Geschmäcker sind verschieden. Wer nach einem Aufeinandertreffen mit den beiden Maschinen Aprilia Tuono V4 1100 RR und Aprilia RSV4 RR jedoch keinen erhöhten Herzschlag verspürt, sollte seine Vitalfunktionen überprüfen lassen.
Geschmäcker sind verschieden. Wer nach einem Aufeinandertreffen mit den beiden Maschinen Aprilia Tuono V4 1100 RR und Aprilia RSV4 RR jedoch keinen erhöhten Herzschlag verspürt, sollte seine Vitalfunktionen überprüfen lassen.
Wie wir feststellen können, eignet sich der Lausitzring für einen medizinischen Check dieser Art ganz vortrefflich. Topfebene Oberfläche oder außergewöhnlich griffiger Asphalt? Keineswegs! Es handelt sich um einen Kurs mit ausgeprägten Bodenwellen, gewöhnungsbedürftigem Streckenlayout und ziemlich rutschigen Passagen. Genau das Richtige, um zwei Heizgeräte derselben DNA, aber unterschiedlicher Gestalt gegeneinander antreten zu lassen. Die neue Aprilia Tuono V4 1100 RR unterscheidet sich nicht nur wegen ihres mächtigeren Hubraums deutlich von der Aprilia RSV4 RR, aber beide Delinquenten vereint dieselbe Marschrichtung. Es geht vorwärts, und das mit ordentlich Alarm!
Eines muss man dem Eurospeedway nebenbei lassen: Dieser monumentale Aufbau von einer Zuschauertribüne auf der rechten Flanke der Zielgeraden nötigt Respekt ab. Schade zwar, dass die Reihen der Schaulustigen in der Vergangenheit selten ganz gefüllt waren. Aber das ist eine andere Geschichte. Dafür rollt an diesem Tag der gewitterartige Hall der beiden V4-Donnerhunde umso eindrucksvoller die 650 Meter lange Gerade hinunter. Von den leeren Rängen hallt das Motorengeräusch der Aprilia Tuono V4 1100 RR und der Aprilia RSV4 RR wie ein bedrohliches Unwetter wider.
Der charakteristische Sound liegt in der asymmetrischen Zündfolge und den speziellen Zündabständen von 0° - 180° - 425° - 605° begründet. Erst zünden die 65-Grad-V-Motoren den Sprit in Zylinder Nummer eins, dann in Nummer drei, gefolgt von zwei und vier. Sowohl der auf nominell 201 PS erstarkte Motor der Aprilia RSV4 RR mit 999 cm³ als auch der auf 1077 cm³ aufgebohrte Treibsatz der Aprilia Tuono V4 1100 RR legen eine vorbildliche, weil äußerst lineare Leistungsentfaltung über den gesamten Drehzahlbereich an den Tag. Mehrmals ändern die V4 beim aggressiven Hochdrehen ihre tonale Farbgebung. Wer das einmal erlebt hat, nimmt wahrscheinlich allein deshalb von einem konventionellen Reihenvierer Abschied.
Obwohl die Überarbeitung des Naked Bikes eine gesteigerte Straßen- und Alltagstauglichkeit zum Ziel hatte, treten die Supersport-Gene der Tuono prägnant in den Vordergrund. Zwar gerieten die Sachs-Federelemente in ihrer Grundauslegung im Gegensatz zum Vorgängermodell weniger straff und die Polsterung des Fahrersitzes erweist sich als regelrecht langstreckentauglich. Doch so richtig wohl fühlt sich die Aprilia Tuono V4 1100 RR erst im Attacke-Modus. Bei Schleichtempo verlangt die 1100er oft den Einsatz der Kupplung.
Im Verbund mit deren unfeiner Dosierbarkeit sowie des im unteren Drehzahlbereich grob übersetzenden Ride-by-Wire fällt beispielsweise der Betrieb in der City rasch auf die Nerven. Stehen die Drosselklappen aber wie hier auf der Renne auf Durchlass, spielen Elektronik und Mechanik in feinster Harmonie zusammen. Mit der Tuono geht es verdammt zügig über die Piste. Bis kurz vor seinem Leistungszenit liegt die Kurve des 1100er-V4s oberhalb derjenigen der Aprilia RSV4 RR. Zwischen 3000 und 9000/min hebt die knackig kurz übersetzte Aprilia Tuono V4 1100 RR andauernd das Vorderrad und stachelt den Fahrer zu wilden Einradtänzen an. Mit deaktivierter Wheeliekontrolle überlebt ein Vorderreifen bestimmt bis zu drei Hinterreifen. Die Nackte liefert Fahrspaß pur und man könnte sich glatt die Frage stellen, wozu man da noch einen Supersportler braucht.
Tauscht man die Aprilia Tuono V4 1100 RR gegen die vollverkleidete Schwester ein, findet sich die Antwort darauf im wahrsten Sinne des Wortes schneller als gedacht. Auf der Aprilia RSV4 RR geht es noch einmal ganz anders um den Kurs. Temporeicher sowieso, vor allem aber mit höherer Genauigkeit. Das Motorrad kommuniziert mehr mit seinem Piloten und gibt in Sachen Gripniveau und möglichem Kurvenspeed bereitwilliger Auskunft über das physikalische Limit. Wo du die Tuono fast schon auswringen musst, fordert der Supersportler dank höherer Drehzahl- und Leistungsreserven mehr Demut.
Auf der Aprilia RSV4 RR sitzt der Pilot höher als auf der Tuono und hat das Vorderrad praktisch direkt in den Händen, was die phänomenale Rückmeldung von der Front ausmacht. Eng auf dem Motorrad zusammengefaltet, erweisen sich Windschutz und Fahrwerksstabilität im Vergleich zum Super-Naked auf ganz anderem Level. Weiterhin zeigen sich die Federelemente der Aprilia Tuono V4 1100 RR trotz straff gewählter Einstellung teilweise unterdämpft. Mitunter kann das Heck beim Herausbeschleunigen pumpen und die Gabel taucht beim harten Anbremsen zu weit ein. Beide Maschinen verlangen darüber hinaus eine präzise Fahrweise. Zug oder Druck am Lenker gilt es am Kurvenausgang zu vermeiden, sonst reagieren beide Aprilias mit Kickback. Das Phänomen tritt bei der Tuono noch deutlicher auf, da der 1100er-Motor aus der Drehzahlmitte heraus mehr Druck macht und die Front früher leicht werden lässt. Die RSV4 RR scheint auf der Rennstrecke nur das von ihrem Reiter vorgegebene Limit von Speed und Schräglage zu kennen.
Wird die 1100er genauso brutal umgelegt wie ihre supersportliche Schwester, schleift rechts herum die Hitzeschutzblende des Auspuffs. Als der Tester links herum über eine Bodenwelle des Rennackers ballert, vermeldet sogar der Seitenständer kurz Bodenkontakt. Vorsicht ist geboten, sonst hebelt man sich unter Umständen aus. Der RSV4 RR auf den Fersen bleiben zu wollen, kann über kurz oder lang kaum gut gehen. So verfügt der Supersportler weiterhin über die feinere Bremsanlage. Die teurere Version der Brembo-Monoblocks beißt schon beim Ein-Finger-Betrieb vehement in die Scheiben und lässt sich punktgenau dosieren, wohingegen die Bremse der Tuono mehr Handkraft verlangt und kein derart glasklares Feedback liefert. Hinten mitzubremsen kann teilweise notwendig werden. Auf der Rennstrecke dauert es unterm Strich nicht lange um zu erkennen, dass die RSV4 RR die Hosen an hat.
Einige Zeit später stehen die beiden Aprilia-Piloten in der Boxengasse neben den Bikes. Sie debattieren über Sieg und Niederlage, wobei die Diskussion hitzige Züge annimmt. Leider ist der Ausgang des Streitgesprächs nicht vollständig überliefert. Mit Sicherheit sagen kann man nur, dass der Puls beider Fahrer auf höchste Lebendigkeit hindeutet.
Zugegebenermaßen trugen wir uns nach der Prüfstandsmessung mit der direkt aus Noale stammenden RSV4 RF noch mit Zweifeln umher, ob die Leistungsausbeute in der Serie genauso potent ausfallen würde. Für diesen Test konnten wir uns von den freundlichen Aprilianern Thomas und Karsten Grebenstein aus Gera eine RR leihen – und siehe da: Wir haben Power! Die mit mächtigerem Hubraum gesegnete Aprilia Tuono V4 1100 RR drückt bis fast 10.000/min mehr Leistung auf die Rolle, bricht danach jedoch ein. Auf der Renne schnappt die Aprilia RSV4 RR genau dann zu wie ein hungriger Raptor.
Auf jeder Passage des Lausitzrings pulverisiert die Aprilia RSV4 RR die unverkleidete Aprilia Tuono V4 1100 RR mit Leichtigkeit und überquert die Ziellinie mit komfortablem Abstand. Austrainierter als dieses Superbike kann ein Sportler derzeit kaum sein. Sie begeistert nicht nur mit ordentlich Qualm, sondern überzeugt mit ihrem Gesamtpaket aus Motor, Fahrwerk, Bremsen und Elektronik auf der ganzen Linie.
Zwar bekam die Aprilia Tuono V4 1100 RR mehr Hubraum spendiert, doch ihre Auslegung geriet gleichsam weicher und mehr landstraßenorientiert als es noch beim Vorgängermodell der Fall war. Leider lassen sich die hinzugekommenen Landstraßenqualitäten nicht in dieselben Vorteile auf der Rennstrecke ummünzen.