Australien gilt als das Land der Optimisten – eine Nation, bei der Probleme zu Möglichkeiten werden und das Glas stets halb voll ist. Nicht die Frage, ob etwas funktionieren kann, stellt man sich hier, sondern nur, wie man die Herausforderung angeht. Dieser Philosophie entspringt auch die Drysdale 1000-V8. Wer bei zwei Rädern und acht Zylindern einen Koloss wie die Boss-Hoss vor Augen hat, liegt völlig daneben. Die Drysdale ist ein Supersport-Motorrad, konstruiert von ihrem 54-jährigen Namensgeber.
Ian Drysdale schraubt nicht einfach nur an seinen Eigenentwicklungen, der rennsporterprobte Ingenieur lebt seine Passion, seinen Erfindergeist. Damit hat er sich einen Namen gemacht. Schließlich begann er die Arbeit an seiner ersten Kreation, einem 750er-V8-Superbike, bereits vor 20 Jahren und erregte damit viel Aufsehen. Spätestens wenn man sich die Eckdaten seiner neuesten Schöpfung ansieht und das erste Mal auf dem Einzelstück Platz nehmen darf, erhält man ein Gefühl dafür, wie Drysdale zu seinem Image kommt.
Drysdale 1000-V8 wiegt nur 210 Kilogramm
Ein einziger Fakt will gar nicht mehr aus dem Kopf verschwinden: Fahrfertig (allerdings ohne Benzin) wiegt die von Hand aufgebaute Drysdale 1000-V8 lediglich 210 Kilogramm. Ja, richtig verstanden: Trotz zweier in 90 Grad zueinander stehenden Zylinderbänke mit jeweils vier Brennräumen kann von Übergewicht keine Rede sein. Wer es darauf anlege, erklärt Drysdale, könne das Gewicht locker unter die 200-Kilogramm-Grenze drücken. Das könnte hinkommen, denn bis auf die Endschalldämpfer der beiden Vier-in-zwei-Abgasanlagen und dem hinteren Kotflügel besteht bisher kein Bauteil aus Karbon oder sonstigen sündhaft teuren Materialien.
Der quer eingebaute Motor samt der Drosselklappenkörper von Keihin mit je 39 Millimetern Durchmesser wiegt allein 86 Kilogramm. Ein stattlicher Wert, der sich aber durchaus sehen lassen kann, bedenkt man, dass acht Kolben durch die Zylinder sausen. Das Sandguss-Aluminium-Kurbelgehäuse der Drysdale 1000-V8 macht dabei einen soliden und stabilen Eindruck. Die darin beherbergte, sechsfach gelagerte Kurbelwelle mit vier Hubzapfen und je zwei darauf befindlichen Pleuellagern bringt 5,5 Kilogramm auf die Waage. Nicht ohne Stolz erklärt Ian, dass diese aus einem 44 Kilogramm schweren Eisenblock gefertigt wurde und im Gegensatz zu den meisten Achtzylinderkonzepten mit einer Kröpfung von 180 Grad an den Start geht.
150 PS Spitzenleistung bei 12.200 Umdrehungen
Flatplane nennt sich das und meint nicht mehr, als dass sich alle Hubzapfen wie bei einem normalen Reihenvierzylinder in einer Ebene befinden. Einen brabbelnden Sound wie von großvolumigen Achtzylinder-Motoren in fetten Ami-Karren darf man also nicht erwarten. Dieser entspringt nämlich einer sogenannten Crossplane-Kurbelwelle mit 90-Grad-Kröpfung, welche mit optimal positionierten Ausgleichsgewichten auch einen fast perfekten Ausgleich an freien Massenkräften und -momenten ermöglicht und nahezu vibrationsfrei läuft. Das in der Drysdale 1000-V8 verwendete Flatplane-Konzept kann diese Laufruhe nicht bieten. Da es jedoch geringere Ausgleichsgewichte an der Kurbelwelle benötigt, dreht der Motor dank weniger Schwungmasse quirliger und dabei deutlich standfester bis in hohe Drehzahlregionen. Aber möchte man tatsächlich ein V8-Motorrad bewegen, das ohne brabbelnden Sound daherkommt und womöglich vibriert?
Ian bittet zu einer ausführlichen Kostprobe. Er scheint sich sicher zu sein, was vom Fahrer nicht behauptet werden kann. Schließlich dreht dieser gleich die allererste Runde überhaupt mit dem V8-Superbike. Weder Drysdale noch der bereits feststehende Käufer des Einzelstücks im Wert von zirka 66.000 Euro sind bisher je einen Meter mit der Maschine gefahren. Glücklicherweise sieht das Bike alles andere als furchteinflößend oder unbeherrschbar aus, auch wenn man ahnt, dass die Sitzposition einen langen, dehnungsfähigen Oberkörper verlangt. 150 PS Spitzenleistung bei 12.200 Umdrehungen bringen einen erfahrenen Tester heutzutage ebenfalls nicht ins Schwitzen. Normalerweise zumindest. Denn die Vorstellung, acht Zylindern auf zwei Rädern die Sporen zu geben, hat schon etwas Besonderes. Dass die Probefahrt auf der Rennstrecke stattfindet: alles andere als beruhigend.
Endlich darf der alles entscheidende Knopf gedrückt werden. Nein, diese acht Zylinder erwachen nicht einfach nur zum Leben, ihre Arbeitsaufnahme gleicht den Tönen eines Symphonieorchesters. Es ist, als betätige man den Play-Button des heimischen CD-Spielers und verwandle die eigenen vier Wände in einen Konzertsaal. Sanft pöttelt es im Stand, doch nur ein leichter Zupfer am Gasgriff und eine schabende Note mischt sich in die Soundkulisse, die jedoch nie die Nachbarn zum Protest zwingen würde. Crossplane hin, Flatplane her: Dieses Moped klingt saugeil. Also los!
Leicht lässt sich das Sechsgang-Kassettengetriebe bedienen. Wie das gesamte Motorrad besteht das Schaltwerk aus einem Konglomerat aus eigenen Konstruktionen und Teilen aus den Ersatzteillagern japanischer Hersteller (hauptsächlich Yamaha). Die Getriebeübersetzung beispielsweise entstammt einer Yamaha FZR 750, die Ölbadkupplung einer FZR 1000. Was sich beliebig zusammengewürfelt anhört, funktioniert tadellos.
Leistungsspitzen sind schlichtweg nicht vorhanden
Von dem im eigens entwickelten Fahrwerk als tragendem Element integrierten Herzstück gilt das erst recht. Schon ab niedrigsten Drehzahlen schiebt das Aggregat, dessen Zylinderköpfe von einer FZR 600 transplantiert wurden, das Bike kraftvoll aus der Boxengasse und klettert auf der Geraden völlig befreit, dabei gänzlich unaufgeregt und ohne vernehmbare Vibrationen durchs Drehzahlband. Leistungsspitzen sind schlichtweg nicht vorhanden. Wie mit dem Lineal gezogen, gewinnt der mit 10,5 recht niedrig verdichtete Motor der Drysdale 1000-V8 kontinuierlich an Power, um bei 14 200 Umdrehungen vom Begrenzer eingefangen zu werden.
Wahnsinn, wie soft der Achtzylinder am Bowdenzug hängt und wie weich die Leistung einsetzt. Selbst Lastwechselreaktionen sind kaum spürbar und machen den Kopf frei, um auf der Rennstrecke schnell die richtige Linie zu finden und die Flanken des 190er-Hinterreifens mit 50er-Querschnitt (Pirelli Supercorsa) warm zu kneten. Man ist verblüfft. Handlich, zielgenau und völlig neutral legt man das Superbike von Knick zu Knick um, ohne dass sich der schwere Motor als träge Masse je in den Vordergrund drängen würde. Der Schwerpunkt ist optimal gewählt, und der kurze Radstand von gerade einmal 1415 Millimetern ermöglicht eine zackige Fahrweise. Die Upside-down-Gabel von Kayaba (Teilespender war eine ältere Yamaha R1) gibt dabei viel Rückmeldung und plättet straff jede kleinste Unebenheit. Das quer zur Fahrtrichtung eingebaute und beidseitig über Hebel angesteuerte Öhlins-Federbein macht ebenfalls einen tollen Job.
Weil alles so einfach von der Hand geht und man mit der Drysdale 1000-V8 ebenso schnell vertraut ist, wie es sich mit der R1-Bremsanlage verzögern lässt, taucht man immer tiefer in Schräglage ab. So lange, bis schließlich viel früher als erwartet die vor dem Hinterrad befindliche Halterung des Federbeins unsanft im Asphalt herumraspelt und die Einweihungsfahrt beinahe vorzeitig beendet. Doch der Australier wäre kein Australier, wenn er nicht sofort nach Berichterstattung des Fahrers zum Schraubenschlüssel griffe, um das Problem im Nullkommanix auszumerzen. Nach Aussage des Käufers jedenfalls sei die mangelnde Bodenfreiheit jetzt kein Problem mehr. Absolut australisch eben!
Daten und Fakten

Motor
Wassergekühlter Achtzylinder-90-Grad-V-Motor, vier obenliegende, kettengetriebene Nockenwellen, vier Ventile pro Zylinder, Tassenstößel, Nasssumpfschmierung, Einspritzung, Ø 39 mm, hydraulisch betätigte Ölbadkupplung, Sechsgang-Kassettengetriebe.
Bohrung x Hub: 62,0 x 41,3 mm
Hubraum: 996 cm³
Verdichtungsverhältnis: 10,5:1
Nennleistung: 110,3 kW (150 PS) bei 12.200/min
Max. Drehmoment: k. A.
Fahrwerk
Gitterrohrrahmen aus Stahl, Motor mittragend, Upside-down-Gabel, Ø 43 mm, verstellbare Federbasis, Zug- und Druckstufendämpfung, Zweiarmschwinge aus Aluminium, quer eingebautes Zentralfederbein mit Umlenkungshebeln, verstellbare Federbasis, Zug- und Druckstufendämpfung, Doppelscheibenbremse vorn, Ø 298 mm, Vierkolben-Festsättel, Scheibenbremse hinten, Ø 220 mm, Doppelkolben Schwimmsattel.
Alu-Gussräder: 3.50 x 17; 6.00 x 17
Reifen: 120/70 ZR 17; 190/50 ZR 17
Maße und Gewicht
Radstand 1415 mm, Lenkkopfwinkel 66 Grad, Nachlauf 108 mm, Gewicht (fahrfertig, ohne Kraftstoff) 210 kg.
Farbe: Gelb
Preis: 100.000 AUD (zirka 66.000 Euro)
Zur Person Ian Drysdale

Ian Drysdale (54) entwickelt seit nunmehr 20 Jahren Motorräder mit V8-Motoren. Als Besitzer der Drysdale Motorcycle Co. in Victoria, Australien, hat er dazu leider wenig Zeit. Volle Auftragsbücher zwingen ihn immer wieder zu längeren Aufenthalten in China, wo er für den Hersteller Linhai ATVs entwickelt. Dabei handelt es sich um keinen kleinen Fisch: Die Linhai-Gruppe produziert pro Jahr 600.000 Fahrzeuge und 1.000.000 Motoren.
Ian gilt als Visionär des Ungewöhnlichen und wirkt auch deshalb in seiner Heimat bei zahlreichen Projekten als Berater mit – so etwa beim Windkanal der Melbourne Monash University. Mit dem 1000er-Motor plant Ian den Bau von insgesamt fünf Bikes.