- Alter, neuer Hipster-Traum
- Retusche, Revolte, Redesign?
- Bunt und vielfältig
- Oldschool passt für alle
- Bekannter Twin Puls
- Klimawandel bei der Scrambler
- Scrambler kann Straße
- Fazit
Hipster. Für manche mögen sie, abwertend konnotiert, eine Avocado- und Schallplatten-verrückte, urbane Möchtegern-Elite sein. Hauptsächlich auf Ästhetik statt auf tiefere Werte und authentische Erfahrungen bedacht. Positiver betrachtet beschreibt der Begriff stylische Individualisten, die ihre eigene und die Welt um sie herum mit einer Prise Witz und Retro-Charme bunter, cooler und kreativer machen.
Alter, neuer Hipster-Traum
Elitär und oberflächlich war Ducatis Scrambler-Familie seit ihrer Wiederauferstehung 2014 nie. Und auch die ständige Suche nach dem neuesten Trend lag ihrem Charakter fern: Stimmiges Vintage-Design in Anlehnung an das 1962er-Original, angetrieben von luftgekühlten V2-Desmos, ohne markentypischen High-Performance-Attitüden. Ein gelungenes Grundrezept – bestätigt durch inzwischen über 100.000 verkaufte Exemplare. Damit die Erfolgsstory im Modelljahr 2023 weitergeht, überarbeitet Bologna die 800-Kubik-Modelle gründlich.
Retusche, Revolte, Redesign?
Die große Frage, die sich im Vorfeld stellte: Erwartet uns eine vorsichtige Retusche à la: "never-change-a-running-system" oder doch ein mutiger Neustart? Immerhin spricht Ducati von 70 Prozent geänderten Teilen im Vergleich zur Vorgängerin. Kurz und knapp sollen sie die neue Scrambler moderner, bunter und leichter machen.
Bunt und vielfältig
Wie hoch das Thema "bunt" beim Redesign hing, ist schon vor der Testfahrt unübersehbar. In elf (!) verschiedenen Farben spiegelt sich der aufgereihte Testfuhrpark in der Glasfront des Hotelbunkers, das Marketing-Team von "M&M’s" wäre vor Neid erblasst. Allein neun Lackkleider gehören zum Basis-Modell "Icon" für 10.590 Euro. Dazu kommen zwei exklusive Lackierungen für die Modelle Nightshift und Full Throttle, die außerdem mit tiefem Lenker und spezifischen Extras wie Speichenrädern, serienmäßigem Quickshifter oder Termignoni-Auspuff um die Käuferschaft buhlen. Aufpreis? Je 1.900 Euro.
Oldschool passt für alle
Auf zur Stadtfahrt durch Valencia: Trotz mehr Elektronik wirkt die Scrambler angenehm oldschool und aufs Wesentliche reduziert. Schon beim Rangieren vermittelt sie Leichtigkeit und fühlt sich wendig an. Immerhin vier Kilo wollen die Italiener eingespart haben, einen Großteil davon an den neuen Gussfelgen und am überarbeiteten Kupplungspaket, das jetzt nach noch weniger Handkraft verlangt – ein Finger reicht locker. Gute Vorzeichen für den Ritt im hektischen Rush-Hour-Verkehr. Dabei hilft auch die schmale, aber nicht unkomfortable Sitzgelegenheit, deren Oberkante moderate 795 Millimeter über dem Asphalt liegt. Für besonders lange oder kurze Extremitäten gibt es optional Polster mit 780 oder 810 Millimetern Sitzhöhe. Mit 1,90 Meter Körpergröße fühlt man sich dank der durchgehenden Sitzbank und daraus resultierender großer Bewegungsfreiheit auch auf dem Standardsitz überraschend gut aufgeräumt.
Bekannter Twin Puls
Per Knopfdruck erwacht der Desmodue bollernd zum Leben. Er reagiert nun via Ride-by-Wire anstatt per Seilzug auf Gasbefehle. Mit diesem Update halten auch zwei Fahrmodi samt vierstufig einstellbarer Traktionskontrolle Einzug beim günstigsten Ducati-Modell. Im Fahrmodus "Road" wird der Dreh am Spaßgriff sanft in Vortrieb umgesetzt, die Schlupfregelung greift bei Zwischenspurts auf glattem Untergrund früh ein. Entspannt platziert der hohe, breite Lenker den Reiter auf dem Ross. Übersichtlich, aber ohne das Gefühl, zu entkoppelt und inaktiv zu sein. Begleitet von wohligen V-Twin-Vibrationen blubbert man von Ampel zu Ampel, zappt lässig durch die Gänge der präzisen Sechsgangbox. Mit dosiertem Einsatz der leichtgängigen Kupplung wohlgemerkt, denn der optionale Quickshifter fehlt an den Test-Bikes. Schade, er würde den quirligen Charakter des Desmos um schnelle Schaltvorgänge ergänzen, wenn auch zugegebenermaßen auf Kosten des Purismus.
Klimawandel bei der Scrambler
Schweißausbrüche im rechten Hosenbein sind bei der neuen Icon übrigens Geschichte: Die geänderte Krümmerführung verzichtet auf ansehnliche Schlaufen an der rechten Motorflanke und strahlt in dieser Region nun spürbar weniger Hitze ab. Optimierte Motorinnereien zügeln die Hitzeentwicklung zusätzlich. Schön, denn was beim zügigen Landstraßenritt weniger ins Gewicht fällt, ist in der Stadt und beim Pendeln Gold wert.
Scrambler kann Straße
Landstraße? Selbstverständlich scheuchen wir die Lifestyle-Duc auch durchs Geschlängel des spanischen Hinterlandes. Im Fahrmodus "Sport" ziehen die Ponys deutlich spontaner an, während die Traktionskontrolle zurückhaltender das Lasso wirft. Manuell komplett deaktiviert kündigt Pirellis MT 60 RS gutmütig und überraschend spät sein Limit an. Der temperamentvoll fauchende V-Twin verdeutlicht mit Nachdruck: 73 PS, gepaart mit 185 Kilo Leergewicht und einem anständigen, wenn auch nicht ausgesprochen feinfühligem arbeitenden Fahrwerk, sind im Winkelwerk absolute Spaßgaranten. Zumal die Fußrasten erst bei sehr ambitionierten Schräglagen aufsetzen und die kräftig verzögernde Brembo-Zange an der Front die Fuhre stets sicher und wohldosierbar einfängt. Apropos Fahrwerk: Vorne wie hinten arbeiten bewährte Kayaba-Komponenten, der nun zentral am Heck montierte Dämpfer lässt ein etwas feinfühligeres Ansprechen erahnen. Detaillierte Analysen zur Fahrwerksperformance, inklusive obligatorischer Schotterfahrt, liefern wir in kommenden Vergleichstests.
Fazit
Moderne Elektronik und Leichtbau tun der kleinen Scrambler gut. Sie bleibt ein authentisches Retro-Bike mit hohem Spaßfaktor und Nutzwert. Trotz anfängerfreundlicher Assistenzsysteme biete sie selbst Profis ein erfrischend pures Fahrerlebnis. Ihre hochwertige Machart lässt sich Ducati trotz Vermarktung als Einsteiger-Produkt allerdings anständig bezahlen.