Wer an Traditionen klebt, verkauft bald nur noch an Traditionalisten. Andererseits gilt als abgezockt, wer sein Erbe verleugnet. Deshalb hat BMW eine neue Alte und eine alte Neue gebracht. Beide heißen R nineT.
Wer an Traditionen klebt, verkauft bald nur noch an Traditionalisten. Andererseits gilt als abgezockt, wer sein Erbe verleugnet. Deshalb hat BMW eine neue Alte und eine alte Neue gebracht. Beide heißen R nineT.
Im kunterbunten Boom der frühen 70er-Jahre konnte man Großväter nur mit einem einzigen, oft genug schwarzen Motorrad beeindrucken. Das erleichterte zwar dem einen oder anderen die Finanzierung, führte den Hersteller jedoch ab 1980 in eine Sackgasse: Hast du noch Sex, oder fährst du schon BMW? Dieser Stammtisch-Klassiker verwirrte sogar glühende Anhänger des ohv-Boxers. Opa fühlte sich in seinen Erinnerungen ebenfalls gestört, ganz zu schweigen von der weißblauen Autosparte mit ihrer auf testosterongesteuerte Dynamiker ausgerichteten Modellpalette. Nein, da musste endlich frische Luft rein, ins Motorradgeschäft, und zwar richtig. Längs und liegend eingebaute Drei- beziehungsweise Vierzylinder, das gab’s noch nie, das rockt total. Der Stammtisch nahm diese K-Modelle dankend an: Hast du noch Sex, oder...
Obendrein meckerte jetzt auch noch die eigene Klientel, doch die wackeren BMW-Zweiradler rissen das Steuer radikal herum. Sie bauten Boxer. Ganz neu, fast ohne ohv, sehr erfolgreich. Später bauten sie vor lauter Übermut Singles sowie Zwei-, Vier- und Sechszylinder reihenweise, brachten dem Boxer dohc bei und hüllten ihn in Wasser – und dann kam der Geburtstag. Urplötzlich, 2013, 90 Jahre BMW-Motorräder. So ein Mist, so ein verdammter, denn wie bei jedem solcher Ehrentage gilt auch unter Motorrädern, dass die zum Fest versammelten Nachfahren ihren Altvorderen ähneln sollten. Irgendwie oder irgendwo, oder zumindest einige, schon damit es was zum Reden gibt. Schau nur, dieselben Ohren! Nein, wie süß, ihre Oma hat beim Bremsen auch immer gequietscht! Und ständig mit Packtaschen unterwegs, der kleine Ausreißer! Welche familiären Bande jedoch verknüpften R 32 und S 1000 RR? Würde sich die Urmutter aller weißblauen Boxer durch die Gesellschaft einer R 1200 GS Adventure bedroht fühlen? Was hätte sie einer K 1600 GT zu sagen? Fragen über Fragen, erst der Vorstand fand die richtige Antwort: Eine Neuheit kommt her, Kruzifix. Mit Boxer, luftgekühlt, aber ohne Schnabel und nicht schielend.
Dieses Anforderungsprofil stellte die Designabteilung vor eine schwere Probe, denn zuvor hatte sie sich 20 Jahre darin geübt, das Original möglichst zu verfremden. Zum Glück fand sich noch jemand, der Rundscheinwerfer und Schwarzlack konnte, sogar Drahtspeichen wurden aufgetrieben. Die Neue machte sich prima, lernte blitzschnell laufen, schon stand die Frage nach der geeigneten Schule im Raum: BMW-Sportler (S 1000 RR und HP4) besuchen zwecks Wesensbildung die Toni-Mang-Racing-Academy, Kassenschlager (alle anderen) das Uli-Hoeneß-Business-Institut, aber dem Vorstand gefiel beides nicht. Im vorliegenden Fall gehe es um Tradition, um Historie sogar, um Höheres also. Nachdenklich legte er seinen Kopf in die Hände. Schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, flüsterte er merkwürdig beseelt: „Max-Friz-Internat“.
Die jüngeren Entwickler mutmaßten, Friz müsse ein Kanzler unter Ludwig II. gewesen sein, ältere zischten, an dieser Bildungseinrichtung habe zuletzt die R 100 RS ihre Reifeprüfung gemacht. Egal, die Zeit drängte, hastig packten alle der Neuen ein Bündel, verzurrten es – mangels Gepäckträger! – auf der Sitzbank und schickten sie ins Leben. Man hörte in den nächsten Monaten wenig von der Kleinen. Mal ein Ansichtskärtchen. Sie genieße die Allgäuer Luft, das schon, aber der Lehrkörper sei seltsam. Mal eine SMS. In Elektrotechnik bei der R 80/7 käme man über Kontaktzündung nicht hinaus. Selten ein Brief. In Geschichte werde sie von einer R 60/5 ständig mit Zitaten eines gewissen Franz Josef Strauß belästigt, aber die Hausmeisterin, eine fast 60-jährige R 50 mit Schwinge vorn und hinten, sei allerliebst: Mit der übe sie in den Pausen immer Leerlauf. Zwei Tage vor der Geburtstagsfeier bekam sie ihr Zeugnis, nur Einser und Zweier, außer in Deutsch.
Beim Jubelfest auf dem Münchner Oberwiesenfeld musste sie natürlich am Kindertisch Platz nehmen, und dort ging es hoch her. Die aktuelle GS prahlte mit ihren Wasserkühlern, die S 1000 R mit ihrem Leistungsgewicht, die R 1200 RT mit ihrer Stereoanlage und die K 1600 GTL Exclusive mit ihrem Preis. Der Luxustourer knuffte der Neuen in die Kühlrippen: „Und was kannst du?“ Als Antwort hätte „fast alles“ kommen können, doch das erschien ihr zu streitsüchtig. Also sagte sie: „Back to the Roots.“ Die eingebildet gerunzelte Verkleidungsstirn der 1600er gebot dann doch eine Spitze: „Es geht um Sex, nicht um sechs.“ Die RT meinte, verstanden zu haben, legte Kuschelrock auf und schaltete die Sitzheizung ein. Seufzend vertiefte die GS das Thema: Ihre Zweiventil-Schwestern hätten einfach ein Sauglück gehabt. Mit Hubert Auriol oder Gaston Rahier durch die Sahara zu stauben. Solche Kerle! Drei-Tage-Bärte! Verschwitzt! Tollkühn! Uahh! „Aber eine RS 54“, entgegnete die Neue, „mit Enders/Engelhardt über alle Straßenkurse Europas und sechsmal Weltmeister? Wie geil war das erst?“ Die anderen schauten sich betreten an. „Na, Königswellen-Boxer, Gespann, von 1954 bis 1974 insgesamt 19 Titel, ihr wisst schon.“
Falsch. Sie wussten gar nichts. Also holte die Neue ein Foto raus und legte es der Exclusive unter die Leselampe. „Die sind ja quasi auf dem Boden rumgekrochen“, entrüstete sich der Touring-Sixpack beim Anblick des 74er-WM-Gespanns, der GS fielen sofort die Kegelradgehäuse an den Zylinderköpfen auf: „Oh, ha, ce, Leute, ich fass es nicht“, die RT hatte nur Augen für Ralf Engelhardt und spielte Elvis. Wo man so klassisches Zeug lerne, wollte die S 1000 R wissen und machte damit die nächste Baustelle auf. „Kurzreferat?“, fragte die Neue, alle nickten. „Also früher, ganz früher hat BMW nur den Boxer gebaut, keine Motorräder. Das Ding hieß M 2 B 15 und wurde an alle möglichen Hersteller verkauft. Aber dann vereinten sich BMW und einer dieser Abnehmer, und dessen Motorrad, die Helios, war Murks. Nur Seiltänzer könnten darauf fahren, hat Max Friz seinem Chef erzählt, und da hat der Chef geantwortet, weggeschmissen werde gar nichts. Er solle es entweder umbauen, oder... an Seiltänzer verkaufen!“ Tosendes Gelächter brandete auf, die Neue fuhr fort: „Max Friz war Chefkonstrukteur und stand auf fette Sechszylinder.“ Der Exclusive entfuhr ein entrüstetes Zungenschnalzen. „Ja, Flugzeugmotoren. Der fühlte sich echt angemacht. Er hat dann 1923 den bis dahin mit querliegender Kurbelwelle verbauten Boxer einfach um 90 Grad gedreht. Getriebe und Wellenantrieb ran, fertig.“ Die anderen hatten mit offenen Drosselklappen gelauscht, nun entfuhr ihnen eine vielzylindrige Fehlzündung: „Oma?!“
Am Kopfende des Haupttisches unterbrach die R 32 zuckend ihr Nickerchen und lächelte dem Nachwuchs gütig zu, da schlug auch schon die R 100 GS mit dem Ölmessstab ans Glas und hob zur Laudatio an: „Liebe Boxer, liebe... Familie! Wie sagte schon Thomas Morus vor über 500 Jahren: Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.“ Die RT wunderte sich flüsternd, dass es damals schon Boxer gegeben habe. „Was das Genie Max Friz einst ersann, es verwehte nicht im Winde. Nein, unsere Oma lebt!“ Die R 32 kramte in ihrem Werkzeugkasten nach dem Spitzentüchlein, sämtliche Vorkriegsmodelle griffen instinktiv zum Glas. „Und sie wurde ständig weiterentwickelt.“ Die Gläser sanken wieder herab. „Doch es geht nicht immer nur um Fortschritt. Auch um Verkaufszahlen.“ Die Behörden- und Militärkräder entboten lautstarke Zustimmung. „Tapfere Männer ersannen deshalb 1980 eine BMW-Enduro und gaben so die Flamme weiter.“ Die F-, K- und S-Fraktionen tuschelten, eine K 75 schluchzte gar laut auf. Endlich hob die GS ihren Maßkrug. „Lasst uns anstoßen: auf den alten Friz und...“ In dem Moment zog sich die R 32 am Tisch hoch, reckte ihr Glas in die Höhe und schmetterte mit untrüglichem Gefühl für Familienzusammenhalt ein „Mia san mia“ in den Saal.
Noch im Zurücksinken leerte sie ihre Maß auf einen Zug, augenblicklich ging unter animalischem Gejohle die Post ab. Sämtliche Zweiventiler schütteten sich ihr verbleites Super rein, die R 90 S brüllte „Ex, das schmiert die Ventile“, und die sonst so schüchterne R 45 kicherte „Noch eins, ich brauch mehr Innenkühlung.“ Darauf bekam die elegante Vorkriegssportlerin R 5 einen Liebesanfall, R 90 S und 100 RS hauten sich vor Freude krachend einen anderen Gang rein. Bald schunkelten alle vier Arm in Arm „Oans, zwoa, gsuffa“, im Militärblock stützten R 12 und Wehrmachtsgespann einander in schwankendem Stillstand, langten von F bis K allen Vorbeilaufenden an die Packtaschen und sangen vierstimmig „Ich hatt einen Kameraden.“ Am Kindertisch gab es natürlich nur Super E10, trotzdem amüsierte sich auch der Nachwuchs prächtig. Die RT trippelte im zweiten Gang vom Tanz mit einer geschmeidigen Vollschwinge zurück, fragte atemlos, was Holz vor der Hütte bedeute, und schaltete auf Bayern1. Die Exclusive wollte von der Neuen wissen, wie „back to the Roots“ überhaupt gehe.
Als R 68 und S 1000 RR aneinandergerieten, weil Letztere Erstere eine lahme Krücke genannt hatte und daraufhin Erstere Letzterer mit dem Aufschrei „I bin da easchte 100-Meilen-Renner, du Kettenschwuchtel, du breissische“ ihre Telegabel in den Verkleidungsausschnitt rammte, knipste eine grün-weiß lackierte R 80 ihr Blaulicht an und rief zum Familienfoto. „Omi, du zu den Kindern, bitte. Alle anderen nach Baujahren von links nach rechts, aber friedlich.“ Routiniert eskortierte sie die R 32 vor eine Neuschwanstein-Fotowand, wies der Neuen den Platz links neben ihrer Urmutter zu. „Extra zu deinem 90. gebaut, Omi, was Traditionelles.“ Die Alte linste herüber: „An Seitenventiler?“ Geschwind grätschte die R 80 ein und hielt ihr das Abschlusszeugnis vor den Scheinwerfer. „Ha wos!? Beim Friz Maxl warst. Lebt dea no, dea olde Schwob?“ Wieder bewies die R 80 unerwartete Geistesgegenwart und zeigte auf den Einser in Sport. „Ja freili, schneidig san ma allweil.“ So lieb und treuherzig wirkte das greise Boxerlein, die Neue wollte unbedingt was Nettes sagen. Aber die R 32 kam ihr zuvor: „Sag amal, wie hoaßt denn?“ Alle schauten sie an. Jetzt musste es raus. Schamröte stieg ihr die Zylinderköpfe hoch. Zögernd bollerte sie los: „Also... R...“, schon drängte die Alte: „Blind bin i no ned, des siag i selba. Und weida?“ Erneut machte sich die R 80 um Ordnung und Familienfrieden verdient: „Neinz’g, Oma, Err neinz’g hoaßt’s.“