Die Startzeremonie hat etwas von einer Operation an offenen Lungenflügeln, zu der gleich zwei Tupfer gereicht werden. Kein Choke, keine Beschleunigerpumpe unterstützt die Schiebervergaser. Rechts mit dem Tupfer fluten, bis der Sprit überläuft. Links dasselbe. Diese Prozedur kennst du nur aus Geschichten alter Haudegen. Volle Konzentration. Leerlauf drin? Beide Benzinhähne offen? Dann Zündschalter und Startknopf unterm Tank suchen. Zündung!
Der Anlasser summt, die riesige, rostrote Schwungscheibe rotiert. KAWUMM. Der V2 ist da. In beiden Zylindern brennt es. Die 40er-Dellortos gieren nach Luft, offene Ansaugtrichter schnappen nach den Knien. Im weißen Veglia-Drehzahlmesser tanzt der Zeiger. Standgas? Fehlanzeige. Jetzt bloß den Leerlauf bei 2000 Touren halten. Nicht weniger, sonst war alles für die Katz. Nicht mehr, weil der »Betonmischer« schonend warm werden soll. Es ist wirklich ein großes Gefühl, wenns links und rechts gleichmäßig bollert.
Bei jedem Gasstoß neigt sich die Guzzi erst nach rechts und dann zurück in die Mittellage. Mit jeder Faser des Körpers spürst du das Kippmoment der in Längsachse rotierenden Kurbelwelle. Schade, dass man »Sound« nicht abdrucken kann. Nicht das Bellen aus der Edelstahl-
Auspuffanlage von HTMoto. Auch nicht das Grummeln aus den knackig-kurzen Ansaugtrichtern. Und erst recht nicht das Rasseln bei gezogener Einscheiben-Trockenkupplung.
Offen liegt sie, wie alles an diesem Motorrad, und ist ebenfalls eine Eigenkreation der Aachener Guzzi-Schmiede HTMoto (siehe Info-Kasten). Deren Chef, Hartmut Taborsky, hatte eine Idee: ein Motorrad im Stil der 750er-Weltrekord-Guzzi von 1969 zu bauen. Als Basis da-
für diente eine V7 von 1970. Pragmatisch und clever hat Taborsky sie zu neuem
Leben erweckt. Etwa den Rahmen versteift, mit Knotenblechen sowie Zusatzstreben im Bereich des Steuerkopfs und an den vorderen und hinteren Unterzügen. »Weil eine V7 normalerweise ab 120 km/h wackelt wie ein Damenfahrrad...«
Das Herzstück des Classic Racers bildet der kräftig modifizierte 90-Grad-V-Twin aus der Le Mans I. Geänderte Zylinder,
Kolben und Carillo-Pleuel tun darin Dienst. Der Motor kommt mit 90 Millimeter Bohrung und 78 Millimeter Hub jetzt auf
992 cm3. Dank fein gewuchteten Kurbeltriebs, HTMoto-Nockenwelle und neuen Brennräumen mit Doppelzündung präsentiert sich der V2 richtig fit. Ferner besitzt
er noch eine programmierbare HTMoto-Zündanlage. Kolbenbodenkühlung und Ölkühler unterm Steuerkopf sorgen für einen kühlen Kopf. Zumindest beim Motor.
Denn dies ist ein straßentauglicher
Racer, geboren, um bei Klassik-Rennen
im Kreis zu fahren. PS: Echte 86. Puls: 130. Runter vom Montageständer, die Italienerin schnalzt los. Den Wohlfühlbereich des V2 erfährst du intuitiv, fühlst dich förmlich in ihn hinein, siehst vorm geistigen Auge Stoßstangen schwingen, Kolben steppen und die vermutlich zentnerschwere Kurbelwelle rotieren. Nur verdammt wenig von der Landschaft um dich rum. Die Linie der Guzzi: schmal, lang, flach. Die Sitzhaltung des Guzzisti: angespannt, anstrengend, anmutig. Wer ergreift hier wen?
Du fügst dich, spannst dich weit über den ellenlangen 24-Liter-Tank. 67 Zentimeter liegen zwischen Steuerkopf und Vorderkante der Sitzbank. Bei einer aktuellen Ducati 999 sind es nur vier Zentimeter weniger. Und doch liegt eine Welt dazwischen. Demutsvoll greifst du die unterhalb der glänzenden Gabelbrücke angeschlagenen Lenkerstummel. Für kleinere Fahrer eine Leidenschaft, die Leiden schafft. Den Horizont kannst du nur erahnen, machst
in Serpentinen den totalen Blindflug. Kaum möglich, den Kopf gegen den Nacken
weiter nach oben und den Blick mehr nach vorn zu richten.
Wer sich nur halbherzig auf diese
Guzzi einlässt, hat verloren. Ganz oder gar
nicht. Sie fordert, will es wissen, energisch
geführt werden. Ein Café Racer ist sie
jedenfalls nicht, so ganz ohne Ständer. Gar nicht dran zu denken, sich vor Publikum anlehnungsbedürftig einen Baum oder eine Mauer suchen zu müssen. Nein, du träumst von klassischen Rennstrecken, Spa, Monza, Le Mans. Doch mit einem Mal ist sie da, die Neuzeit.
Eine aktuelle R6 kreischt dir entgegen, mit 15000 Touren. Ihr hohes Summen legt sich über den tiefen Bass der V7. Ja, die Welt hat sich weiter gedreht. Na und? Dein Motorrad ist das letzte Aufbäumen der
»Eisenzeit« gegen das Elektronikzeitalter.
Auf verlorenem Posten, aber innerlich aufrecht. Der Motor vibriert nicht. Er stampft, hämmert und pocht. Und hängt doch fein am Gas. Aus diversen Poren schwitzt er
Öl raus, am Generator etwa und dem
rechten Ventildeckel. Aber bei 4000/min bekommt der V2 seinen zweiten Frühling und stürmt impulsiv bis 8000 Touren.
Mag der Vergleich auch hinken, angesichts aktueller Abgas- und Lärmvorschriften: Diese alte Dame hat mehr Drehzahlreserven und vor allem einen homogeneren Drehmomentverlauf als eine heutige V11 Le Mans mit 1064 cm3 siehe Leistungsdiagramm. Wie eine eiserne Faust greift der Endantrieb nach dem Hinterrad. Kardanreaktionen? Kein Fahrstuhleffekt, doch beim Runterschalten ist Zwischengas gefragt, um ein abrupt stehendes Hinterrad zu vermeiden. Das Motorbremsmoment ist einfach immens. Immerhin
rasten die Gänge sauber, lässt sich der Leerlauf leicht finden. Dies ist nicht mal
bei neueren Maschinen aus Mandello del Lario selbstverständlich.
Stoisch rennt die weniger als vier Zentner schwere Guzzi geradeaus. Dazu liegt sie erstaunlich stabil in Schräglage. Sie mag lange, schön geschwungene Bögen. Dann verwöhnt sie dich, gibt sich zielgenau und stoisch. Die Fahrwerksgeometrie des Classic Racers entspricht laut Taborsky fast genau einer Le Mans I. Doch bei der V7 hängt das Triebwerk zu Guns-
ten eines niedrigeren Schwerpunkts rund sechs Zentimeter tiefer im Rahmen. Dennoch gilt es, ihr in Kehren deinen Willen aufzuzwingen. Sie ist ein schönes Biest.
Dazu passt, dass sie nach jedem Abstellen des Zweizylinders angeschoben werden will. Und das ist nicht ohne. Da-
bei vermeldet die dreiteilige Ladekontrollleuchte im kargen Cockpit »alles im grünen Bereich«. Liefert die 180-Watt-Lichtmaschine aus einer Ducati 999 R nicht genügend Saft? Doch, aber der Regler ist defekt. Die kleine Batterie genießt einen Ehrenplatz: Sie sitzt im offenen Rahmendreieck auf
einer massiven Alu-Platte zwischen den Zylindern. Die Verkleidung mit dem Hella-Rundscheinwerfer ist vorgestülpt wie das Maul eines Lippfisches. So gehört das. Aus GFK lässt HTMoto die Verkleidung
fertigen, ebenso wie den Tank, die Radabdeckungen und den Einmannhöcker.
An Motorräder dieses Schlags hat der MOTORRAD-Cartoonist Holger Aue sein Herz verloren. Weil sie ehrlich sind und mechanisch, nicht immer willig, dafür stets spannend, keine Computer auf Rädern. Es ist, was es ist. Die Liebe zu eleganten
Formen. Die Lust an der Bewegung. Der Klang einer verblichenen Epoche. Aus heutiger Sicht ist alles falsch an diesem Motorrad: Ergonomie, Zuverlässigkeit, Alltagstauglichkeit. Doch du gewöhnst dich daran, auch an ihren unverschämten Wendekreis von 7,90 Metern. Besser als erwartet funktioniert die Gabel der Le Mans I mit dünnen 35er-Standröhrchen. Trocken wie italienischer Weißwein verdauen die Konis derbe Stöße, informieren allzeit
direkt über den Asphaltzustand.
Exzellent haften die Radialreifen Bridgestone BT 45. Fein sind die Hochschulterfelgen, vorn 2,5 Zoll breit und mit 36 Speichen, hinten dreizöllig mit 40 Speichen. Pizza-Format haben die Trommelbremsen, hinten 250, vorn 260 Millimeter Durchmesser. Jene Doppel-Duplex von
einer Yamaha TZ verzögert äußerst mau. Am »Kabel ziehen« ist hier wörtlich zu nehmen, doch offenbar sind die Bremsbacken noch nicht richtig eingelaufen.
Am Abend, wenn die Sonne tief steht, glänzen die Bremstrommeln wie glühen-
des Roheisen beim Hochofenabstich. Das
versöhnt. Lediglich 149 Kilometer gab das eintägige Rendezvous her. Doch du willst keine Sekunde mit dem V7 Classic Racer missen. Arrivederci, Guzzi!
Technische Daten - HTMoto-Moto Guzzi V7 Classic Racer
Hubraum: 992 cm3, Bohrung x Hub: 90 x 78 Millimeter, Leistung: 85 PS bei 8000/min, Vergaserdurchmesser: 40 mm, Gewicht: 198 Kilogramm vollgetankt, Tankinhalt: 24 Liter, Radstand: 1485 mm, Lenkkopfwinkel:
63 Grad, Reifendimensionen: 110/80 18 vorn, 140/70 18 hinten, Preis: je nach Basis und Ausstattung
HTMoto-Moto
Die 1980 gegründete Firma HTMoto gilt als eine der Top-Adressen für Guzzisti in Europa. Neben Wartungsservice und Versandhandel für Ersatzteile und Zubehör hat sich Hartmut Taborsky vor allem wegen seiner Umbauten einen Namen gemacht. Dazu bedient
er sich eines eigenen Motor- und Rollenprüfstands. Für Klassik-
Rennen stehen ein mobiler Werkstattwagen inklusive Leistungsprüfstand parat sowie fünf Rundmotoren-Racer zum Verleih bereit.
Alle Parts der im Fahrbericht beschriebenen V7 Classic Racer kann Hartmut Taborsky einzeln liefern oder umbauen. Er selbst fuhr mit diesem Motorrad bei Renntrainings und beim Dreistunden-Classic-Endurance-Rennen in Croix. Dazu müssen nur Scheinwerfer, Kellermänner und Schutzbleche runter. Auf dem Foto links fährt sein Sohn Robin (18 Jahre). Er startet mit der V7 in der Saison 2006 bei Klassik-Rennen. Mit anderen Kolben und angepasster Kurbelwelle wären für den V2 aus der Le Mans I bis zu knapp 1100 cm3 drin.
Im Jahr 2001 präsentierte HTMoto das »Ultra-Low-Emission-Bike« auf Basis einer V11 Sport: dank beheizten G-Kats, Schub-
abschaltung, Doppelzündung, Sekundärluftsystem und insbesondere neuer Software das abgasärmste Motorrad überhaupt. Es nahm Euro 3 vorweg und düpierte die Serienhersteller. Weitere Infos gibt es unter Telefon 02408/1761 und www.htmoto.de.