Wie eine Wand türmt sich der zehn Meter hohe Sandhügel auf. Etwa 60 Grad steil steigen seine Flanken auf. Das sind 173 Prozent Steigung – und kein Anlauf. Der ultimative Härtetest als Warm-up. Da hoch? Aus dem Stand? Die Erfahrung lehrt: keine Chance. Die 98 PS, die der V2 aus der KTM 990 Adventure drückt, mögen das Heck vielleicht bis Australien durchfräsen, aber keine zwei Motorradlängen nach oben bugsieren. Selbst Jo Bauer, Profi-Stuntfahrer und notorischer Optimist, zweifelt hier. Nervös rutscht er auf der Sitzbank hin und her – und gibt Vollgas. Sofort reißt das Motorrad an, wühlt sich wie ein Schaufelradbagger voran. Einige Augenblicke später reckt Jo triumphierend die Faust in die Höhe, die Maschine steht auf der Spitze des Sandhaufens. Und Guido Koch, der Erbauer dieser Allrad-Enduro, atmet tief durch. Beide wissen: Das Sandlager liegt in einem baden-württembergischen Industriegebiet, nicht in der Atacama-Wüste. Doch hier wie dort wäre ein konventionell angetriebenes Motorrad am tiefsandigen Klettersteig kläglich gescheitert.
KTM 990 Adventure als Basismaschine
So wie Guido auf einer Tour Mitte der 2000er-Jahre in Island. Bis zu den Seitenkoffern hatte sich seine Honda XLV 750 R in den Schmodder gewühlt. Erst einige Stunden später war der Ingenieur um eine Erkenntnis reicher: Mit Allradantrieb wäre das wohl nicht passiert.
Seit Generationen versuchen Tüftler, die Geländegängigkeit eines Motorrads durch einen zusätzlichen Vorderradantrieb zu verbessern. Mit bescheidenem Erfolg. Selbst professionelle Ansätze, wie die 2003 von Yamaha und Öhlins präsentierte WR 450 F mit Hydro-Motor in der Vorderradnabe, verschwanden wieder in der Versenkung. Aktuellere Versuche mit einer per Elektromotor angetriebenen Front (zum Beispiel Wunderlich-X2 im Jahr 2016) blieben Studien. Die Probleme sind vielschichtig: zu geringer Wirkungsgrad, zu viel benötigter Bauraum, zu hohes Gewicht – oder alles zusammen.
„Lösungen, die auf einem konventionellen, hinterradgetriebenen Motorrad basieren, führen nicht zum Ziel“, erkannte der heute 48-jährige Karlsruher Guido Koch bereits damals: „Die Kraftübertragung aufs Vorderrad muss die Basis des Konzepts darstellen. Das Motorrad muss praktisch um den Frontantrieb herumgebaut werden“, erklärt Koch. Eine Grundsatzentscheidung, die letztlich dazu beitragen sollte, dass sich von der Basismaschine, einer KTM 990 Adventure, nur Motor und Hinterradschwinge im Allradprojekt wiederfinden. Der Rest ist Eigenleistung von Guido Koch. Kein Teil, welches der passionierte Maschinenbauer nicht auf dem Heim-PC in CAD zeichnete, im eigenen Keller schweißte, fräste, laminierte oder bei befreundeten Zulieferern bearbeiten oder gießen ließ.
Enthusiasmus in jeder Schraube
So wie das bei einem englischen Spezialisten gegossene, zentrale Bauteil des Fronttrieblers, die Vorderradschwinge. Erst die ermöglicht es, die Kraft über eine vergleichsweise leichte Kette zum Vorderrad zu übertragen, ohne mit den Federbewegungen des Vorderrads in Konflikt zu geraten. Das entscheidende Kriterium dabei ist die konzentrische Lagerung der Vorderrad-Schwingenachse und des zweiten Kettenritzels, das damit eine konstante Kettenspannung erlaubt. Angetrieben wird die Frontkette über einen Zahnriemen, dessen Treibrad quasi Schulter an Schulter mit dem Sekundär-Kettenritzel auf der Getriebeausgangswelle sitzt. Konstruktiv dennoch eine leichte Fingerübung im Vergleich zur weiteren Herausforderung, welche das Bekenntnis zur Vorderradschwinge zur Folge hatte: die Achsschenkellenkung.
Dem nicht genug, veredelte der findige Tüftler die technisch aufwendige Vorderradführung noch mit einem homokinetischen Gelenk, das selbst bei vollem Lenkeinschlag von 35 Grad eine ruckfreie Kraftübertragung garantiert. Und wer hat's konstruiert und gebaut? Meister Koch. Genauso wie den aus dem Vollen gefrästen Radlenker, den aus Kohlefaser laminierten Längslenker oder das Lenkgestänge. Braucht's noch eine Antwort auf die Frage, wer den Rahmen aus Edelstahl-Rohren vermaßt und geschweißt, die drei sieben, neun und elf Liter großen Aramid-Benzintanks samt Verkleidung modelliert sowie dem 3-D-Drucker die Form des Öltanks und des Instrumentenhalters aus Alu einprogrammiert hat? Koch natürlich. In jeder Schraube sind der Enthusiasmus und das profunde Know-how des so nüchtern wirkenden Technikers zu spüren.
Wiegt 50 Kilo weniger als die Original-KTM
Doch zurück auf den Sandberg im Industriegebiet. Längst hat Jo Bauer die DT-A – das Kürzel steht für Double Traction, Evolutionsstufe A – den Hang herabrollen lassen. Der schmucklose Aluhebel am linken Lenkerende ist noch immer nach vorn gedrückt, der Allradantrieb damit aktiviert. Kann er auch bleiben. Drei Kupplungen hat Koch auf der sich im Innern des vorderen Schwingenlagers drehenden Zwischenwelle verbaut: die Basis-Kupplung, die den Vorderradantrieb mit besagtem Lenkerschalter manuell zu- oder abschaltet, eine Überlastkupplung und eine Betriebskupplung mit Freilauf. Wegen Letzterer rollt Jo gewissermaßen konventionell auf die sandige Motocross-Piste nebenan. Erst bei mehr als fünf Prozent Schlupf am Hinterrad wird der Vorderradantrieb automatisch zugeschaltet. Ganz lässig lässt sich das Experimental-Bike im Zickzack auf der Geraden von links nach rechts schwenken. Kein Wunder, wird die MOTORRAD-Waage für die leere DT-A später doch gerade mal 171 Kilogramm zeigen – ziemlich genau 50 Kilogramm weniger als die Serien-KTM.
Auch von Frontlastigkeit keine Spur. Inklusive sämtlicher Antriebsteile bewegt sich die DT-A mit 17 Kilo ungefederter Massen am Vorderrad auf Augenhöhe von Telegabel-Lösungen. Und weil die unkonventionelle Vorderpartie zudem von Lenk- und Bremskräften befreit ist, saugt das von Wilbers gelieferte Federbein jede noch so kleine Bodenwelle sensibel weg. Beeindruckend. Auch weil der Komfort nicht mit einer tief eintauchenden Front beim Bremsen erkauft werden muss. Wie bei der Telelever-Konstruktion der BMW-GS-Modelle sorgt der sogenannte Nickausgleich auch beim harten Anbremsen für Stabilität. Vom Bremsen will Jo jetzt nichts wissen, kombiniert die zügigen Teile der sandigen Motocross-Strecke zu einem für die DT-A artgerechten Rallye-Parcours. Und ist von den Socken. Noch nie – so wird er später kommentieren – hat er im Gelände eine derartige Beschleunigung erlebt!
Stuntfahrer Jo Bauer muss umdenken
Treiben 100 PS jede konventionelle Reiseenduro mit durchdrehendem Hinterrad in der Regel eher schlingernd voran, zerrt die kooperierende Front das Bike bolzgerade nach vorn. Wie ein Magnet scheint der Boden die Reifen festzusaugen, jede Bewegung am Gasgriff verwandelt sich in Vorschub. Ungewohnt, jahrzehntelang eingeschliffene Reflexe müssen neu kalibriert werden. Driften? Vergangenheit. Bereits beim geringsten Ansatz scheint ein imaginärer Faden an der Front zu ziehen und das Motorrad gerade zu stellen. Die ersten Kurven enden in viel zu weiten Bögen. Erst jetzt versteht man, weshalb Guido die Sitzbank bis fast an den Lenkkopf nach vorn zog: Vorrutschen, das Vorderrad maximal belasten, abbiegen, das Motorrad aufrichten und Gas – das ist die passende Kurventechnik. Die enorme Traktion wird die zunächst verlorenen Meter sofort zurückerobern und ziemlich sicher noch ein paar obendrauf packen. Weniger fahrerische Finesse und Konzentration erfordert der pragmatische Allrad-Fahrstil allemal. Ein Aspekt, der bei den gewöhnlich kräftig untersteuernden Frontpartien konventioneller Reiseenduros und Rallye-Bikes durchaus für erhebliche Entspannung im Kommandostand sorgen könnte. In kaum kalkulierbaren Tiefen isländischer Schlammlöcher sowieso.
Ob es jemals so weit kommen wird, hängt nicht zuletzt von der Dauerhaltbarkeit der Konstruktion und potenziellen Investoren ab. Ein gelungener Auftritt bei der Dakar hat – siehe BMW, Honda und KTM – bereits so manchem Konzept zum Durchbruch verholfen. Auch Guido würde seine DT-A liebend gern in die Wüste schicken. Aber in die Atacama, nicht in die im Industriegebiet.
INTERMOT 2018: Weltpremieren in Köln
Auch wenn der internationale Fachhandel, Importeure und vor allem die Motorrad-Fans die aktuelle Sommersaison im Fokus haben, ein Herbsttermin ist bereits heute gesetzt: die INTERMOT vom 3. bis 7. Oktober in Köln.

Hier kommen Fachpublikum und Privatbesucher voll auf ihre Kosten, denn die Top-Player wie BMW, Honda, Suzuki, Kawasaki und Yamaha, aber auch Ducati, Harley-Davidson, Triumph und KTM präsentieren hier Weltpremieren und setzen neue Maßstäbe. Dabei werden Highlights in der Enduro- und Reiseenduro-Klasse natürlich nicht fehlen. Man darf gespannt sein, was beispielsweise KTM an Neuheiten vorstellen wird. Und die aktuellen Maschinen kann man auf dem Probefahrparcours der INTERMOT gleich persönlich testen. Wer also frühzeitig wissen will, welche Enduro im nächsten Jahr angesagt ist – auf zur INTERMOT nach Köln!
Sonderausstellung "Total abgefahren": Auf dem Messeboulevard im Gang zwischen den Messehallen 6 und 9 und am Stand von MOTORRAD in Halle 9, Stand A 41.