Das fragen sich wohl die meisten, die die F32 von Kodlin sehen. FUEL schwang sich in den Sattel.
Das fragen sich wohl die meisten, die die F32 von Kodlin sehen. FUEL schwang sich in den Sattel.
"Ich weiß gar nicht, warum du so heiß auf das Teil bist. Die F32 ist doch Schnee von gestern. Die haben wir letztes Jahr im April auf Sylt präsentiert. Jede Zeitschrift hat über die Kiste berichtet, und letztlich hat sie DIE maßgebliche Bagger-Show gewonnen: Daytona Beach! Letzten Sommer, mein Junge!" Fred Kodlin ist am anderen Ende der Telefonleitung. Irgendwie kann man förmlich sehen, wie der 56-Jährige seine Augen hinter der Sonnenbrille rollt, die Stirn kräuselt und tief seufzt. Nein, es geht bei FUEL nicht darum, Sensationen zu vermelden. Es geht vielmehr um den Blick hinter die Kulissen. „Erinnerst du dich?“, frage ich zurück. „Messe Bad Salzuflen, Dezember letztes Jahr. Wir sprachen über die F32. Du sagtest damals, sie würde sich fast wie ein normales Motorrad fahren lassen. Das möchte ich gern ausprobieren.“ Man erwartet jetzt einen Rückzieher. Denn vielleicht kann das Ding wirklich nur: stehen. Mag keine UV-Strahlung. Kein Wasser. Keinen Wind. Und der Motor ist nur Attrappe. Vielleicht überwiegt auch die Angst vor ein paar Lackkratzern. Schließlich soll das Teil über 200.000 Euro kosten. „Komm vorbei“, sagt Fred Kodlin lapidar. „Hauptsache es schneit nicht.“
Wochen später steht Fred neben und sie vor mir. Die F32. Der Ultra-Bagger. Die 32 steht nicht für Grad Schräglage oder die Anzahl der Bikes, die Fred Kodlin gebaut hat, nein, das wäre lächerlich. Sie steht für den vorderen Raddurchmesser: 32 Zoll. Mit montiertem Reifen kommen wir auf 93 Zentimeter Durchmesser. Auf der ganzen Welt wurden keine zwanzig Stück davon gefertigt, in der F32 rotiert das einzige 32er-Vorderrad in ganz Europa. Doch nicht die Einzigartigkeit fasziniert. Es ist die Skurrilität. Als ich meinem Freund Pinne ein Foto des Ultra-Baggers gezeigt habe, meinte er, sein Rasenmäher hätte auch so einen Grasfangkorb und erkundigte sich nach Auffangvolumen und Schnittbreite. Pinne wohnt auf dem Land.
Ich musste weit ausholen, um einem Superbike-Fahrer wie ihm die Lebensberechtigung solcher Fahrzeuge zu erklären: Bagger hat nichts mit Bagger (Erdschaufelfahrzeug) zu tun, sondern ist von Bag (englisch: Tasche, Koffer) abgeleitet. Vor vielleicht zwei Jahrzehnten haben sich ein paar Cruiser-Piloten Gedanken gemacht, wie man die wichtigsten Utensilien für den Wochenendtrip stilecht auf dem Bike mitnimmt, und kamen auf: Koffer. Damit diese den Look des Bikes nicht verschandeln, machte man sich weitere Gedanken darüber, sie stilvoll ins Fahrzeug zu integrieren. Der Style wurde Anfang der 2000er in den USA populär und schwappte in den vergangenen Jahren zaghaft nach Europa rüber. Was mit anfänglich verbauten, schmalen 18-Zoll-Rädern begann, uferte allerdings schnell aus. Vor zehn Jahren war man in den USA bei 21-Zoll-Rädern angekommen, vor fünf bereits bei 23 Zoll. Derzeit fahren die ganz wilden US-Boys einen 26er spazieren. Irgendwann packt immer jemand was drauf.
„Das 32er stammt aus Amerika“, erklärt Fred. „Einzelanfertigung auf Bestellung. Damit es legal auf europäischem Boden rollen darf, musste ich es TÜVen.“ Ah, das erklärt auch den Preis. „Für rund 10.000 Euro gehört es dir“, lächelt der Hesse. Kein Scherz. Man kann von Glück sagen, dass der Reifen im Preis inbegriffen ist. Die Pelle ist mit 140/40 besonders querschnittig, stammt von Vee Rubber aus Thailand und kostet allein 1200 Euro. „Zieh’ die erst mal auf“, lächelt Fred, „und das, ohne die Felge zu beschädigen.“ Es ist müßig, über Sinn oder Unsinn eines solchen Motorrads zu diskutieren. Dem einen gefällt’s, dem anderen nicht. Der Customboom treibt allerorts wilde Blüten: Angeblich ist es derzeit nicht mal mehr hip, sein umgebautes Straßenbike mit Enduroreifen zu bestücken. Nein, jetzt greifen die coolen Jungs zu Motocrossreifen. Gönnen wir ihnen den Spaß.
Und Fred Kodlin erst recht. „Komm, ich zeig dir was“, sagt der und wir schlendern durch seine Werkstatt im nordhessischem Borken. Keine fünf Meter durch die riesige Halle gelaufen, fällt mir ein Satz von Blechkünstler Norbert Büsch ein: „Es gibt Leute, die sich Customizer nennen, obwohl sie nur An- und Abschrauber von Teilen sind. Sie tauschen aus. Mehr nicht.“ Fred Kodlin gehört mit absoluter Sicherheit nicht dazu. An der F32 ist grob gesagt nur der Motor nicht selbst gebaut. Und die in den Koffern integrierte Stereoanlage, die Bremszangen und Bremsscheiben. Der Rest ist pure Handarbeit. Saubere Nähte. Edle Teile. Perfekte Spaltmaße.
Fred ist ein Urgestein der europäischen Customszene, stellt seit 1982 eigene Parts her und startete 1995 mit dem Bau von Custombikes. Hier, auf dem alten Kontinent, gilt er als Enfant terrible der Szene. Als Verrückter. Verrückt, weil er sich an Dinge traut, wo andere die Finger von lassen. „Bagger sind out? An Europa ging der Bagger-Trend vorbei? Nee, Junge, das stimmt nicht. Wir haben rund 150 Stück gebaut. Und alle verkauft.“ Kodlins Fertigungstiefe beeindruckt. In den Regalen drängeln sich gedrehte Lenkkopfrohre, kilometerweise dünne Bleche, tonnenweise Stahlrohr. Er biegt und fertigt Auspuffanlagen, Schwingen, konstruiert und schweißt vom Rahmen übers Lampengehäuse bis zum Fender alles selbst. Er ist nicht nur Customizer. Er ist zertifizierter Fahrzeughersteller. Seine eigenwilligen Kreationen werden letztlich auch vom TÜV abgesegnet. „Fahren will man ja auch“, grinst der Meister schelmisch. Gutes Stichwort.
„Du kannst doch fahren, oder?“ Sicher kann ich. Oder braucht man für den Extrem-Bagger einen besonderen Führerschein? Die F32 ruht auf zwei schnapsglasgroßen Aluminiumblöcken, die am Rahmenunterzug befestigt sind. So, wie sie da steht, schweben die Koffer maximal drei Zentimeter über dem Boden. Die F32 hat ein Luft-Fahrwerk. Ein kleiner Kompressor versorgt Ausgleichsbehälter und Federelemente mit Luftdruck. Maximal kann sich die Maschine um zwölf Zentimeter anheben. „Je nach Luftdruck hast du entweder mehr oder weniger Komfort“, erklärt Fred sein System, ebenfalls – wen wundert's? – eine Eigenkonstruktion.
Aufsitzen. Der Sattel schwebt in nur 620 Millimeter Höhe und Riesenarme braucht man nicht, um den Lenker zu erreichen. Kabel, Drähte, Bowdenzüge – alles innen verlegt. Es gibt nichts, was den metallisch-martialischen Look der F32 stören würde. Die hat übrigens Len Kodlin entworfen, Freds 25-jähriger Sohn, der mittlerweile zu einer echten Stütze des Unternehmens herangereift ist. Während der kleine Kompressor Luft ins Gedärm pumpt und sich die F32 langsam erhebt, erklärt mir Fred die Bedeutung der sauber am Lenker und unter der Sitzbank angeordneten Knöpfe. Broooaar – erdbebenähnlich nimmt der luftgekühlte, 2030 Kubik große Harley-Twin seine Arbeit auf. Tuning-Urgestein Günther Sohn von G & R Racing hat sich den V2 für den Einsatz in der F32 zur Brust genommen. 169 PS und 196 Nm sollen dabei herausgekommen sein. Es klingt nach viiiel mehr. „Den Auspuff haben wir leider nicht eingetragen bekommen“, meint Fred lapidar. Kein Wunder. Doch das sei das Einzige.
Gang rein. Leinen los! Das Monster rollt. Irgendwie, so denke ich, muss die Kiste fahrbar sein. Fred, der seine exquisiten Stücke meist selbst gassi führt, hat mir beiläufig erzählt, dass er bereits 4000 Kilometer auf die F32 geritten hat: von Daytona bis Sturgis, Mallorca Bike Week. Mit den 360 Kilo Gewicht hat der Muskelmotor keine Probleme. Obwohl getunt, läuft er im unteren Drehzahldrittel recht ausgewogen, spannt seine Muckis aber mächtig ab Drehzahlmitte. Interessiert beobachte ich den Tacho: 70, 80, 120 km/h. Alles ganz normal, spurstabil, lässig. Lang läuft eben. Und lang ist die F32. Ihr Radstand misst 1960 Millimeter.
Doch gehen wir mal kurz zurück in den Fahrschulunterricht für Rennfahrer. Um denen den Einfluss von leichten Rädern zu erklären, müssen sie eine Radachse mit beiden Händen halten, auf der ein Rad rotiert. Je schneller es rotiert, desto schwieriger ist es, die Achse zu lenken. Stichwort Kreiselkräfte. Ein größerer Radumfang hat denselben Effekt. Man könnte auch sagen: Das Rad stabilisiert, weil es stets geradeaus und senkrecht zur Fahrbahn laufen will. Um es kurz zu machen: Je schneller man fährt, desto stoischer will die F32 geradeaus laufen. Einen Pylonenparcours schnell zu durchstechen, bedarf gar richtiger Wuchterei. So unfahrbar, wie jeder denkt, der sie stehen sieht, ist sie alsonicht. Im Gegenteil. Die F32 macht richtig Spaß. Performance-orientierte Piloten würden zwar ein wenig kräftigere Bremsen fordern und Tourenfahrer mehr Sitzkomfort. Doch, was soll's? Ist die schon verkauft? „So gut wie“, brummt Fred, „gehört eigentlich nach Amerika.“ Wegen der schnurgeraden Highways? „Nee. Wenn du die dort vorm Supermarkt abstellst, kommen die Leute angerannt und finden sie geil. Hierzulande erntet man nur Kopfschütteln ...“
Fred Kodlin (56), gelernter Heizungsbauer, macht sich 1982 selbstständig und stellt Teile für den Custombereich her. Er besitzt drei Meistertitel (u. a. Schmiedemeister) und wird letztlich Fahrzeughersteller. Kodlin beschäftigt derzeit neun Mitarbeiter. Er war der erste Europäer, der in den USA als wichtiger Customizer wahrgenommen wurde. Viele seiner Bikes wurden weltweit prämiert und mit Preisen überhäuft.
Mehr Infos: www.kodlin.com
Motor: Harley-Davidson-Big Twin, G & R-Tuning, 2030 cm³, 169 PS, 196 Nm, Sechsganggetriebe, E-Starter
Bodywork: Rahmen, Schwinge, Fender, Lampenmaske, Koffer, Elektrik, Air-Ride-System, Blinker, Gabel, Koffer – alles Kodlin-Eigenanfertigungen. Ausnahmen: PM-Sechskolben-Bremszangen, PM-Brems- und Kupplungsarmatur, Räder, Stereoanlage, MaikX-Sattel. Die komplette Bodywork ist in Stahl ausgeführt. Reifen vorn 140/40-32, hinten 200/45-18
Idee und Zeichnungen: Len Kodlin
Preis: über 200.000 Euro
Arbeitszeit: rund zehn Monate