MV Agusta Enduro Veloce Test: Emotion und Faszination mit Nutzwert?

MV Agusta Enduro Veloce im Top-Test
Emotion und Faszination mit Nutzwert?

Veröffentlicht am 20.04.2025

MV Agusta möchte ausgerechnet im Reiseenduro-Segment Maßstäbe setzen, ohne dabei auf zwei große Stärken der Marke – Emotion und Faszination – zu verzichten. Nicht nur optisch, mit vom legendären 90er-Rallye-Bike Cagiva Elefant 900 inspiriertem Design, das die Enduro Veloce mit reichlich Aero und hochwertiger Zweifarblackierung modern neu interpretiert. Sondern auch über eine für Reiseenduros untypisch betont sportliche Akustik.

90 Dezibel Standgeräusch

Schon beim Erwachen trompetet der neu konstruierte 931-Kubik-Triple eher in Sportler- als in Tourer-Manier aus dem klappengesteuerten Endtopf. Ohne derartige Tricks wären die überall kompatiblen 90 Dezibel Standgeräusch wohl nicht machbar gewesen. Denn stehen Auspuffklappe und die drei 47-Millimeter-Drosselklappen auf Durchzug, weicht kerniges Röhren auf dem Weg zum Begrenzer einem aufdringlich fauchig schreienden Dreizylinder-Jubelgesang, begleitet von rotzig knallenden Quickshift-Gangwechseln. Irgendwie geil, im Reiseenduro-Kontext aber tendenziell etwas unangenehm. Südlich der Alpen scheint die Mentalität diesbezüglich eben noch eine andere.

Kurze Schaltwege, indifferenter Schleifpunkt

Abseits der Soundkulisse zeigt sich der 57 Kilo leichte Motor der MV Agusta Enduro Veloce (Modelljahr 2024) trotz allem Sportsgeist aber umgänglich. Ausgleichswelle und der gegenläufige Kurbeltrieb leisten hervorragende Arbeit; Vibrationen und rauer Lauf gehören mit dieser neuen Generation des MV-Triples der Vergangenheit an. Je nach Einstellung für Gasannahme und Drehmoment reagiert er mal zurückhaltender, mal vehementer auf Eingaben am Spaßgriff, bleibt dabei aber gut dosierbar und direkt – sofern die Drehzahl über 3.000 U/min liegt. Darunter gibt es bei der Gasannahme zuweilen Gedenksekunden; Kettenpeitschen und Rucken treten immerhin erst unter 2.000 Touren auf.

Fürs Anfahren und Mitschwimmen in der Stadt ist das suboptimal, genau wie der indifferente Schleifpunkt der Kupplung, die obendrein nicht zu den leichtgängigsten zählt. Der Veloce-Wohlfühlbereich beginnt hinter dem Ortsschild, wenn zwischen 4.700 und 9.000/min permanent über 90 Newtonmeter anliegen und mittels des präzisen Schaltautomaten durch die lang übersetzte Sechsgangschaltbox gezappt werden darf. Satt rasten die Gänge ein, mit kurzen Schaltwegen, wenn auch nicht ganz leichtgängig. Feurig und willig jubelt der Dreiender bis in fünfstellige Drehzahlbereiche; erst bei 10.600 Touren ist Schluss. Einzig für eilige Autobahnreiter relevant: Die höchste Fahrstufe dient nur als Overdrive, ihren Topspeed erreicht die MV Agusta Enduro Veloce bereits im fünften Gang. Bei gemessenen 213 km/h Spitze wirken 240 km/h Werksangabe reichlich optimistisch, wenngleich der Enduro Veloce beim Prüfstandslauf nur drei Pferdchen zu den im Datenblatt angegebenen 124 PS fehlen.

Agusta Enduro Veloce mit 8-stufiger Traktionskontrolle

Auch elektronisch fehlt wenig. Neben den genannten Einstellmöglichkeiten für Gasannahme und Drehmoment im Custom-All-Terrain-Fahrmodus stehen drei weitere Fahrmodi zur Auswahl: Urban, Touring und Offroad. Die Traktionskontrolle ist in acht Stufen einstellbar, von sehr defensiv bei Nässe bis komplett deaktiviert für Schotteraction. Beim ABS hat man die Wahl zwischen einem sportlichen und einem sicheren Modus für die Straße; in den Gelände-Fahrmodi lässt sich das System wahlweise hinten oder komplett abschalten. Kurios: Im eigentlich sportlicheren Straßenmodus des Blockierverhinderers verlängert sich der Bremsweg trotz höherer maximaler Verzögerung gegenüber dem feiner regelnden Touring-Modus. Abseits des Regelbereichs liefert die Brembo-Anlage mit Stylema-Sätteln und 320-Millimeter-Scheiben der MV Agusta Enduro Veloce aber solide Bremsperformance. Zwei Einstellungen für das Motorbremsmoment, abschaltbare Wheeliekontrolle, Tempomat, Launchkontrolle und sogar ein Speed-Cutter runden das E-Paket ab.

Konfiguriert wird über das Sieben-Zoll-TFT-Display, wobei die Navigation durch die Menüs mithilfe der gut erreichbaren Schaltereinheit am linken Lenkergriff schnell und intuitiv erfolgt. Zudem lässt sich die grafische Darstellung auf der hellen und gut ablesbaren Anzeige individuell anpassen. Über eine Bluetooth- und Wi-Fi-Schnittstelle kommuniziert die Kommandozentrale der MV Agusta Enduro Veloce mit der kostenlosen MV Ride App, die Features wie Turn-by-Turn-Navigation, Fahrtaufzeichnung, Anpassung der Fahrmodi und Telefonie ermöglicht. Zumindest in der Theorie, denn zum Testzeitpunkt ließ sich die Enduro Veloce trotz aktuellster Version der App noch nicht mit dem Telefon verbinden. Wann MV hier nachliefert und wie es um die Funktionalität bestellt ist, bleibt also unklar.

Agusta Enduro Veloce mit komfortabler Ergonomie

Lassen wir die Bits und Bytes beiseite und konzentrieren uns voll auf das Fahrerlebnis – oder zunächst das Sitzerlebnis. Der Wunsch nach einem Ergonomie-Update kommt bei der MV Agusta Enduro Veloce dabei nicht auf. Zwar dürften 870 Millimeter Sitzhöhe auf so manchen Kurzbeinigen abschreckend wirken, doch mittels drehbarer Gummibuchsen (Achtung, Werkzeug nötig!) lässt sich das Polster um immerhin zwei Zentimeter absenken. Selbst auf Standardhöhe erreicht man ab circa 1,70 Meter Körpergröße dank der schlanken Taille und Sitzbankform ohne Probleme den Boden. Dazu gefällt die Position der entgegenkommenden, 865 Millimeter breiten Lenkstange ebenso wie das Arrangement der leicht nach vorne versetzten Fußrasten, das einen entspannten, langstreckentauglichen Kniewinkel ermöglicht.

Die sind zudem hoch genug montiert, um nicht der schräglagenlimitierende Faktor zu sein. Diese Rolle übernehmen unglücklicherweise zwei andere, unbewegliche Bauteile – rechts die Auspuffverkleidung und links der Seitenständer –, was bei allzu motiviertem Abwinkeln in gefährlichem Aushebeln enden könnte. Nichtsdestotrotz sind wir beeindruckt, wie schnell und schräg sich die 250 Kilo schwere Reiseenduro mit etwas Körpereinsatz trotz schmalem 21-Zoll-Vorderrad um Ecken und Pylonen zirkeln lässt. Bridgestones straßenorientierte A41-Pneus, die MV ab Werk schlauchlos auf feine Tagasako-Excel-Drahtspeichenräder montiert, dürften dabei an der formidablen Agilität der Enduro Veloce gebührenden Anteil haben.

Überraschend soft eingestelltes Grund-Setup

Wenig Anlass zur Kritik gibt die Fahrwerksabstimmung der MV Agusta Enduro Veloce. Das ab Werk eingestellte Grund-Setup der umfangreich justablen Dämpfungsware von Sachs ist – insbesondere für bisher übliche MV-Standards – überraschend soft. Vorne spricht die in Zugstufe und Federvorspannung einstellbare Gabel (die von MV versprochene Druckstufeneinstellung konnten wir nicht ausfindig machen) mit 48-Millimeter-Standrohren auf kleine wie große Schläge souverän an. Ähnliches gilt für den – tatsächlich – voll einstellbaren, progressiv angelenkten Dämpfer (Vorspannung per Handrad, Zugstufe, High- und Lowspeed-Druckstufe), wenngleich er nicht ganz so sensibel agiert wie die Forke. Bei zügigen Richtungswechseln, zum Beispiel im Slalom auf dem Top-Test-Gelände, ist die Abstimmung gar etwas zu weich – das Heck schaukelt sich auf, und Testfahrer Timo muss Speed rausnehmen. Ein paar Klicks Richtung straff schaffen aber Abhilfe und lassen die Enduro Veloce Top-Durchfahrtsgeschwindigkeiten und -Zeiten einfahren. Auf der Landstraße ist ein etwas gestrafftes Setup gegen ein allzu beschwingtes Heck ebenfalls empfehlenswert, zumindest bei Holperpisten und mit Gepäck oder Sozius an Bord. Genügend Reserven und Restkomfort bietet das Fahrwerk mit 210 Millimetern Federweg vorne und hinten jedenfalls immer.

MV Agusta Enduro Veloce ab 22.000 Euro

Womit wir bei der für diese Motorrad-Kategorie wichtigsten Disziplin angelangt wären: dem Reisen. Das können wir uns nach mehreren ausgedehnten Testtagen im Sattel auf der MV Agusta Enduro Veloce richtig gut vorstellen. Auch ohne dick gepolsterten Sitz vermeldet der Allerwerteste nach über 100 Kilometern am Stück keinen Pausenbedarf, und dank üppiger Platzverhältnisse in zweiter Reihe, gut erreichbarer Sozius-Haltegriffe und relativ offenem Kniewinkel steht auch längeren Fahrten zu zweit nichts im Wege. Übrigens auch dank der großen Reichweite. 20 Liter Spritvorrat sind bei moderaten 4,7 Litern Verbrauch pro 100 Kilometer gut für über 400 Kilometer ohne Auftanken.

Bei 130 km/h steigt der Verbrauch um 0,9 Liter an – auch das geht, gemessen am großzügigen Windschutz, klar. Schade, dass der fest montierte Serienwindschild bei Fahrern über 1,80 Meter bei Autobahntempo für spürbare Verwirbelungen am und in der Folge Lärm im Helm sorgt. Bei entsprechendem Körperbau ist der 80 Millimeter höhere und 40 Millimeter breitere Touring-Windschild aus dem Zubehör vermutlich nicht die schlechteste Idee. Auch wenn der ohnehin MV-typisch happige Grundpreis von 22.000 Euro dann steigt (Stand 2024). In dieser Hinsicht bleiben sich die Italiener auch mit der Enduro Veloce treu.