Royal Enfield Hunter 350 im Fahrbericht
Zu agil, zu leicht und zu handlich – what?

Günstig in Unterhalt und Anschaffung, befriedigend verarbeitet, kultig und zeitlos – die Royal Enfield Hunter 350 füllt eine Nische, die in Deutschland noch niemand auf dem Schirm hat.

Royal Enfield Hunter 350 Fahrbericht
Foto: Royal Enfield

Von allen 621.197 im Jahr 2021 verkauften RE-Bikes verkaufte Royal Enfield 550.557 allein in Indien. Das entspricht 88 Prozent der Gesamtproduktion. Europa und der Rest der Welt ist also nur ein Nischenmarkt für die Inder. Das soll sich mit der Hunter 350 ändern. Und wahrscheinlich wird es das auch. Denn viele auf Royal Enfield eingeschworene indische Kollegen, mit denen wir vor Ort sprachen, waren enttäuscht. Die Hunter sei ihnen zu agil, zu leicht und zu handlich, um eine waschechte Royal Enfield zu sein. What?

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Royal Enfield Hunter 350 fühlt sich federleicht an

Junge, haben die Probleme! Was nach dem Ende eines Kultes klingt, wird auf der anderen Seite bestimmt viele Türen öffnen. Das hofft auch B. Govindarajan, CEO des Unternehmens, der den gesamten Event begleitet hat. Er bezeichnet die Royal Enfield Hunter 350 als einen monumentalen Baustein für den weiteren Erfolg des Unternehmens. Der Antrieb ist mechanisch absolut identisch mit dem, der im Schwesterbike Meteor, einem kleinen Cruiser, der es in Teilen Europas unter die Top 50 verkaufter Bikes geschafft hat, verbaut wird. Sogar die Sekundärübersetzung hat man beibehalten. Das war’s aber auch schon. Bedingt durch eine andere Auspuffanlage, einen geänderten Luftfilter plus neues Kennfeld reagiert der Motor etwas spontaner auf Gasbefehle als in der Meteor. Der Rahmen sowie fast alle Anbauteile wurden ebenfalls neu entwickelt. Und das spürt man bereits beim ersten Probesitzen. Die vollgetankt nur 181 Kilo schwere Royal Enfield Hunter 350 fühlt sich federleicht an.

Nur 80 cm Sitzhöhe

Ihre Taille ist schmal, die Sitzhöhe beträgt lediglich 800 Millimeter. Kurzbeinige werden sich freuen. Der Lenker liegt gut in der Hand, man sitzt aufrecht und fasst bereits beim Erstkontakt Urvertrauen. Was positiv klingt, hat auch eine Schattenseite. Unter Menschen ab 1,85 Meter aufwärts wirkt die Hunter wie ein Mokick.

E-Gestartet wird über einen Kill-Off-Schalter am rechten Lenkerende. Sofort traktort der langhubig ausgelegte Single stoisch vor sich hin. Der beständige Leerlauf kokettiert mit dem Charme eines Stationärmotors. Aufgrund seiner Konzeption – luftgekühlt, zwei Ventile – und seiner Euro-5-Homologation, schickt der ganz in Schwarz gehaltene Antrieb gerade mal 20,2 PS über die Kette ans 140er Hinterrad. Um das zu erreichen muss die Kurbelwelle sich 6.100 Mal drehen. Seine maximal 27 Nm Drehmoment liegen bereits bei 4.000 Touren an. Heiliger Bimbam, wird sich jetzt manch einer denken, das sind doch Werte, die man den luftgekühlten 250er-Singles der 1980er zuordnet! Stimmt. Doch was hierzulande kaum zu Freudensprüngen verführt, gilt in Asien als Big Bike und Statussymbol. Die Royal Enfield Hunter 350 zielt auf die stetig wachsende Mittelschicht, die sich zwar noch kein Auto leisten kann, es aber leid ist, mit zehn PS unterwegs zu sein. Die Maschine könnte zum neuen Muli der Mittelschicht werden, denn sie ist gefällig und anspruchslos.

Knapp über 3 l/100 km Verbrauch

Damit das gelingt, stimmt sogar der Durst. Knapp über drei Liter soll die Maschine auf 100 km trinken, 13 Liter bunkert der Tank. Die theoretische Reichweite von gut 400 Kilometern ist für ein solch kleines, klassisches Bike außerordentlich. All das geht einem durch den Kopf, wenn der Motor behände stampft und sich die Royal Enfield Hunter 350 in Bewegung setzt. Die erste Testfahrt geht durch das mitternächtliche Bangkok. Der Lenker ist schmal genug, um sich durch die endlosen Blechlawinen zu tricksen, im ersten Gang und mit Kupplungsunterstützung tastet man sich in Bangkoks Suburbs hinaus.

Royal Enfield Hunter 350 Fahrbericht
Rolf Henniges
Kupplungszug-Verstellung oldschool, doch darunter befindet sich ein moderner USB-Anschluss.

Die Royal Enfield Hunter 350 wirkt stets gefällig. Kupplungsdosierung? Perfekt. Gangwechsel? Präzise. Gasannahme? Gut. Bremsen? Verrichten ihren Job unauffällig. Dann endlich ist die Straße frei, es ist weit nach Mitternacht. Wir mussten den erlaubten Topspeed innerhalb von Bangkok erst im Nachhinein recherchieren – maximal 50 km/h sind erlaubt. Unser Tourguide mit Leseschwäche oder Interpretationsproblemen nahm die 50 ab Mitternacht als Richtgeschwindigkeit, die es NIE zu unterschreiten galt. Gut so, denn sonst hätten wir auch nie erfahren, dass die Tachonadel die 80 km/h recht schnell erreicht, sich bis 105 gut schlägt und irgendwann, nach einigem Anlauf, auch die 120 anzeigt. 114 echte km/h sollen laut Hersteller drin sein. Um das zu leisten, ackert sich der Single durch alle Drehzahlen und vibriert dabei angenehm. Eine Balancerwelle eliminiert Bad Vibrations. Im letzten Drehzahlfünftel wirkt der Langhuber träge, doch das verzeiht man ihm. Der Antrieb ist über den gesamten Drehzahlbereich elastisch. Er nimmt es einem auch nicht krumm, wenn man aus niedrigen Drehzahlen heraus im größeren der fünf Gänge beschleunigt.

Dumpfer, kerniger und kraftvoller Sound

Und das macht Spaß! Weil Fahrfeeling und Sound stimmen. Dieser ist auch ohne Klappentricks überraschend dumpf, kernig und kraftvoll. Bleibt zu hoffen, dass dies auch so bleibt, denn bei den in Bangkok gefahrenen Royal Enfield Hunter 350 handelte es sich um Vorserienbikes. Die Produktion läuft erst im September an. Das Handling der 350er ist ebenso lupenrein wie das Lenkverhalten – hier steht nicht nur easy going, sondern auch easy driving im Vordergrund. Der vergleichsweise üppige Lenkeinschlag bildet mit dem nur 1.370 Millimeter kurzen Radstand eine perfekte Symbiose. Auch der kleine Wendekreis begeistert und die Federelemente verrichten ihren Job befriedigend. Mit 130 Millimeter Weg vorn und 102 hinten generieren sie zwar keinen Komfort wie die einer GS, doch sie dämpfen die groben Schläge zufriedenstellen ab und das kleine Bike bleibt stabil.

Bei den Reifen setzen die Inder auf den Zoom XL von CEAT. Kollegen, die bei Nässe gefahren waren, mahnten zur Vorsicht. Im Trockenen gibt es hingegen ausreichend Grip. Die Verarbeitung ist 1970-like mit wenig Plastik und viel schnörkellosem Stahl, der Reparaturen selbst im hintersten Kaff der Pampa durch den Dorfschmied erlaubt. Es gibt kaum echte Kritikpunkte an der Royal Enfield Hunter 350, vor allem dann nicht, wenn man sich den voraussichtlichen Preis vor Augen führt. In Thailand wird die Hunter für umgerechnet 3.500 Euro angeboten, im Heimatland Indien steht sie ab 2.000 Euro in den Schaufenstern. Ausgehend von diesen Preisen und in Relation mit denen des Schwesterbikes Meteor ins Verhältnis gesetzt, lag die Vermutung nahe, dass die Hunter hierzulande irgendwo bei 4.000 Euro landen wird. Tatsächlich kostet sie in Europa ab 4.490 Euro. Das ist eine Kampfansage. Und gleichzeitig die Einladung an alle, die schon immer mal ein wieselflinkes Heritage-Bike fahren wollten, ohne dafür ein Vermögen ausgeben zu müssen.

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Die Enfields ...
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... lassen mich komplett kalt.
... machen mich richtig an – allerdings "nur" als Zweitmotorrad.
... machen mich richtig an – und rund 20 PS reichen für meine Zwecke auch.
... sehen gut aus, aber kaufen würde ich mir keine.

Fazit

Wer ein gefälliges, kleines Motorrad sucht, das zu beschaulichem Landstraßen mäandern ebenso taugt, wie als Commuter in überfüllten Innenstädten, sollte sich die Royal Enfield Hunter 350 ruhig mal anschauen. Sie kommt ab Mitte November in den deutschen Handel.

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Erscheinungsdatum 15.09.2023