- Von Enduro zur Rally
- Rally statt Enduro
- 30-Liter-Tank, 19 Zoll, mehr Komfort
- Testfahrt auf Sardinien
- Auf Knopfdruck weniger Sitzhöhe
- Kritik muss sein
- V4 oder R2? Beides!
- Fazit
Ok, ok…das war natürlich eine üble Finte. Also fast. Die Rally ist nämlich die erste Multistrada, die nicht nur im Stand, sondern in Fahrt für einige Zeit ein Zweizylinder bleibt. Zumindest so lang, bis am Gasgriff mehr als nur Rumrollerei gefordert wird. Bologna-Nostalgie? Keineswegs, eher das Bestreben, die stabile Trinkfreude des phänomenalen Antriebs zu zügeln.
Von Enduro zur Rally
Multi und Gelände, das ist kein ganz neues Thema. Schon 2016 trat die Multistrada "Enduro" auf den Plan und überlebte das 2019er Update vom 1200er auf den 1260er-V2. Wieviel "Reise" und wieviel "Enduro" in ihr stecken sollte, darüber schien es in Bologna keine ganz eindeutige Linie zu geben.
Gestartet mit amtlichen Federwegen, hohem Lenker, knackiger Sitzhöhe und reichlich Offroad-Propaganda wurde die Grobmulti 2019 in all diesen Parametern wieder recht deutlich Richtung Reise zurückgestutzt. Beide Iterationen pilotieren sich zwar behände über Stock und Stein, gegen anerkannte Genregrößen aus Bayern und Mattighofen zog die Duc stets den Kürzeren, was primär an ihren fast 280 Kilogramm samt hohem Schwerpunkt lag. Ob die neue Ducati Multistrada V4 Rally das besser kann?
Rally statt Enduro
2023 also Rally statt Enduro und damit ein schärferes Profil für die Ducati Multistrada V4: 200 Millimeter Federweg, mindestens 870 Millimeter Sitzhöhe, 230 Millimeter Bodenfreiheit und gut 20 Kilo Diät flirten mit der Sandkiste.
Allerdings: 260 Kilo bleiben 260 Kilo. Und deswegen eilt die Elektronik auf breiter Front zu Hilfe. Das schon seit 2022 bekannte "Minimum Preload" senkt das hohe Fahrzeugniveau im Stand und bei langsamer Fahrt herab, während "Easy Lift" erstmals die Federelemente der auf dem Seitenständer geparkten Maschine maximal softet, um das Aufrichten ebendieser zu erleichtern. Öfter mal was Neues.
Möglich wird dies natürlich nur durch das semiaktive Fahrwerk "Skyhook", das freilich ein dediziertes Kraxl-Setting enthält, das im Fahrmodus "Enduro" (ironischerweise nicht Rally) gebündelt ist. Hier wird die deftige 170-PS-Keule auf 115 Gäule gezügelt, das ABS am Heck deaktiviert und grundsätzlich alle Elektronik-Zügel reichlich gelockert.
30-Liter-Tank, 19 Zoll, mehr Komfort
Geblieben sind der extragroße Tank (30 Liter), die Drahtspeichenfelgen und das Vorderrad in 19 Zoll (48,26 cm) an der Multistrada V4 Rally. Konsequente 21 Zoll (53,34 cm) bleiben der Gelände-Multi verwehrt. Das erscheint demjenigen verständlich, der sich vor Augen führt, dass das an sich arg straßenorientierte Konzept Multistrada erst seit 2017 (950) und 2021 (V4) die reine 17-Zoll Schiene verlassen hat. Bei aller Offroad-Härte wurde noch etwas an den Komfort gedacht: Größerer Windschild, Hauptständer und weiter hinten positionierte Kofferandockpunkte sollen das Leben auf Asphalt versüßen.
Testfahrt auf Sardinien
Bei der Testfahrt auf Sardinien durften wir das Motorrad in praxistauglicher Konfiguration testen. Bereift mit Pirelli Scorpion Rally STR, montiertem Kofferset und angeschraubten Sturzbügel wedelten wir durch die sardischen Kurven. Dabei wurden zwei Dinge offensichtlich. Auf der einen Seite wurde das Motorrad nicht nur mit hochwertigen Komponenten ausgestattet, sondern gut abgestimmt. Die Rally fährt präzise und ist ausgezeichnet ausbalanciert.
Auf der anderen Seite genießt man ein hohes Maß an Komfort. Die Fahrerassistenzsysteme haben zwar ständig zu tun, greifen aber sehr feinfühlig ein. Das elektronische Fahrwerk bietet bei Bedarf eine straffe Abstimmung und steckt trotz 200 mm Federweg sportliches Fahren locker weg. Nach ein paar Handgriffen im Bordmenü wird die Maschine deutlich komfortabler und gleitet souverän über rauen Belag. Bei den Schotteretappen wirkte das Motorrad robust, die einzelnen Fahrmodi boten eine praxistaugliche Abstimmung mit einem sehr breiten Einstellbereich.
Auf Knopfdruck weniger Sitzhöhe
Mit der "Minimum Preload" Funktion kann man durch einen Drei-Sekunden-Knopfdruck die Federvorspannung auf ein Minimum reduzieren. In der Praxis war das Ausmaß der Sitzhöhen-Reduktion jedoch überschaubar. Bei Bedarf greift man besser zur tieferen Sitzbank aus dem Ducati-Programm, mit welcher man die Sitzhöhe auf bis zu 825 mm absenken kann.
Kritik muss sein
Die Multistrada V4 Rally präsentierte sich insgesamt vollwertig ausgestattet. Doch wer hohe Ansprüche stellt, findet Raum für Verbesserungen! Das Staufach für das Handy hätte noch größer ausfallen sollen. Bei sehr großen Handys lässt sich das Ladekabel im Staufach leider nicht mehr anstecken. Die Keyless-Go-Schlüssel sind sehr praktisch, doch für das Öffnen der Seitenkoffer muss der Schlüssel immer aus der Tasche gefummelt werden.
V4 oder R2? Beides!
Positiv fiel die automatische Abschaltvorrichtung für die hintere Zylinderbank der V4 Rally auf. Im Fahrbetrieb bot der Motor immer noch ein sauberes Ansprechverhalten. So reduzierte die Duc ihre lästige Hitzeentwicklung unter der Sitzbank. Wie gehabt: Der betörende Motor bietet ein breites Drehzahlband. Dieses liegt jedoch etwas höher als in der Klasse üblich. Unter 4.000 U/min wird er ein wenig rau, unter 3.000 U/min etwas ruppig. Doch seine Faszination hat der V4 in der Rally nicht verloren. Auch mit 260 kg ist die Multistrada eine sehr sportliche Reiseenduro. Als Rally bietet sie eine Extraportion Komfort für Fahrer und Sozius für lange Reisen.
Fazit
Aus der Enduro wird die Rally. Ducati tunt die Multistrada V4 auf Offroad: Tank mit 30 Liter, neuer Software, angepasster Komfort, grobe Reifen. Es bleibt bei 19 Zoll vorn, V4 mit 170 PS und klassenüblichen hohem Gewicht.
Neu und toll: Im Leerlauf und bei niedriger Last schaltet Ducati den V4 auf Reihentwin, das soll mehr Reichweite aus den 30 Litern holen.