – und bei Bedarf in Sekundenschnelle abrufen. Einfach per Knopfdruck wird auch der Rückwärtsgang eingelegt, hilfreich und notwendig bei einem Motorrad mit 402 Kilogramm Gewicht vollgetankt. Leerlauf einlegen, dann die Rückfahrhilfe vorwählen und mit dem Starterknopf aktivieren. So lässt sich das Dickschiff selbst in kniffeligen Situationen leicht rückwärts manövrieren.
Okay, los geht’s, alles klar, um auf der Honda von Spanien genussvoll nach Deutschland zu gleiten. Zunächst einmal ausschließlich über die Landstraße, von Barcelona immer an der Küste entlang nach Frankreich. Eine kurvenreiche Berg-und-Tal-Bahn mit sagenhaften Aussichtspunkten aufs Mittelmeer. Jetzt nur nichts überstürzen, erst mal langsam einrollen und sich an die monumentale Gold Wing gewöhnen. Ein paar Kurven weiter weicht der Respekt vor diesem Brocken – und der Fahrspaß beginnt. Der toll ansprechende Sechszylinder drückt die Honda auch in steilen Anstiegen mit frappierender Leichtigkeit vorwärts. Kunststück, denn bereits bei 1600/min liegen über 130 Newtonmeter Drehmoment an. Untermalt wird das Ganze von einem betörend-schönen Klang, der irgendwo zwischen Ami-V8 und Porsche-Sechszylinder liegt.
Getrübt wird dieses sinnliche Erlebnis lediglich vom blechern und reichlich bemüht klingenden RDS-Radio, zusätzliche Boxen im Heck kosten stolze 354 Mark Aufpreis. Also das Gedudel abschalten, lieber den Boxer-Sound und den vibrationsarmen Motor genießen – alle Vorurteile, über das Gold-Wing-Fahren existieren, fliegen wie von alleine über Bord.
So ein Ding taugt nur zum Geradeausfahren, wackelt durch Kurven wie ein Lämmerschwanz und setzt bei der minimalsten Schräglage brutal hart auf, so oder ähnlich äußern sich nicht wenige Kumpels aus der Sportfraktion über den Supertourer. Pah, Freunde, dann macht doch mal eine Probefahrt, über 100 freundliche Honda-Händler halten Vorführmaschinen parat. Und nehmt Eure bessere Hälfte gleich mit, die wird nämlich vom Sitzkomfort im Fond schlichtweg begeistert sein. Erst dann könnt Ihr mitreden. Doch Vorsicht, vielleicht wollt Ihr danach Euren Bausparvertrag kündigen, weil Ihr jetzt lieber in ein GL investiert – fast 50000 Mark Einstandspreis ist vermutlich noch das einzig Abschreckende nach der Probefahrt.
Es ist nämlich hoch erstaunlich, was Herr Aoki und Kollegen für ein Motorrad auf die Räder gestellt haben, wie geschickt die gewaltige Masse im Fahrbetrieb kaschiert wird. Das Handling ist für einen Supertourer dieser Gewichtsklasse überdurchschnittlich. Leicht und ohne großen Kraftaufwand lassen sich Schräglagenwechseln einleiten, wobei es sich von selbst versteht, dass die Honda nicht in Sportmanier von einer Kurve in die nächste gedroschen werden möchte. Sie bevorzugt einen vorausschauenden, runden Fahrstil mit konstantem Zug am Hinterrad, störende Reaktionen des Kardanantriebs machen sich nicht bemerkbar. Das Dickschiff glänzt mit einem weitgehend neutralen Lenkverhalten und einer überraschend großen Schräglagenfreiheit. Sogar in ganz engen Kehren bleibt sie konstant auf Kurs und nervt nicht mit ausgeprägtem Eigenlenken. Doch auch in schnelleren Kurven überzeugt die Zielgenauigkeit, wie auch die Stabilität. Erst in schnellen und welligen Autobahnkurven über 160 km/h macht sich ein leichtes Rühren bemerkbar. Tempi, die ihre Vorgängerin, die GL 1500, schon gerne in bedenkliches Schlingern versetzten. Dafür fährt die reichlich unterdämpfte »Alte« über Holperstrecken deutlich komfortabler. Die straffer abgestimmte GL 1800 reagiert auf Schläge und Fahrbahnkanten nicht so sensibel, was auch an den speziell entwickelten Bridgestone-Reifen liegt. Wegen des enormen Gewichts der Gold Wing und den deutlich besseren Fahrleistungen blieb den Reifenentwicklern keine andere Wahl, als einen Vorderreifen mit einer besonders steifen Karkass-Konstruktion zu wählen. Dicker Pluspunkt der GL 1800: Das Verbundbremssystem sorgt zusammen mit einem fein regelnden ABS für eine gute und fadingfreie Verzögerung, allerdings erfordert die Bremse sehr hohe Handkräfte. Für effektives Abbremsen ist zudem der Einsatz der Fußbremse unerlässlich, da bei der Honda-Verbundbremse nicht alle Kolben von Vorder- und Hinterrad mit dem Handbremshebel betätigt werden. Sehr segensreich, weil stabilisierend wirkt beim Bremsen das mechanisch-hydraulische, über den linken Bremssattel aktivierte Anti-Dive-System der Gabel.
»Reisen statt Rasen«, so lautet das Motto der Gold- Wing-Gemeinde. Und das ist gut so. Denn bereits bei Tempo 160 gönnt sich der Sechszylinder gut neun Liter pro 100 Kilometer, was die Reichweite trotz des 25-Liter-Tanks arg einschränkt. Also lieber den Tempomat bei rund 130 km/h aktivieren, was Etappen von über 320 Kilometern und somit insgesamt ein schnelles Vorankommen ermöglicht.
Zumal der GL-Treiber so selten ein Pause einlegen muss wie wohl kein anderer Zweiradfahrer. Das Resümee nach gut zwölf Stunden reiner Fahrzeit, nur unterbrochen von Tankstopps: Der Allerwerteste schmerzt nicht, die Kniekehlen zwicken nicht, der Fahrer ist putzmunter. Der Komfort dürfte gar als traumhaft bezeichnet werden, wäre da nicht die Sache mit der Verkleidungsscheibe. Sie schützt zwar äußerst effektiv vor dem Winddruck, gleichzeitig erzeugt sie aber einen Unterdruck, der zu Verwirbelungen im Nacken und am Rücken des Fahrers führt. Auf Dauer ist das sehr unangenehm, vor allem bei kalten Temperaturen, ebenso wie die fehlenden serienmäßigen Heizgriffe. Bei einem Grundpreis von knapp 48000 Mark sollten die eigentlich drin sein, genau wie eine elektrisch betätigte Scheibe. Der von Hand verstellbare Windschutz wirkt geradezu wie ein Provisorium.
Vielleicht hat man ja ganz bewusst daran festgehalten. Um sich traditionsbewusst zu geben. Oder weil die vielen Gold Wing-Fans, die einen Umstieg auf die GL 1800 planen, sich schon lange mit der fummeligen Verstellung der Scheibe arrangiert haben – und ihnen sonst etwas fehlen würde.
Fazit
Die Gold Wing ist die »Königin der Supertourer«, da hat Honda nicht übertrieben. Ohne mit der GL-Traditon zu brechen oder ihr den Charakter zu nehmen, verbesserten die Japaner ihr Flaggschiff in allen Belangen. Das alles hat allerdings auch seinen Preis: Knapp 48000 Mark sind wirklich kein Pappenstiel.
War sonst noch was?
Plus0 Wirksame Motorschutzbügel0 ABS mit feiner Regelung und schneller Reaktion bei Reibwertsprüngen0 Relativ einfaches Wenden und Rangieren auf engem Raum0 Praktische, zentrale Bedienung des Gepäcksystems0 Warnanzeige bei nicht geschlossenem Gepäcksystem 0 Geringes Aufstellmoment beim Bremsen in Schräglage0 Stabiles Bremsverhalten durch geringes Eintauchen der Gabel (Anti-Dive-System) Minus0 Primitive, umständliche Höhenjustierung der Frontscheibe0 Harte Reifenkarkasse am Voderrad mit sehr wenig Eigendämpfung0 Störender Luftzug im Rücken und Nackenbereich0 Bei schnellen Schaltvorgänge springen gelegentlich die Gänge heraus 0 Warmluftschacht im Fußbereich mit wenig Wirkung0 Keine serienmäßige Griffheizung0 Radausbau und Wartungsarbeiten durch Verkleidungen erschwert0 Deutliche Geräusche und Vibrationen aus dem Antrieb ab Tempo 160FahrwerkseinstellungKeine Einstellmöglichkeiten vorn; hinten auch im Solobetrieb mit Vorspannung 20 guter Komfort und Bodenfreiheit, im Soziusbetrieb Position 25, im Stadtverkehr mit geringster Vorspannung für bessere Rangierbarkeit durch die um 15 mm geringere Sitzhöhe.MOTORRAD-Messwerte Bremsen und FahrdynamikBremsmessung Bremsmessung aus 100 km/h 41,1 m Mittlere Bremsverzögerung 9,4 m/s2Bemerkungen: Stabiles Bremsverhalten durch Anti-Dive-System. Gutes Ansprechverhalten, jedoch hohe Bedienkräfte bei Vollbremsung notwendig. ABS mit feiner Regelung.Handling-Parcours I.Beste Rundenzeit 25,7 sVmax. am Messpunkt 71,2 km/hBemerkungen: Für diese Gewichtsklasse erstaunlich geringe Lenkkräfte und ausreichende Schräglagenfreiheit. Insgesamt unproblematisches Fahrverhalten.Handling-Parcours II.Beste Rundenzeit 35,5 sVmax am Messpunkt 41,4 km/hBemerkungen: auch im engen Slalom stabiles, berechenbares Kurvenverhalten, hier stört jedoch die eingeschränkte Schräglagenfreiheit, Sturzbügel setzen hart auf.Kreisbahn 0 46 mBeste Rundenzeit 13,6 sVmax am Messpunkt 44,6 km/hBemerkungen: Konzept bedingt eingeschränkte Schräglagenfreiheit, aber gutmütiges Kurvenverhalten mit leichtem Untersteuern. Alle Fahrversuche wurden mit maximaler Vorspannung gefahren, um Schräglagenfreiheit und Handlichkeit zu erhöhen.