Aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten sind wir verrückte Ideen gewohnt – die Amis ticken eben etwas anders. Als die Promoter der US-amerikanischen Superbikemeisterschaft (kurz: AMA) aus einer Bierlaune heraus vor drei Jahren jedoch ein Dutzend gigantische Bagger von Harley-Davidson und Indian in Laguna Seca zu einem Showrennen versammelten, da hat sich jeder Rennsportverrückte zu Recht gedacht: "Die haben doch den Schuss nicht gehört. Das braucht doch keine Sau!"
An Irrwitz und Spektakel kaum zu überbieten
Doch die Kritik verstummte im Nu: Das Rennen war an Irrwitz und Spektakel kaum zu überbieten, bot Rennsport vom Allerfeinsten, gewürzt mit einer gewaltigen Prise Beklopptheit, die im modernen Racing leider immer mehr zu kurz kommt. Durch den riesigen medialen Erfolg wurde aus dem eigentlichen "Once in a lifetime event" die King-of-the-Baggers-Meisterschaft, die mitlerweile bis weit über den Großen Teich hinaus für Begeisterung sorgt. Rollten 2020 zum Auftakt noch leicht überarbeitete Serien-Bagger an die Startlinie, schicken Harley-Davidson und Indian per Werkseinsatz jetzt Motorräder zu den Rennen, die vor allem eins sind: angsteinflößend.
Challenger RR – brutales und rohes Rennmotorrad
Indians "Weapon of choice" ist die von S&S Cycles aufgebaute Challenger RR, deren Basis der gleichnamige Cruiser ist. Doch, liebe Sportsfreunde: Die RR hat, bis auf den Rahmen, nichts mit ihrer meilenfressenden Schwester gemein. Hier steht ein brutales und rohes Rennmotorrad, dessen reine Präsenz schon die Schweißperlen auf der Stirn zum Tropfen bringt. In einer limitierten Stückzahl von 29 Exemplaren zum Kaufpreis von je 99.000 Euro gibt es einen exakten Nachbau des Werksmotorrads jetzt zu kaufen – zumindest für all jene, deren Nerven aus Wolframstahl sind.
Der martialische Auftritt allein sorgt schon für ein Gefühl von "ich will nach Hause". Beim Druck auf den Starterknopf öffnet sich das Tor zur Hölle: Aus der Titanauspuffanlage der Indian Challenger RR ertönt ein bis zu 120 Dezibel lautes Klanggewitter, das die Boxenanlage des Anglesey Circuits im Norden von Wales beinahe zum Einsturz bringt. Über die Power des getunten 1.833 Kubik großen 60-Grad-V-Motors (u. a. Kolben/Pleuel aus Titan, vergrößerte Bohrung) schweigt Indian. Nur so viel: Beißt man die Zähne zusammen und öffnet die Schieber vollständig, spurtet die leer 281 Kilogramm schwere RR (80 Kilo weniger als Serie) dermaßen brutal voran, dass man sich nur mit Mühe und Not auf dem Biest halten kann. Bis in den dritten Gang zieht der montierte Dunlop-Slick aus jeder Ecke heraus schwarze Striche, dass es kein Morgen mehr gibt.
Selbst große Piloten kippen im Stand um
Bis es jedoch so weit ist, muss man sich erst mit der gewöhnungsbedürftigen Sitzposition anfreunden. Sehr hohe und weit nach hinten ausgerichtete Fußrasten und ein breiter Lenker ergeben in Kombination mit einer Tankverlängerung eine Haltung, die eher an Drag-Bikes erinnert als an ein Motorrad für den Rundkurs. Auch die Sitzhöhe von 889 Millimetern ist ungewohnt – ohne eine zweite Person, die die Indian Challenger RR beim Auf- und Absteigen festhält, kippen selbst groß gewachsene Piloten im Stand einfach um.
Findet man sich auf dem Giganto-Rennmotorrad zurecht, können die ersten Kurven in Angriff genommen werden. Und ab hier wird es spannend: Von einem trägen Einlenkverhalten keine Spur, die RR erinnert beim Kehrenritt eher an einen handlichen Tourer, etwa an eine BMW RT, als an einen fetten Bagger. Eine ultra-edle Öhlins-FGR-250-Gabel mit 43er-Durchmesser und speziell entwickelten Innereien lässt die Indian Challenger RR spielerisch und präzise in eine Kurve gleiten, während ein ebenfalls voll einstellbares Federbein die abartige Kraft sauber auf den Asphalt bringt.
Unterstützt wird das Federbein von einer aus Alu gefrästen MotoGP-Schwinge, die über eine hohe Steifigkeit verfügt. Einen Löwenanteil übernehmen zudem die 17-Zoll-Schmiedefelgen, die anstatt der serienmäßigen 19 Zoll vorn sowie 16 Zoll hinten der Indian Challenger RR Handlichkeit schenken. Trotzdem: Das hier gehört zu den wohl physisch anstrengendsten Rennmotorrädern dieses Planeten – Schwarzenegger-Muckis sind auf jeden Fall von Vorteil.
Fazit
Nach einem Ritt auf diesem Monster tun die Knochen weh, die Atmung fällt schwer und eigentlich ist man nur froh, überlebt zu haben. Total bescheuert also – aber Halleluja, was für ein gigantisches Erlebnis uns diese Indian Challenger RR beschert!