Yamaha XSR 900 (2022) im Fahrbericht
Fahrdynamisch mehr Sport statt Retro

"Legend reborn","Sports Heritage" und"Faster Sons" – diese Begriffe aus dem Repertoire des Yamaha-Marketingsprech umschweben die Neuausgabe der XSR 900. Doch welcher Eindruck ergibt sich beim Fahren?

Yamaha XSR 900 Fahrbericht
Foto: Yamaha

Mittelblau, Hellblau, dezente gelbe Streifen – diese Farbkombination zierte einst eine Zigarettenpackung und dann im Rahmen eines Sponsorings die Rennmaschinen, die der französische Yamaha-Importeur Sonauto einsetzte. Heute bildet sie – mit zartem Metallicflitter vermischt – die spektakulärere von zwei Farbvarianten, in denen die Yamaha XSR 900 erhältlich ist. Diese Lackierung ist das einzige Merkmal der Yamaha XSR 900, welches die Gegenwart zuverlässig mit der Yamaha-Historie verbindet. Die anderen Merkmale, die solches leisten sollen, wirken herbeigeredet. So oder so geht es dabei nur um Äußerlichkeiten. Erst beim Fahren eröffnet sich mit der Perspektive von oben auch der Blick ins Innere eines Motorrad. Und der bringt eines mit aller Deutlichkeit und Authentizität zutage: Die Yamaha XSR 900 ist ein modernes, durch und durch sportliches Naked Bike.

Motorrad-Neuheiten

Die Technik entspricht derjenigen der Tracer9, allerdings kommt die Yamaha XSR 900 ohne Verkleidung aus und trägt einen tieferem Lenker. Mit ihrer Crossover-Schwester teilt sie den Motor, den Rahmen, die lange Schwinge und den langen Federweg an der Hinterhand, die Bremsen, die Fahrhilfen, fast alles. Doch allein aus der unterschiedlichen Gestaltung der Ergonomie erwächst ein ganz anderes Fahrgefühl. Es fällt dem Fahrer leichter als auf der Tracer und der MT-09, sein Körpergewicht je nach Fahrsituation zu verlagern, vor allem nach vorn. Der Lenker sitzt wie erwähnt auf kürzeren Risern näher über der Gabelbrücke; diese Position verbessert auch das Gefühl fürs Vorderrad. Man merkt das daran, dass man rasch Vertrauen zur Yamaha XSR 900 fasst und sie unbeschwert mit zügigem Tempo in die Kurven laufen lässt.

XSR 900 weicht auch in Schräglage willig aus

Besonders eindrucksvoll war die Fahrt über eine derb-holprige Kurvenstrecke. Federung und Dämpfung gaben sich sportlich, hätten mit sanfteren Dämpferraten sicherlich mehr Komfort geboten, hielten die Räder aber auch in der straffen Einstellung erstaunlich gut auf der Fahrbahn. Die relativ langen Federwege der Yamaha XSR 900 machen sich auf solchen Straßen bezahlt.

Anders als auf gut ausgebauten Strecken empfiehlt sich hier ein ständiger Wechsel zwischen Fern- und Nahblick. Wer will schon, schulmäßig die nächste Kurve im Blick, ins Schlagloch derjenigen fallen, deren Scheitel er gerade durchfährt? Also weicht man so gut es geht denjenigen aus, die sich plötzlich vor dem Vorderrad auftun. Solche Schlenker, auch wenn sie schon in beträchtlicher Schräglage eingeleitet werden, macht die Yamaha XSR 900 willig und leichtfüßig mit.

Mit dem zweitschärfsten der Motor-Kennfelder ließ sich auch in den Passagen mit engen Wechselkurven gut arbeiten, auch ABS und Traktionskontrolle blieben in den "bürgerlichen" Einstellungen unauffällig. Zügiges Dahinfahren ohne Knöpfchendrücken macht viel Spaß auf der Yamaha XSR 900 – in dieser Hinsicht ist sie klassischen Vorbildern tatsächlich sehr nahe.

95 dbA Standgeräusch dank Gummimatte

Für diejenigen, die Wert darauf legen, Tiroler Lärmregularien zu befolgen, hält die Yamaha XSR 900 eine gute Nachricht bereit: Im Unterschied zur MT-09 und Tracer9 ist sie mit einem Standgeräusch von 95 dbA homologiert. Die Yamaha-Techniker haben festgestellt, dass der Tank wie ein Resonanzkörper wirkt und die Motorgeräusche verstärkt. Mit einer Gummimatte an der Tankunterseite haben sie diesen Effekt stark genug eingedämmt.

Der famose Dreizylinder mit seiner hinreißenden Charakteristik konnte also unverändert bleiben. Sein Klang und seine Drehfreude passen bestens zum sportlichen Charakter der Yamaha XSR 900. Wie aktuelle Prüfstandsmessungen mit der Tracer9 ergaben, bauen sich Leistung und Drehmoment gleichmäßig auf mit einer spürbaren Vorliebe für den oberen Drehzahlbereich. Doch keine Sorge, dank relativ kurzer Übersetzung zieht der Dreizylinder auch energisch aus dem Drehzahlkeller und dem Erdgeschoss. Und trotz der kurzen Übersetzung nippt er nur sparsam am Benzinvorrat. Das wird sich in der XSR-Umgebung nicht wesentlich anders darstellen, diese Prognose sei gewagt.

Last but not least verdient noch das kleine, aber gut ablesbare TFT-Display ein Lob, das die Yamaha XSR 900 den anderen 900er-Yamahas voraus hat. Es zeigt zwar weniger an, als das Doppel-Display der Tracer, macht aber auch kein Geheimnis aus dem, was es mitzuteilen hat.

Fazit

Die XSR 900 in ihrer neuen Version offenbart schon auf den ersten kurvigen Kilometern sportliche Talente. Straff gefedert, satt gedämpft und von einem temperamentvollen Motor angetrieben, geht sie über die fahrdynamischen Anforderungen an einen Retro-Klassiker hinaus. Wer es sportlich mag, kann ihre Einordung in dieses Segment getrost ignorieren.

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MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023