Japan. Wo bleibt Japan? Diese klassische Frage des unvergessenen Sportreporters Bruno Moravetz hängt in der dünnen Luft über den Kehren des Stilfser Jochs. England stürmt mit der extrovertierten Speed Triple bergan, Italien ist gleich mit drei Vertreterinnen im Big-Bike-Rennen.
That’s it. Japan findet nicht statt. Jedenfalls nicht in diesem Feld der großen Nackten. Japan hat in diesem Jahr nichts Neues zu bieten. Und bevor das jetzt jemand in den falschen Hals bekommt: Nein, auch MOTORRAD hat die Diavel nicht mitgenommen, weil sie eine Anwärterin auf den Gruppensieg wäre. Der Grund ist vielmehr ihre multiple Persönlichkeit, die in diesem speziellen Umfeld reichlich Spannung verspricht.Schon die Vorhersagen darüber, wie sich das Flacheisen auf diesem Kehrenmarathon anfühlen wird, liegen um Welten auseinander. Die Diavel am Stilfser Joch – das ist ein intensives Erlebnis. Wer unten aufsteigt, möchte oben nicht mehr absteigen. Dazwischen liegt beinahe alles, was man auf einem Motorrad erleben kann.
Erstens: die Angst vorm Einstieg in den Pass. Das Ding sieht aus wie ein Cruiser, hat einen mächtigen 240er-Hinterreifen wie ein Cruiser, hört sich an wie ein heiß gemachter Cruiser. Warum, bitte schön, soll es nicht auch fahren wie einer?
Zweitens: eindeutig Respekt, gemischt mit einem Anflug von Genuss. Heia, hier geht was. Ganz egal, wie steil es bergan geht. Kein Wunder, schließlich schickt der Desmo-Twin selbst unterhalb von 3000/min locker 90 Newtonmeter auf die Kurbelwelle. Er schiebt das Trumm an, als gäbe es kein Morgen, hat mit gut 240 Kilogramm Lebendgewicht leichtes Spiel.
Drittens? Überraschung! Hoppla, das bremst ja! Eigentlich kein Wunder, angesichts der Brembo-Superbike-Stopper aus der 1198, kombiniert mit der entsprechenden ABS-Technologie und einer stabilen und fein ansprechenden Upside-down-Gabel sowie 1590 Millimetern Radstand, die selbst auf der steilsten Rampe das Hinterrad am Boden halten.
Viertens? Erstaunen! Sapperlot, das lenkt ja richtig ein. Die Diavel scheitert in den engen Joch-Radien weder an einer zu flach stehenden Gabel, noch an eigentümlichem Einlenkverhalten oder mangelnder Schräglagenfreiheit. Selbst ihr 240er-Hinterradreifen ist dank des verhaltenen 45er-Querschnitts kein so großes Handicap, wie man anhand seiner Breite vermuten würde. Natürlich klappt sie damit nicht so neutral und einfach ab wie ihre Naked-Bike-Konkurrenz. Größer ist jedoch ein ganz anderes Problem.
Nämlich fünftens: Es braucht trotz aller Qualitäten lange Arme und entsprechenden Einsatz, um den breiten Lenker in den spitzen Kehren sicher zu führen. Wer dazu bereit ist, wird nach vorne nicht den Anschluss verlieren. Und freut sich sechstens diebisch daran, immer wieder den erstaunten Blick des Vordermanns in den Rückspiegel zu beobachten. Auch nach 48 Kehren noch.
Den des Aprilia-Fahrers zum Beispiel, denn die junge Wilde aus Noale steht bei manchem weit oben auf der Favoritenliste. Ihr formidables Handling und die überragenden Fahrwerksqualitäten, in zahlreichen Tests unter Beweis gestellt, sollten in Kombination mit der aktiven Sitzposition und dem starken Motor auch hier im Kehrendickicht überzeugen. Vielleicht nicht, wenn es darum geht, möglichst gemütlich auf das Joch zu kommen, denn eine gesunde Härte ist vor allem dem Federbein nicht abzusprechen. Aber spätestens dann, wenn es ganz schnell gehen soll.
Doch daraus wird nichts. Oder besser: nicht so ohne Weiteres. Denn obgleich die Tuono ihr Fahrwerksversprechen voll und ganz einlöste und sowohl in den engen Kehren der Ost- als auch im weitläufigeren Geläuf der West-Rampe praktisch in jedem Fahrwerkskriterium den Maßstab setzt, schleppt sie ein Riesenmalheur mit auf das Joch, das unter normalen Testbedingungen so deutlich nicht auffiel. Es ist die beinahe an Leistungsverweigerung grenzende Unwilligkeit, mit welcher der Hochleistungs-V4 Mann und Maschine buchstäblich aus den Kehren quält. Die Folge: Der eilige Reiter lässt die Kupplung schleifen, fegt mit Hochdrehzahl aus der Kehre.
Das erinnert an selige Klasse-IV-Zeiten, ist einer 1000er unwürdig. Und es ist angesichts des ohnehin mächtig lauten V4 nicht nur ein pubertäres, sondern auf die Dauer auch anstrengendes Vergnügen.
Nur gut, dass die Tuono in der APRC-Version über eine tadellos funktionierende Traktionskontrolle verfügt. Sonst könnte eine allzu eilige Kupplungshand hier, wo auf der einen Seite die Wand und auf der anderen der Abgrund lauert, schnell zu schmerzhaften und teuren Folgen führen. Nein, in Alpenkehren wurde die Tuono nicht entwickelt. Kein Wunder also, dass diese Schwäche zusammen mit den vielen anderen, die den touristischen Aspekt betreffen (siehe Punktewertung Seite 34), zum frühen Ausscheiden der Quasi-Sportlerin führt. Und bei den beiden verbleibenden Kandidatinnen begründete Hoffnungen auf den Gesamtsieg nährt.
Jawohl, Sie haben richtig gelesen. MV Agusta Brutale 920 – und begründete Hoffnungen auf den Gesamtsieg. Mindestens ebenso überraschend wie die maue Vorstellung der Aprilia-V4 ist nämlich der engagierte Auftritt, den die "kleine" Brutale mit "nur" rund 130 PS in den bröckeligen Joch-Asphalt stampft. Allein der Antritt, mit dem ihr Reihenvierer die 213 Kilogramm leichte MV aus den Kehren drückt, hat eine ganz andere Qualität als das kupplungsmordende Tuono-Gewürge. Bis auf einen kleinen, im Fahrbetrieb kaum zu spürenden Einbruch bei 3500/min marschiert der "kleine" Brutale-Motor vorbildlich durchs Drehzahlband, krankt einzig an der schon MV-typischen verzögerten Gasannahme, die am spitzen Scheitel der spitzen Kehren so lange für Verdruss sorgt, bis man das optimale Timing gefunden hat. Der wohlproportionierte Rest jedoch – alle Achtung! Auch die kleine 920er profitiert dabei entscheidend von der neuerdings in Varese üblichen komfortablen Fahrwerksabstimmung mit feinem Ansprechverhalten, die im Gegenzug mit zwei Personen und Gepäck auch schnell an die Grenzen ihrer Federelemente stößt. Aber dauerhaft wird man die zweite Reihe hier, auf dem engen und holperigen Terrain, ohnehin niemandem zumuten wollen. Im Einpersonenbetrieb jedoch schnurrt die 920 geschmeidig und ohne große Kraftanstrengung bergan, gibt kaum Anlass zur Kritik, ist erstaunlich unkompliziert. Wenn überhaupt, gibt es Klagen über die Ergonomie: Es ist nicht viel Platz auf der Brutale, die Fußrasten sind rutschig und kurz, der knappe Lenkeinschlag macht das Wenden schwer, und ein ABS fehlt ganz. Gerade der letzte Punkt setzt ihr punktemäßig gehörig zu.
Unter dem Strich kommt also, was kommen musste. Die Big-Bike-Krone geht trotz knappen Einlaufs an eine, die das Siegen gewohnt ist. Einfach, weil sie sich trotz des extrovertierten Äußeren kaum eine Schwäche leistet. Der famose Speed-Triple-Motor schiebt bis 7000/min auf dem bärigen Niveau des Ducati-Twins, entfaltet seine Leistung vorbildlich linear und spuckt die Britin förmlich aus den Kehren. Das Fahrwerk ist über die Jahre härter und präziser geworden, vermittelt aber immer noch jene Portion Restkomfort, die unbedingt notwendig ist, um hier zu bestehen. Die Speed Triple bietet Groß wie Klein einen angenehmen Fahrerplatz, hat eine umfangreiche Ausstattung, genügend Reichweite und neuerdings ein ABS an Bord. Was sie nicht mehr hat, ist die Geschmeidigkeit, mit der die Vorgängerin ans Gas ging. Trotzdem ist sie eine würdige Vertreterin ihrer Klasse im Finale. Auch ganz ohne Japan. God save the Queen!
Weitere Power-Bikes im Test: BMW S 1000 RR, Kawasaki ZZR 1400 und Yamaha Vmax
Fazit Big Bikes
Gargolov
Auch 2011 hat die Speed Triple beim Alpen-Masters in ihrer Gruppe die Nase vorn.
Ein Favoritensieg, ganz klar. Seit Jahren beißen sich die Gegner an der Speed Triple die Zähne aus. Weil diese Kombination aus charak-
teristischem Dreizylinder, extrovertiertem Auftritt und absoluter Alltagstauglichkeit schwer zu knacken ist. Auf den Plätzen dann jede Menge Überraschungen. Die Aprilia erstaunt mit einem Anti-Kehren-Motor, die MV mit ihrer Umgänglichkeit. Die größte Überraschung aber ist das Fahrvergnügen, das eine Ducati Diavel selbst auf diesem Geläuf bereitet. Hut ab!