Die zwei Testbikes Moto Morini Calibro und Royal Enfield Shotgun 650 konzentrieren sich auf das Wesentliche und versprühen dabei eine gehörige Portion Lässigkeit und Coolness. Das fängt schon beim Draufsetzen an. Die Haltung auf der Moto Morini Calibro fällt Cruiser-typisch lässig aus, ohne dabei nervig verkrampft zu sein. Der Lenker ist breit und nicht zu hoch, die Rasten liegen nicht zu weit vorn. Mittels Zubehör lassen sich diese sogar um rund zehn Zentimeter nach hinten versetzen, was die Sitzposition aktiver gestaltet, dafür aber vor allem langen Beinen aufgrund der niedrigen Sitzhöhe von 760 mm einen eher unangenehmen Kniewinkel abverlangen dürfte.
Aktivere Haltung auf Royal Enfield Shotgun 650
Aktiver fällt die Körperhaltung auf der Royal Enfield Shotgun 650 aus. Ihre Rasten sind ab Werk eher mittig positioniert, der Hintern thront in 790 mm Höhe über dem Erdboden. Dadurch sitzt der Fahrer zwar noch nicht wie auf einem Naked Bike, aber eben auch nicht wie auf einem Cruiser. So richtig passen will die Shotgun nicht in Kategorie-geprägte Ergonomie-Dreiecke.
Moto Morini Calibro: 69 PS bei 9.500/min
Dafür passt der Motor – und das nicht nur optisch. Der luft-/ölgekühlte 648-Kubik-Zweizylinder fügt sich harmonisch in das Retro-Kleid der Shotgun und treibt diese mit angenehmer Gelassenheit an. Kurz vor dem Begrenzer galoppieren 50 Pferde bei 7.400/min auf – völlig ausreichend für Lässigkeit auf der Landstraße. Die Royal Enfield Shotgun 650 spricht äußerst gutmütig an, geht sanft ans Gas und stört die entspannte Cruiserei nicht mit harschem Lastwechselverhalten. Wäre da nicht die Moto Morini Calibro, stechen bei der Royal Enfield einzig die Vibrationen, die das Triebwerk bei höherem Drehzahlniveau an den Fahrer weitergibt, negativ heraus.
Im direkten Vergleich allerdings überzeugt die Calibro mit einer satten Portion Vortrieb und Spritzigkeit. Aus ihren 693 Kubik verteilt auf zwei Zylinder holt das chinesisch-italienische Fabrikat gut 69 PS bei 9.500/min und dreht bis knapp über den fünfstelligen Bereich weiter. So viel Drehfreude ist bei einem Cruiser fast schon fehl am Platz, macht aber fahrdynamisch einen Heidenspaß. Bei dem Powerplus wundert es nicht, dass die Calibro die Shotgun im Hinblick auf Beschleunigung, Durchzug und Topspeed in die Tasche steckt. Dabei geht der wassergekühlte Antrieb der Chinalienerin etwas härter ans Gas als das Bike aus Indien.
Royal Enfield Shotgun mit einstellbarem Bremshebel
Auf verschiedene Fahrmodi oder elektronische Assistenzsysteme wie Traktionskontrolle verzichten beide Motorräder. Nicht, dass man das in irgendeiner Form vermissen würde. Ganz im Gegenteil: Denn wie eingangs erwähnt, liegt gerade im Verzicht auf Unnötiges der Schlüssel zur Coolness.
Die Getriebe flutschen bei beiden Motorrädern recht geschmeidig, mit einem kleinen Vorteil für die Moto Morini Calibro. Die Enfield schießt bei der Leerlaufsuche schon mal über das Ziel hinaus und landet im zweiten Gang. Beide Kupplungen liegen beim Thema benötigte Handkraft im soliden Mittelfeld. Alles kein Problem, aber auf langen Touren kann die linke Hand schon mal müde werden. Pluspunkt für die Royal Enfield Shotgun 650: Sowohl Kupplungs- als auch Bremshebel sind einstellbar. Die Moto Morini setzt auf Einheitsgrößen.
Bessere Dosierbarkeit der Bremse auf der Calibro
Apropos Bremsen: Beide Maschinen entschleunigen auf solidem, aber nicht hervorragendem Niveau und setzen dafür auf Hardware von Brembo-Tochterunternehmen. Im Falle der Royal Enfield verzögern ByBre-Bremsen, die Moto Morini Calibro kommt mittels J.Juan-Stoppern zum Stehen. Vorn nutzen beide jeweils eine 320er-Scheibe mit Zwei-Kolben-Schwimmsattel. Hinten verlangsamt die Moto Morini eine 255er-Scheibe mit Ein-Kolben-Zange, an der Royal Enfield Shotgun 650 ist eine mächtige 300er-Scheibe mit Doppelkolben-Schwimmsattel verbaut.
Die Bremswirkung beim Tritt aufs Pedal fällt dementsprechend hoch aus. So hoch, dass man fast vermuten könnte, die Vorderradbremse würde mit betätigt – wird sie aber nicht. Wer beim Kurvenfahren gerne hinten mitbremst, braucht bei der Shotgun einen feinfühligen rechten Fuß. Insgesamt lässt sich die Bremse der Calibro etwas besser dosieren als die der Shotgun. Meister der Stabilität auf der Bremse sind beide nicht und die Inderin neigt in Schräglage etwas mehr dazu, sich aufzustellen.
Shotgun handlich und unkompliziert in den Kurven
Arg schräge Kurvenhatz erlauben die beiden Cruiser aber ohnehin nicht. Wer Angst vor Schräglage hat, ist mit der Moto Morini Calibro gut beraten. Die setzt mit ihren Rasten so früh auf, dass selbst Fahranfänger ihre Komfortzone nur minimal verlassen müssen, bis die Funken über den Asphalt sprühen. Etwas mehr Reserven bietet die Royal Enfield Shotgun 650, aber auch bei ihr ist recht früh Schluss mit Abwinkeln.
Dazu muss man die Shotgun fast schon zwingen. Sie verlangt recht deutliche Lenkimpulse, um eine Kurvenfahrt einzuläuten. Und auch danach will sie mit Gegenlenken in der Spur gehalten werden, der sie dann aber stabil folgt. Viel leichter macht es einem da die Calibro. Die winkelt agil ab, fällt förmlich in Schräglage und wieselt handlich und unkompliziert um die Kurven – jedenfalls bis wie beschrieben die schleifenden Rasten der flotten Kurvenjagd ein jähes Ende bereiten.
Enfield mit Upside-down-Gabel
Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so wirkt, die Federelemente im Heck der Moto Morini Calibro bieten mit 100 mm Arbeitsweg mehr Reserven als die der Royal Enfield mit 90 mm. Dadurch fährt die Calibro komfortabler, woran zudem die gut gepolsterte Sitzbank ihren Anteil hat. Die Shotgun hingegen punktet mit ihrer Upside-down-Gabel, die ihre Front komfortabler federt und dämpft als die Telegabel der Calibro.
Auf der Moto Morini hat ein Sozuis keine Freude beim Mitfahren. Der Kniewinkel ist derart spitz, Haltemöglichkeiten so unzureichend vorhanden und das Sitzmöbel so spartanisch ausgelegt, dass selbst kurze Strecken zur Tortur verkommen. Der Soziussitz auf der Royal Enfield Shotgun 650 lässt sich mit ein paar Handgriffen entfernen – Reduktion auf das Nötigste eben. Aber selbst ohne den zweiten Sitzplatz fällt der Kniewinkel schon deutlich angenehmer aus.
Beide Cruiser setzen auf analoge Instrumente
Beim Cockpit üben sich beide Motorräder in Verzicht und bieten nur die nötigsten Informationen – was alles andere als schlecht ist. Beide setzen teilweise auf analoge Instrumente. Die Royal Enfield Shotgun 650 lässt den Fahrer per Zeiger die aktuelle Geschwindigkeit wissen, bei der Moto Morini Calibro gibt die Nadel das Drehzahlniveau an. Das wiederum muss man bei der Shotgun im Gespür haben – eine Anzeige für die Drehzahl gibt es bei der Inderin nicht.
Dafür aber ein zweites, digitales TFT-Runddisplay, welches gekoppelt mit der Royal-Enfield-App etwa Navigation mit Richtungspfeilen anzeigt. Die Digitalanzeige der Calibro, die über Tempo, den eingelegten Gang, Gesamt- und Tageskilometer informiert, scheint für Nachtfahrten konzipiert zu sein. Bei Tageslicht ist sie nur schwer ablesbar. Das macht die Shotgun mit ihrem LC-Display deutlich besser und zeigt dort zusätzlich die Uhrzeit an.
Moto Morini Calibro für 7.399 Euro
Besser fällt auch ihre Verarbeitung aus, mit überlackierten Stickern am Tank und vielen Teilen aus Metall. Die machen sie allerdings mit 236 kg auch 17 Kilo schwerer als die Moto Morini Claibro, die sich abgesehen von etwas grobschlächtigen Schweißnähten in Bezug auf Verarbeitung keinen Vorwurf gefallen lassen muss.
Trotz mehr Hubraum und höherer Leistung genehmigt sich die Calibro mit 3,4 l/100 km etwas weniger Sprit als die Shotgun, die auf gleicher Strecke 3,7 Liter schluckt. Auch in der Anschaffung ist die Moto Morini mit einem Preis von 7.399 Euro günstiger als die Royal Enfield Shotgun 650, die ab 7.590 Euro den Besitzer wechselt. Dafür schont Letztere den Geldbeutel mit längeren Serviceintervallen.