Assistenzsysteme
Für Komfort und Sicherheit

Motorrad fahren gut und sicher

Elektronische Assistenzsysteme machen die Leistung moderner Motorräder beherrschbarer und bieten mehr Komfort, können uns aber auch vor Stürzen bewahren. Aktuelle Maschinen haben immer mehr davon, da tut Aufklärung not.

Für Komfort und Sicherheit
Foto: Hirano Ami

Das Institut für Zweiradsicherheit führte 2018 eine große Umfrage mit über 3800 Teilnehmern zum Thema Fahrerassistenzsysteme durch. Diese belegt unter anderem, dass etablierte Systeme einen höheren Beliebtheitsgrad erreichen als erst kürzlich eingeführte. Am bekanntesten und mittlerweile gut aufgenommen ist das ABS. Gut so, denn der Blockierverhinderer ist das mit Abstand wichtigste direkt eingreifende Assistenzsystem und seit 2017 Vorschrift für alle Neumotorräder über 125 Kubikzentimeter.

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Kurven-ABS hilft, beim Bremsen in Schräglage die Spur zu halten und nur gerade so stark zu bremsen, dass das Vorderrad nicht wegrutscht.

Laut ifz-Studie wissen aber noch lange nicht alle Motorradfahrer ausreichend über die modernen Systeme Bescheid, obwohl knapp 95 Prozent von ihnen diese begrüßen. Einen Gewinn für die aktive Sicherheit wie das ABS stellen hingegen etliche andere elektronische Assistenzsysteme dar, deren Sinn und Funktion sich noch nicht überall herumgesprochen hat. Dabei gilt es zu unterscheiden zwischen Systemen, die innerhalb der physikalischen Grenzen helfen, einen Ausrutscher zu verhindern und solchen, die das Fahren angenehmer machen. Um diese in erster Linie komfortorientierte Elektronik soll es hier nicht gehen. Und dann gibt es ganz neu noch Helferlein, die nach einem Unfall sogar Hilfe holen.

In diesem Kapitel haben wir diverse Situationen abgebildet, bei denen Assistenzsysteme für Fahrdynamik nützen können. Egal, ob sie nun ABS, Kurven-ABS, Antischlupfregelung, Stoppie- oder Wheeliekontrolle heißen. Sie alle eint, dass wir sie so lange nicht wahrnehmen, wie wir uns diesseits des Grenzbereiches aufhalten. Sprich, so unterwegs sind, dass dies auch mit einem konventionellen Motorrad ohne all die Elektronik sturzfrei möglich wäre. Sie greifen erst ein, wenn wir den Grenzbereich überschreiten würden und ohne sie dann auf die Nase fielen – oder zumindest alles Können aufbieten müssten, um nicht zu stürzen.

ABS und Kurven-ABS

Aber was tun die einzelnen Helferlein denn? Und wie tun sie das? Beginnen wir mit dem bekannten ABS, das erstmals 1988 in Serie verbaut wurde. Wenn wir die Bremse zu heftig betätigen, sprich, zu viel Bremsdruck einsteuern, öffnet ein Ventil und reduziert den Bremsdruck so weit, dass das Rad nicht mehr blockiert – bei einer Schreckbremsung zum Beispiel.

Jörg Künstle
Sensoren an beiden Rädern überwachen beim Bremsen wie beim Beschleunigen, dass sich beide Räder drehen und auch beide am Boden bleiben. Falls nicht, werden Bremsdruck oder Leistung reduziert.

Denn genau in diesem Fall, wo früher sehr viele Motorradfahrer gestürzt sind, ermöglicht die Technik nun eine sichere Vollbremsung. Moderne Systeme agieren so hart am Optimum, dass selbst ein geübter Fahrer ohne sie keinen Vorteil mehr erzielen kann. Nicht einmal mehr auf der Teststrecke, vom Alltag ganz zu schweigen.

Das gilt besonders für die nächste Stufe, das Kurven- oder Schräglagen-ABS, erstmals vorgestellt Ende 2013 in der KTM 1190 Adventure. Hier bezieht der Rechner zusätzlich zum Schlupf der Räder noch über sogenannte Gyro-Sensoren die Schräglage mit ein und reduziert in Abhängigkeit der Schräglage den Bremsdruck so weit, dass die Seitenführungskraft gerade noch ausreicht. Bei einer Schreckbremsung in Schräglage ist das ein enormer Sicherheitsgewinn! Wenn der Grip allerdings so schlecht ist, dass das Rad schon ohne Bremsung weggerutscht wäre, hilft natürlich auch kein Kurven-ABS mehr.

Wheelie- und Traktionskontrolle

Ähnliches gilt für die mitterweile ebenso bekannte wie beliebte Traktionskontrolle oder auch Antischlupfregelung. Sie stellt quasi das Gegenteil vom ABS dar und verhindert ein Durchdrehen der Räder beim Beschleunigen. Das wäre, präzise Geradeausfahrt vorausgesetzt, zunächst einmal kein Sicherheitsproblem.

Markus Jahn
Die Traktionskontrolle reduziert den Vortrieb bei mangelndem Grip und verhindert so ungewolltes, seitliches Ausbrechen des Hinterrads.

Ist die Straße jedoch nicht topfeben oder das Motorrad gar in Schräglage, droht ein seitlicher Rutscher. Wenn das Bike dann erstmal quer zur Fahrtrichtung steht und der erschrockene Fahrer das Gas zumacht, bekommt der Hinterreifen wieder Grip und die Maschine wirft ihren Dompteur im hohen Bogen ab – allgemein als „Highsider“ bekannt. Die Traktionskontrolle greift ein, bevor es so weit kommt, und kappt je nach Einstellung mehr oder weniger sanft die Leistung. Für Profis ist die ASR, die Anti-Schlupfregelung, oftmals einstellbar, um gezielte Drifts zu ermöglichen. Allerdings sollte einem stets bewusst sein, dass wir am Vorderrad keine „Wegrutschkontrolle“ haben. Wenn wir zu heftig einbiegen und die Maschine schon ohne zu bremsen über das Vorderrad schiebt, hilft uns auch keine Antischlupfregelung, denn die regelt am Hinterrad.

Ebenfalls über die Motorsteuerung funktioniert die Wheeliekontrolle. Wenn beim Beschleunigen das Vorderrad gen Himmel strebt, wird die Leistung so weit zurück genommen, dass es unten bleibt. Bei einem Stoppie, also einem abhebenden Hinterrad während des Bremsens, wird der Bremsdruck vorne so weit reduziert, dass das Hinterrad gerade eben so am Boden und die Fahrstabilität erhalten bleibt. Speziell letztere Einrichtung wird auch gerne als Überschlagschutz bezeichnet. Beide Techniken werden gerade im Motorsport eingesetzt, um voll am Limit bremsen und beschleunigen zu können. Bei Rennen kann man als Zuschauer das Einsetzen der ASR beim Rausbeschleunigen am veränderten Motorgeräusch aus den Kurven deutlich hören. Klar, dass leistungsstarke Maschinen auch auf der Straße damit sicherer unterwegs sind, sofern man die physikalischen Grenzen nicht überschreitet.

Motormappings und Fahrwerk

Der Fahrsicherheit ebenfalls durchaus dienlich können einstellbare Motormappings sein, bei denen die Reaktion der Einspritzanlage auf Befehle vom Gasgriff justiert werden kann. Knackig und direkt für zügige Fahrt auf trockenen Straßen etwa, oder etwas verhalten und sanfter einsetzend auf regennasser Fahrbahn.

Nicolas Streblow
Motormappings, ABS und Fahrwerk lassen sich über Fahrmodi programmieren; hier steht alles im Modus „Enduro“, die Federung auf Automatik.

Auch beim Fahrwerk moderner Bikes hat mittlerweile die Elektronik Einzug gehalten, in Form von auf Knopfdruck einstellbaren Federelementen, die so an verschiedene Beladungszustände oder wechselnde Fahrbahnbeschaffenheiten angepasst werden können. Anstatt mit einem Hakenschlüssel, Einstellrädern oder gar -schrauben sich die Finger schmutzig zu machen, reicht ein Knopfdruck, und Dämpfung wie Federvorspannung werden über elektronisch gesteuerte Stellmotoren passend justiert. Da ein falsch eingestelltes Fahrwerk neben dem eingeschränkten Fahrspaß durchaus auch ein Sicherheitsrisiko bedeuten kann, sind die Bits und Bytes anstelle der Klicks mehr als ein Komfortextra. Vor allem dann, wenn der Fahrer nicht tief genug in der Materie drinsteckt, um sich aus den unzähligen Möglichkeiten die jeweils passende herauszupicken. Vollends faszinierend wird die Vorstellung, wenn ein „aktives“ Fahrwerkverbaut ist, das Dämpfung und Ansprechverhalten der Federelemente sogar während der Fahrt selbsttätig und in Abhängigkeit vom Tempo an die jeweilige Fahrbahnbeschaffenheit anpasst.

Fahrmodi, Kurvenlicht, RDK

Krönung bei vielen aktuellen Reiseenduros, Supersportlern und großen Tourern ist die kombinierte Einstellmöglichkeit aller bisher genannten Parameter über die Auswahl verschiedener Fahrmodi.

Jörg Künstle
Das Kurvenlicht wird über Schräglagensensoren gesteuert und kompensiert die reduzierte Lichtausbeute des schräg stehenden Scheinwerfers (linkes Bild), der Lichtkegel leuchtet die Kurve besser aus (rechtes Bild).

In der Stellung „Sport“ etwa ist dann das Ansprechverhalten aufs Gas direkter, es steht die volle Leistung zur Verfügung, ABS und ASR regeln spät, die Dämpfung ist straff. Bei „Rain“ wird die Leistung reduziert, der Motor geht sanfter ans Gas, das Fahrwerk agiert nicht so straff und ABS wie ASR greifen früher ein. Dies kann einem den Umgang mit einem leistungsstarken, schweren Motorrad durchaus erleichtern. Bei „Enduro“ wird dann die Dämpfung noch weiter geöffnet, damit die Räder auf holprigem Geläuf stets Bodenkontakt halten, die ASR lässt Drifts zu und das ABS reagiert vorne spät, wird je nach Modell hinten sogar abgeschaltet.

Reifendruckkontrollsysteme, kurz RDK, warnen vor zu wenig Luft in den Reifen. Es gibt verschiedene Systeme, allen gemein ist, dass sie den Reifendruck messen und bei Unterschreitung eines vorher festgelegten Wertes im Cockpit warnen.

Ebenfalls keine Fahrhilfen, aber der aktiven Sicherheit sehr dienlich sind Kurvenlicht und „Toter-Winkel-Assistent“. Beim Kurvenlicht sorgt ein Schräglagensensor, gekoppelt an schwenkbare Reflektoren, für gute Ausleuchtung der Fahrbahn auch bei Kurvenfahrt, wo man sonst schon gerne mal einen großen, schwarzen Keil vor sich herschiebt.

Totwinkel-Warner, E-Call, Fahrzeugvernetzung

Das oben im Bild gezeigte Feature warnt mit einem leuchtenden Dreieck vor Fahrzeugen auf der Nebenspur, die wir nur sehen würden, wenn wir den Kopf zur Seite drehen. Bei Zweirädern aktuell nur von BMW am großen Tourenroller C 650 GT verbaut, hat diese Technik im Automobilbereich bereits bei vielen Modellen Einzug gehalten. Bleibt zu hoffen, dass sie Motorräder und Roller im„toten Winkel“ immer zuverlässig erkennt.

Wenn es dann trotz aller Vorsicht zu einem Unfall gekommen ist, kann ein System wie E-Call helfen. Am Motorrad fest verbaut und über Mobilfunk-Notruf mit einer Zentrale verbunden, ruft E-Call um Hilfe, wenn die Sensoren einen Unfall oder Sturz erkennen, auch wenn der Fahrer dazu nicht mehr in der Lage ist. Ist er ansprechbar, kann die Zentrale auch Kontakt aufnehmen. Eine Funktion, die gerade bei Alleinunfällen auf einsamen Strecken Leben retten kann. Doch auch, wenn der Biker zu einem Unfall dazu kommt, kann er selbst aktiv werden und über die SOS-Taste die Notrufzentrale direkt erreichen und Hilfe holen.

Im Autobereich wird die Vernetzung der Verkehrsteilnehmer bereits entschieden vorangetrieben. Fahrzeuge können etwa über WLAN und Mobilfunk miteinander kommunizieren und so zum Beispiel herannahende andere Fahrzeuge erkennen, bevor diese der Fahrer selbst sehen kann. So kann man entweder nur den Fahrer warnen oder die Technik leitet sogar Fahrmanöver ein, die eine drohende Kollision abwenden. Viele Hersteller arbeiten bereits an Systemen, die hier auch Motorräder mit einbeziehen. Bleibt zu wünschen, dass so künftig tatsächlich weniger Motorradfahrer übersehen werden.

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MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023