Nur noch ein gutes Vierteljahr Zeit bis zum ersten Grand Prix und weit und breit noch nichts zu sehen vom Einsatzmotor für die neue Saison. Vollkatastrophe? Nein, nur der, fast möchte man sagen "Normalzustand" für die 25 Teams auf der momentan gültigen Teilnehmerliste der neu geschaffenen Moto2-WM, der Nachfolgeklasse der bisherigen 250er.
Der 600-cm3-Reihenvierzylinder-Einheitsmotor von Honda wird erst bei den offiziellen Testfahrten auf der spanischen GP-Strecke Valencia am 1. März 2010, genau sechs Wochen vor dem Saisonstart in Qatar, das Licht der Öffentlichkeit erblicken.
So musste sich die inzwischen auf ein gutes Dutzend angewachsene Schar an Fahrwerksanbietern in der neuen Klasse mit mehr oder weniger serienmäßigen Honda-CBR-600-Triebwerken behelfen, die zumindest von außen, vor allem aber in den Motoraufhängungspunkten mit dem späteren Rennaggregat identisch sind.
Das junge deutsche High-Tech-Labor Kalex aus dem schwäbischen Bobingen entschied sich in der Entwicklungs- und Testphase für einen Ten-Kate-Honda-Kit-Motor, wie er auch in der Supersport-WM verwendet wird. "Wir gehen davon aus, dass der endgültige Rennmotor relativ nah an dieses Aggregat herankommen wird", erläutert Kalex-Mitbesitzer Alex Baumgärtel diese Wahl.
Ein größerer Unterschied als beim Motor sollte sich gegenüber den seriennahen Supersport-Maschinen beim Fahrverhalten ergeben. Zum einem, weil die Moto2-Geräte 135 Kilogramm leicht sein dürfen, denen die Kalex schon im frühen Entwicklungsstadium mit 139 Kilogramm recht nahe kommt, während ein Supersport-Renner mindestens 158 Kilo mit sich schleppen muss. Dazu kommt, dass es sich bei Moto2-Maschinen wie der Kalex um reinrassige Rennfahrwerke handelt.
Schon die ersten Runden mit dem schwäbischen High-Tech-Renner im spanischen Almeria bestätigen die hohen Erwartungen. Für ein völlig neues Motorad mit derart wenigen Entwicklungskilometern - vor der Präsentation und den ersten Tests im Anschluss an das MotoGP-Finale Anfang November in Valencia rollte die Kalex keinen Meter - lässt sich die schwarze Schönheit mit unglaublicher, messerscharfer Präzsision einlenken. Dies ist umso bemerkenswerter, als von verschiedenen Testfahrern anderer neuer Moto2-Projekte des öfteren eher kurvenunwilliges Einlenkverhalten und gar Chattering festgestellt wurde.
Erreicht wird das lobenswerte Fahrverhalten durch eine auf den ersten Blick recht unkoventionelle Gesamtkonzeption des Chassis. Die Kalex-Väter Baumgärtel und Hirsekorn lassen sich zwar nicht gern in die Karten schauen, erkennbar ist dennoch der vergleichsweise massive Vorderbau des Aluminium-Brückrahmens, vor allem im Bereich zwischen Lenkkopf und oberem Motorhaltepunkt. Konstrukteur Baumgärtel erreichte damit im Einklang mit einer eben-falls sehr eigenwilligen Auslegung der vorderen Fahrwerksgeometrie, über die er auch nicht so gern ins Detail geht, offensichtlich eine hervorragende Balance zwischen Bremsstabilität, Einlenkverhalten und Rückmeldung an den Fahrer.
Die Öhlins-SGR-900-Gabel in Verbindung mit dem TTX36-Federbein des gleichen Herstellers gehört auch in der neuen WM-Klasse zum feinen Standard, ebenso die Brembo-Monobloc-Vorderradbremse. Mit der speziellen Kalex-Fahrwerksphilosophie verwachsen sie zur hervorragenden Symbiose, sodass brachiale Bremsmanöver leicht von den Fingern gehen.
Die Anti-Hooping-Kupplung, pikanterweise aus der Produktion des Schweizers Eskil Suter, der mit einem eigenen Moto2-Fahrwerk in der Weltmeisterschaft in Konkurrenz zu Kalex stehen wird, stand unter seriösen Testbedingungen in Almeria erstmals zur Verfügung und fügte sich gleich bestens in das Kalex-Gesamtpaket ein. Sie sorgt vor allem vor der Kurve an der bis dahin noch eher unruhigen Hinterhand für erfreuliche Ruhe.
Auch die im Drehpunkt verstellbare Hinterradschwinge kommt gemäß der Kalex-Grundidee eher massiv daher, was natürlich der Stabilität des Fahrzeugs zuträglich ist.
Eine Besonderheit im Bereich der Schwinge entsprang dem Kalex-Streben nach Minimierung jeglicher Toleranzen. Entscheidende Teile der Federbein-Umlenkung wurden aus Titan gefertigt, das sich bei hohen Temperaturen sehr wenig ausdehnt. Damit erreichen die Kalex-Entwickler, dass das Fahrverhalten im heißen Rennbetrieb weitgehend konstant bleibt.
Dies alles hilft auch dem ambitionierten Hobby-Rennstreckenfahrer, mit ansonsten nicht selbstverständlicher Präzision Rundenzeiten am persönlichen Limit in regelmäßiger Folge zu reproduzieren. Innerhalb kürzester Zeit fühlt sich der Pilot auf dem völlig neuen Gerät zu Hause, und die Arbeit geht mit außergewöhnlicher Leichtigkeit von der Hand. Obwohl die Kalex als kompromissloser Sprint-Racer konzipiert ist, erwischt sich der Testfahrer mit durchaus erwähnenswerter Erfahrung im Langstreckenrennsport bei dem Wunsch, mit einem derartigen Gerät doch auch mal auf die Gegner in der Endurance-Welt loszugehen.
Dass die Kalex Moto2 insgesamt einen ziemlich durchdachten Eindruck hinterlässt, ist eher erstaunlich angesichts der Tatsache, dass die beiden Ingenieure Baumgärtel und Hirsekorn davor überhaupt erst ein einziges Motorrad auf die Räder gestellt haben: 2007 die Kalex AV1, angetrieben von einem 1000-cm3-Rotax-Twin aus der Aprilia RSV mille arbeitet. Ihre grundsätzlichen Kenntnisse jedoch verschafften sie sich in jahrelanger Arbeit im Automobilsport, etwa im Opel-Calibra-DTM-Projekt und oder bei der Wüsten-Rallye-Truppe von VW.
"Privat waren Klaus im nationalen Serienrennsport und ich als Moto Crosser allerdings immer Motorrad-Freaks", erläutert Alex Baumgärtel. Ganz offensichtlich reichte diese Motorrad-Affinität der beiden Kalex-Gründer aus, um Fehler zu vermeiden, die sich in jüngerer Vergangenheit nicht selten offenbarten, wenn sich hochdekorierte und erfahrene Automobil-Techniker an der Fahrdynamik eines motorisierten Zweirads versucht haben und wenig erfolgreich waren.
Durchaus positiv wirkt sich allerdings die aus dem Vierradbereich kommende Erfahrung des Kalex-Duos in Sachen Kohlefaserverarbeitung aus. Sämtliche Carbonteile am Motorrad zusammen gerechnet, angefangen beim selbsttragenden Rahmenheck über die Tankabdeckung, Radabdeckungen bis zum Airbox-Kanal, wiegen gerade mal 3,5 Kilogramm.
Der zweite Aufschlag aus Bobingen hat also wirklich das Zeug, auch den bislang etablierteren Konkurrenten in der neuen Moto2-Welt den einen oder anderen Schreckensmoment zu besorgen.