Power ist nothing without control – so lautete einst die Werbebotschaft eines Reifenherstellers. Diese Erkenntnis kann man getrost auf das Alpen-Masters übertragen. Kraft allein nützt hier oben in den Bergen gar nichts. Im Gegenteil, oft wirken aufgeblasene Muskelpakete kontraproduktiv. Es kommt auf die Feinheiten an. Wo die Kraft einsetzt, wie sie umsetzbar ist.
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Alpen-Masters 2014
So testet MOTORRAD
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Da gibt es beispielsweise dieses irre Kurvenkarussell gleich am Ortsausgang von Corvara, wenn man Richtung Passo di Campolongo fährt. Diese Achterbahn komprimiert auf wenigen Kilometern alle erdenklichen Gemeinheiten des Straßenbaus. Fiese Kehren mit spitzestmöglichen Radien und rampenhaften Höhenunterschieden, üble Verwerfungen in der Straßenoberfläche mit tiefen Rissen und Frostaufbrüchen, knallharte Löcher und großflächiges Schotter-Flickwerk – schlimmer geht es nimmer, man fühlt sich wie in einer Enduro-Sonderprüfung. Auf jeden Fall eine äußerst selektive Passage, die gnadenlos Spreu und Weizen trennt.
Wer in diesem Abschnitt die Aprilia Tuono V4 R ABS erwischt hat, muss gehörig schuften und schwitzen. Power hat diese gestrippte Supersport-Granate mehr, viel mehr als genug. Nur eben am falschen Ende. Gefühlt geht untenrum nämlich erst einmal gar nichts, dann plötzlich viel zu viel. Doch leider befindet man sich in dem Kehrengewusel immer unten im Drehzahlband. Denn unglücklicherweise ist die Tuono mit ihrem eng gestuften Sportgetriebe auf Speed übersetzt. Gut auf der Piste, wie sie im Track-Test unlängst beweisen konnte.
Klägliche Messwerte der Aprilia Tuono V4 R ABS
Nur hier in den Alpen sieht die Sache völlig anders aus. Man mag es kaum erwähnen, aber selbst der Griff zum Kupplungshebel bleibt nicht tabu. Klägliche Messwerte untermauern das subjektive Gefühl. Auch sonst ist die typische Passfahrt im unteren Geschwindigkeitsbereich mit der Aprilia Tuono V4 R ABS eine anstrengende Angelegenheit. Die Federung arbeitet gnadenlos straff, da wird jedes Schlagloch seinem Namen gerecht. Und auch der Sitzkomfort ist nur mit bretthart zu beschreiben. Ein Sozius sollte ohnehin lieber zu Hause bleiben.
Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass es auf der Testrunde durchaus kurze Passagen gibt, wo die Qualitäten der Aprilia Tuono V4 R ABS aufblitzen. In flüssigen Kurven und bei langen Geraden zum Passo di Falzarego hinauf glänzt die Aprilia mit überragendem Handling, mit knackig-präziser Lenkung und feinster Transparenz. Hier kommt der V4 zumindest zeitweise auf Drehzahlen, bei denen er seine Power demonstrieren kann – und natürlich seinen einzigartig röhrenden V4-Sound. Überraschend kommt das alles nicht, man konnte es ahnen.
Ducati Monster 1200 hiermit rehabilitiert
Überraschungen gab es eher in einem anderen Fall. Die Ducati Monster 1200 erntete im Top-Test Kritik am Lenkverhalten in Kurven, das verhieß nichts Gutes fürs alpine Kurven-Terrain. Doch wuselte diese Testmaschine mit einer Selbstverständlichkeit durch kniffligste Kehren, dass manche Tester gar nicht mehr absteigen wollten. Unerklärlich bleibt die Ursache für den Charakterwandel, schließlich rollte auch diese Testmaschine auf den Erstausrüstungspneus Pirelli Diablo Rosso II. Vielleicht doch ein fehlerhafter Reifen beim Top-Test? Wir werden es nie ergründen. Doch die Monster sei hiermit rehabilitiert, sie entpuppte sich in den Alpen als lustvoller Kurvenwetzer.
Zumal die die Ducati Monster 1200 die erste Monster ist, die auch Buckelpisten ganz ordentlich wegsteckt. Die Federung spricht sauber an, wirkt gut ausbalanciert. Tendenziell federt sie sogar etwas soft auf holperigem Geläuf. Doch hier in den Alpen gilt grundsätzlich: lieber weich als hart. Ordentlichen Komfort bietet auch der gut geformte Fahrersitz, selbst ein Beifahrer hält es eine ganze Weile aus.
Über jeden Zweifel erhaben ist der Testastretta-V2. Wer auf Twins steht, findet hier sein Glück. Die Ducati Monster 1200 hämmert aus jeder Drehzahl derart spontan und mit solcher Macht los, dass jeder Beschleunigungsvorgang zum puren Genuss wird. Der einzigartige Schlag durchdringt jede Faser des Körpers, der unrhythmische Puls berauscht den Fahrer. Ein Triebwerk, das mit Qualitäten wie Emotionen begeistert.
KTM 1290 Super Duke R weniger Race-orientiert
In diesem anspruchsvollen Umfeld sollte die gewaltige KTM 1290 Super Duke R eigentlich ihre Talente entfalten können. Vertritt sie doch eine völlig andere Philosophie als Aprilia Tuono V4 R ABS oder BMW S 1000 R. Weniger Race-orientiert, weniger radikal bei der Chassis-Auslegung, charakterlich deutlich zahmer trotz urgewaltiger Power. Wie viel Kraft in dem unspektakulär blubbernden V2 steckt, beweist der brutale Durchzug am Berg. Und das trotz ellenlanger Endübersetzung, die nur einen mäßigen Durchzug im letzten Gang ergibt.
Wirklich brutal wirkt die KTM 1290 Super Duke R nie, was mehrere Gründe hat: die lange Übersetzung, der gedämpfte Sound und die defensive Auslegung der Motorabstimmung. Bei 3000/min tut sich bei Vollgas zunächst recht wenig, man spürt förmlich, wie die Elektronik die Drosselklappen nur allmählich öffnet und mit Verzögerung den vollen Druck freigibt. Das ist keineswegs ein Nachteil, ergibt erst diesen sanften Charakter des „Beasts“. Emotional bietet aber die Ducati Monster 1200 mehr Spektakel, was Sound und Explosivität angeht.
Traktionskontrolle hat alle Hände voll zu tun
Darf die KTM 1290 Super Duke R dann aber mal zuschlagen, zeigt die wild blinkende Kontrollleuchte, dass die Traktionskontrolle etwa auf den langen Geraden am Passo di Fedaia mit seinem wechselnden Asphalt alle Hände voll zu tun hat. Sobald der Asphalt von dunkel-griffig auf hell-poliert wechselt, setzt sofort das Blitzlichtgewitter im Cockpit ein. Dass der Motor trotz hektisch arbeitender Traktionskontrolle gleichmäßig weiterzieht, beweist die Brillanz moderner Assistenzsysteme.
Trotz des prachtvollen Motors kann die KTM 1290 Super Duke R ihre konzeptionellen Stärken jedoch nicht voll ausspielen. Denn ganz so geschmeidig und elegant wie der Motor es verheißt, rollt sie nicht durch das Kurvengeschlängel. Sie fordert mehr Krafteinsatz am Lenker als die drei Mitbewerber, lenkt etwas weniger präzise ein und verlangt immer korrigierende Lenkeingriffe vom Fahrer. Und auf den üblen Wellenpisten oben unterhalb des Passo Valparola rollt die WP-Federung nicht besonders geschmeidig ab, da kommt einiges an Stößen und Schlägen zum Fahrer durch. Es ist keineswegs so, dass die KTM enttäuschte: Aber manch einer hatte in diesem Umfeld Sensationelles von ihr erwartet.
BMW S 1000 R mit schier unendlichem Drehzahlband
Aber schließlich kommt es immer auf die Maßstäbe an. Und die Messlatte legt ein Gegner extrem hoch. Man muss das unsymmetrische Design der BMW S 1000 R nicht lieben, man muss den Vierzylinder-Charakter nicht unbedingt schätzen, doch ihre Qualitäten verdienen höchsten Respekt. Der Motor hat Qualm in allen Lebenslagen, ist nicht nur akustisch in jeder Sekunde präsent. Der 1000er-Vierzylinder bietet ein unendliches Drehzahlband von unter 2000 bis über 12.000/min, arbeitet in jeder Situation mit perfekter Akkuratesse. Dazu kommt allerfeinste Elektronik mit verschiedenen Fahrprogrammen, jederzeit auf Knopfdruck blitzschnell abrufbar. Ein perfekt funktionierender Schaltassistent, der die Zahnräder schon beim Gedanken ans Schalten ineinander flutschen lässt.
Ein semiaktives Fahrwerk auf allerhöchstem Niveau rundet das Paket ab. Sicher gibt es Grenzen des Komforts auf gröbstem Geläuf, da würde nur mehr Federweg helfen. Aber ansonsten bügelt die elektronisch kontrollierte Federung alles weg, spricht fein an und lässt sich an Beladung und Fahrbedingungen per Knopfdruck anpassen. Ja, gibt es denn gar nichts zu kritisieren bei der BMW S 1000 R? Die vordere Bremse vielleicht, deren Druckpunkt nach eiliger Abfahrt zwar nicht weich wird, aber sich ein wenig zum Lenker verschiebt.
Vier völlig unterschiedliche, faszinierende Powerbikes also, die in den Alpen trotzdem konzeptbedingt Schwächen haben. Die touristischen Qualitäten der vier Power-Nakeds halten sich in Grenzen. Bei Soziustauglichkeit, Gepäckunterbringung und Windschutz müssen die fahrdynamischen Spaßgeräte mehr oder weniger passen. Was aber Dynamik und Fahrspaß angeht, da sind sie unschlagbar.
Platzierung und Fazit
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Vier völlig unterschiedliche, faszinierende Powerbikes also, die in den Alpen trotzdem konzeptbedingt Schwächen haben.
Platz 1: BMW S 1000 R
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Den 1. Platz belegt die BMW S 1000 R.
Plus
souveräne Fahrleistungen
hervorragende Fahrbarkeit
Assistenzsysteme perfekt
messerscharfe Lenkung
Fahrwerk mit weitem Abstimmungsbereich
beste Ausstattun
Minus
Soziussitz unkomfortabel
schlechte Gepäckunterbringung
Platz 2: KTM 1290 Super Duke R
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Auf dem 2. Platz landet die KTM 1290 Super Duke R.
Plus
kraftvoller Motor mit guter Kontrollierbarkeit
hervorragende Fahrleistungen
Bedienungselemente leichtgängig
sehr effektive Bremse
Minus
Lenkung nicht ganz so präzise
etwas höherer Verbrauch
wenig Komfort für Sozius
Platz 3: Ducati Monster 1200
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Den 3. Platz macht die Ducati Monster 1200.
Plus
Motor mit viel Kraft
von unten
ordentlicher Sitzkomfort
niedriger Verbrauch
und gute Reichweite
sehr gute Bremse
Minus
mäßige Zuladung
Kupplung schwergängig
Federung hinten bei Beladung zu weich
Schaltung harsch
Platz 4: Aprilia Tuono V4 R ABS
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Auf dem 4. Platz landet die Aprilia Tuono V4 R ABS.
Plus
herausragende Handlichkeit
feine Rückmeldung
viel Power oben
Minus
Motor unten ziemlich schwachbrüstig
schlechte Messwerte
hoher Verbrauch
hartes Fahrwerk
wenig Sitzkomfort für beide Passagiere
Fazit
MRD
Die Bewertung der Power-Nakeds im Alpen-Masters 2014.
Neuer Test – alter Sieger. Gegen die Überlegenheit der BMW S 1000 R ist diesem kniffligen Umfeld kein Kraut gewachsen. Die sanfte KTM 1290 Super Duke R verliert fahrwerksmäßig den Anschluss, kann sich aber klar der unerwartet auftrumpfenden Ducati Monster 1200 erwehren. Sichtlich unwohl fühlt sich allein die Aprilia Tuono V4 R. Sie ist einfach zu sehr Racer, für sie ist hier alles viel zu eng, viel zu langsam.