Es ist DAS Multi-Kulti der Motorrad-Szene: ob 50er-Kreidler oder Boss Hoss mit dickem V8, knusprig-glänzender Café Racer oder heftigst getuntes Sprint-Monster, weltweit herumgekommener Tourer oder aufwendig umgebaute Edel-Harley, bei Glemseck 101 gibt es eigentlich nichts, was es nicht gibt. Außer schlechtes Wetter – fast immer seit 2006 war der Himmel über Leonberg blau und weiß. Das galt dieses Jahr aber nur sehr bedingt. Freitagmorgen luden bereits dunkle Regenwolken ihre feuchte Fracht ab. Teilnehmer und Gäste bauten Stände und Zelte im strömenden Regen auf. Das tat der Stimmung allerdings keinen Abbruch: am Freitagabend wurde heftig gefeiert.
Es röhrt, röchelt bebt und lebt
Staunen ist vorprogrammiert bei diesem Volksfest für Motorradfahrer, interessante Begegnungen gibt es an jeder Ecke. Du siehst Kennzeichen aus ganz Europa, bis Dänemark und Russland, Ungarn und Portugal. Irgendwo im Eingangsbereich, von der Hadersbachkurve aus gesehen, soll eine Moto Guzzi V7 aus den späten 60ern/frühen 70ern stehen, mit tschechischen Tatra V8-Motor bestückt. Hier ist alles möglich. Es röhrt, röchelt bebt und lebt, knurrt und knattert an allen Ecken auf der ehemaligen GP-Strecke vor den Toren Stuttgarts. Kaum ein Durchkommen, so viele Menschen und Motorräder sind hier vereint.

Theoretisch kann jeder mit jedem, der alte Hase mit dem Einsteiger, der Kuttenträger mit dem Fernreisenden, der coole Café Racer mit dem Rocker. De facto aber gibt's natürlich Gruppenbildung, so ist der Mensch nun mal. Abends feiern dann doch meist an den einzelnen Zelten die Leute zusammen, die sich schon aus den Vorjahren kennen, sich lang aufeinander gefreut haben. Zum Beispiel weil sie in einer vielen Sprintklassen gegeneinander antreten. Denn ab Samstag Mittag röhren wieder die Motoren, geht es in verschiedensten Klassen über die Achtelmeile zur Sache.
Bunt gemischtes Teilnehmerfeld
Bunt geht es hier zu, ja richtig abgedreht. Und das meint nicht nur das Profil der Hinterreifen (gerne Slicks), die mit herzhaften Burnouts vor dem Sprint Mann gegen Mann oder Frau gegen Mann auf Betriebstemperatur gebracht werden. Der bekannte TV-Moderator und YouTuber Jens Kuck startet auf einer heiß gemachten Yamaha XSR 700 „Sakura“ (zu deutsch: Kirschblüte) gegen Rolf Reick von Krautmotors. Nicht vergessen: Jens „Käpt'n Kuck“ war ja aktiver Rennfahrer. Er weiß, wie man Gas und Kupplung richtig bedient. FUEL-Frontmann Rolf Henniges sitzt auf dem Prototypen einer Indian FTR 1200. Noch vor den internationalen Messen in Köln und Mailand rollen die Amis hier zum ersten öffentlichen Fahrversuch an.

Keine leichte Aufgabe, einen leichten Flat-Tracker mit deutlich über 100 PS im Zaum zu halten. Rolf Henniges kann richtig gute Wheelies. Doch hier hat er Mühe, sich an die Balance aus durchdrehendem Hinter- und abhebenden Vorderrad heranzutasten. Ohne Training, gleich ab ins Rennen. Gefahren wird im k.o.-System, wer seinen Lauf verliert, ist in aller Regel draußen – nur manchmal dürfen „Verlierer“ doch noch mal ran. Bei den „Sultans of Sprint“ herrscht der pure Karneval: laut, bunt, schrill – mit bunten Kostümen der Team-Mitglieder, Fahrern und Fahrerinnen in fantasievollem Dress auf absolut abgedrehten Maschinen. Kreativität auf Rädern. Turbolader, Lachgas oder Flammenwerfer sind eher Regel als Ausnahme. Hier ist Aufrüstung in vollem Gange.
Mick Doohan ebenfalls mit dabei
Der sympathisch-freundliche Rennfahrer und PS-Mitarbeiter Arne Tode startet auf einer von Mellow Motorcycles wunderschön aufgebauten Triumph Thruxton mit herrlichem Blechkleid und bösem Kompressor. Da geht was, mit 142 PS, vor gewärmten Reifen
und Schaltautomat. Wie bereits bei einem der früheren Rennevents Anfang Juli im belgischen Spa-Francorchamps gewinnt Arne Tode seinen Lauf überlegen. Was Arne Tode bei Glemseck 101 gefällt? „Das ist eine ganz tolle Geschichte. Hier siehst du so viele entspannte, glückliche Gesichter, trifft sich die gesamte Motorradszene, zeigte was für ein toller Lifestyle das ist.“
Der australische Ex-GP-Fahrer Mick Doohan, fünffacher Weltmeister von 1994 bis 1998, kommt extra im Privatjet von Monaco nach Stuttgart zum „International Sprint“ eingeschwebt. Doch bereits im zweiten Lauf ist er draußen auf seiner speziell dafür aufgebauten Honda CB 1000 R. Offenbar hat der Star ein Problem mit der Kupplung. So kann er bald wieder zurück im Privatjet. Wie sagt Arne Tode: „Das Beschleunigen über bloß 200 Meter ist tatsächlich eine Herausforderung – man darf die Kupplung nicht zu lange schleifen aber auch nicht schnappen lassen. Und wenn dann dein Gegner einen guten Start erwischt, wird das eine ganz enge Kiste.“ Für die Zuschauer ist jedenfalls Gänsehaut-Garantie gegeben. Auch Royal Enfield aus Indien hat einen verwegen-schönen Sprint-Racer aufgebaut, auf Basis des noch gar nicht präsentierten 650er-Twins Interceptor. Familie Bronold von Radical Guzzi rollt ein flaches 1400er-V2-Ungetüm namens „Nosferatu“ an den Start, mit Lachgas gut für rund 185 PS. Ein Ein Wolf im Wolfspelz. Hier schießt es auch mal aus dem Auspuff ...
Sprints am Sonntag abgesagt
Extreme Umbaugüte kennzeichnet auch die zweirädrigen Wunderwerke der internationalen Customizer-Szene. Glemseck 101 ist ihr Schaufenster, ihre Bühne, der internationale Treff. Welche Trends gibt es, wie funktioniert das Thema Motorrad heute? MOTORRAD-Autor Ralf Petersen ist mit dabei. Er schreibt die Schrauber-Tipps in unserer Zeitschrift, in der aktuellen Ausgabe ist ein vierseitiger Artikel, wie er sich eine 4-in 4-Auspuffanlage für seine Honda CB 750 Sevenfifty selber gebaut und vom TÜV hat abnehmen lassen. Und womit ist der Duisburger angereist? Logisch, mit dem luftgekühlten Vierzylinder im Retro-Look. Live zu bewundern hier in Leonberg oder in der aktuellen MOTORRAD- Ausgabe 19/2018.

Am Sonntag regnet es leider in Strömen, die Sprints am Nachmittag werden abgesagt. Die Strecke ist einfach zu rutschig, zu wenig Grip für die Reifen. Ralf Petersen muss sein Zelt bei Nässe abbauen. Genau wie Oli Heda seinen Stand von der Roller- und Motorradbox Stuttgart-Feuerbach. Er präsentierte 300er-Vespas mit Kompressor und Lachgas (TÜV-eingetragen!) und bis zu 45 PS stark. Da staunt Nikolaus Wykpis (16) aus Bonn, der mit dem Zug her kam, um noch vor dem eigenen Führerschein so viel benzingeschwängerte Luft, so viel Spirit zu inhalieren. Kein Wunder, dass die am Sonntag merklich weniger zahlreich erschienenen Besucher selbst im Regenwetter gute Laune behalten. 2019 wird alles wieder besser, beim nächsten Glemseck 101. Man sieht sich.