Heftiges Bremsen ist für viele Straßenfahrer ein Grauen und sogar für einige Hobbyracer nicht mehr als ein notwendiges Übel. Nur ganz wenige Motorradfahrer haben Spaß am Bremsen, sehen es gar als die Kür des sportlichen Fahrens an. Warum nur? Weil starkes Bremsen auf der Straße sehr häufig mit Notsituationen verbunden ist. Und Notsituationen immer was mit Schreck, Erschrecken und dem Gefühl des Ausgesetztsein zu tun haben. Es ist schlichtweg unangenehm, auf Unvorhersehbares schnell reagieren zu müssen. Doch gerade deswegen ist es wichtig, richtig bremsen und vor allem seinen Bremsweg exakt einschätzen zu können.
Letzteres ist sogar die Lebensversicherung schlechthin – schließlich kann man nur dann eine sichere Geschwindigkeit wählen, wenn man weiß, wie schnell man ist und wie lang der Bremsweg bei dem gefahrenen Tempo ausfällt. Wichtig dabei ist es zu wissen, dass der reine Bremsweg nicht dem Anhalteweg entspricht. Diese Darstellung verdeutlicht eindrücklich, wie sich selbst bei perfekten Bedingungen (Bremsverzögerung von 9,7 m/s²) der reine Bremsweg aus 100 km/h von 41 Metern auf einen Gesamtanhalteweg von 71,6 Metern verlängert, wenn diesem noch die Wegstrecke der Erkennungs-, Reaktions- und Bremsansprechzeit hinzuaddiert wird. Bedenkt man, wie kurz manche Gerade auf der Hausstrecke ausfällt und wie zügig man dort gerne unterwegs ist, kann es einem im Falle von Wildwechsel noch zum Anhalten reichen – muss es aber nicht!
Bremsen muss man üben – wie alles im Leben
Bremsen übt man am besten bei Sicherheits- oder Rennstreckentrainings, wie sie PS unter www.motorradonline.de/actionteam anbietet. Denn ein erfolgreiches Verzögerungsmanöver hängt von vielen Faktoren ab. Etwa von der richtigen Einschätzung der eigenen Geschwindigkeit, dem passend gesetzten Bremspunkt und der daraus resultierenden, korrekten Kurveneingangsgeschwindigkeit.
Ein Bremspunkt muss immer ein Fixpunkt sein. Sprüche wie „Bremse am Schatten der Brücke“ sind tödlich, da sich der Schatten einer Brücke mit der Tageszeit verschiebt. Im schlimmsten Fall in Richtung Kurve! Diesen Bremspunkt sollte man dann zuverlässig treffen. Was sich leicht anhört, ist schwer zu realisieren. Nehmen wir zum Beispiel das deutsche Rennstrecken-Wohnzimmer Oschersleben. Wer hier auf der Start-Ziel-Geraden mit 260 km/h (so zum Beispiel bei einer 1.32-min-Runde) am Bremspunkt ankommt (unter der Brücke), der bewegt sich mit mehr als 70 Meter pro Sekunde über den Asphalt. Verpasst man den gewählten Bremspunkt aus welchem Grund auch immer, wird es ganz schön eng, will man mit 110 km/h in die nächste Links einbiegen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die obige Skizze die optimale Bremsverzögerung von 9,7 m/s² (wie sie das ABS einer BMW HP4 im Slick-Modus realisiert) und eine reine Geradeaus-Bremsung zugrunde legt.

Egal, ob es nun eng wird oder nicht, hartes Bremsen beginnt immer – und absolut ohne Ausnahme – mit dem weichen Anlegen der Beläge. Denn blitzartiges Zuhauen der Vorderradbremse hat böse Folgen: Das Rad blockiert, die stabilisierenden Kreiselkräfte fallen weg und Sturzgefahr droht!
Wer in den ersten Millisekunden des Bremsvorgangs die Beläge sanft an die Scheiben anlegt und dann herzhaft den Bremsdruck steigert, erreicht Folgendes: Die Gabel taucht langsamer ab, der Vorderreifen nimmt den durch die steigende Radlast entstehenden Druck auf und verbreitert seine Auflagefläche auf dem Asphalt und kann so größere Bremskräfte übertragen. Nähert man sich nun mit maximalem Bremsdruck dem Einlenkpunkt, gilt es, die Bremse ebenso sanft wieder zu lösen. Denn erstens kann man mit modernen Reifen schön tief in die Kurve hineinbremsen, und zweitens wird man nicht vom schlagartig wegfallenden Aufstellmoment (sofern der Reifen es hat) überrascht.
Heftiges und effizientes Bremsen ist also keine Hexerei, sondern Übungssache. Und das Tolle daran ist: Fühlt man sich einmal auf der Bremse wohl, macht es sogar richtig fetten Spaß.
Wie schräg geht es auf der Bremse?

Beim Motorradfahren müssen die Reifen starke Kräfte übertragen. Zum einen die Umfangs- oder Längskräfte, die beim Bremsen und Beschleunigen entstehen, zum anderen die Seitenkräfte, die sich in Schräglage entwickeln. Das Verhältnis dieser Kräfte zueinander beschreibt der Kammsche Kreis, benannt nach dem Stuttgarter Ingenieur Wunibald Kamm. Ein Motorradfahrer in Schräglage muss sich immer innerhalb dieses Kreises befinden, sonst fällt er auf die Nase.
Der Kammsche Kreis zeigt, dass man bei moderaten Schräglagen fast die volle Brems- oder Beschleunigungskraft nutzen kann. Ab einer gewissen Schräglage aber verringern sich die übertragenen Längskräfte überproportional, und schon eine geringe Brems- oder Beschleunigungskraft genügt, um den Kreis zu verlassen.
Der Kammsche Kreis wird umso kleiner, je weniger Haftung die Reifen haben. Deshalb reicht bei Nässe oder verschmutzter Fahrbahn schon ein kleiner Gasstoß, um das Hinterrad durchdrehen zu lassen oder eine geringe Schräglage, um wegzurutschen.
Wo starke Kräfte sinnvoll walten

Der Kammsche Kreis zeigt, welche Kräfte beim Beschleunigen, Bremsen und in Schräglage auf die Reifen einwirken. Die grünen Linien entsprechen einer zügigen Landstraßenfahrt. Bei 36 Grad Schräglage sind noch 85 Prozent der Umfangskräfte möglich, so stark darf also gebremst oder beschleunigt werden. Die roten Linien zeigen eine Rennrunde mit 57 Grad Schräglage; jetzt bieten die Reifen nur zehn Prozent ihrer Umfangskräfte, was eine sehr gefühlvolle Beschleunigung oder Verzögerung erfordert, will man nicht aus dem Kreis und damit von der Piste fliegen.
Auf Rennstrecken lassen sich extreme Schräglagen fahren. Wesentlich moderater sind die Schräglagen, die ein Motorradfahrer üblicherweise auf der Straße erreicht. Er sollte immer genug Reserven haben, um auf eine verschmutzte Fahrbahn oder Hindernisse sofort reagieren zu können.
Unter Druck
Diese Zeichnung verdeutlicht, wie stark die dynamische Radlast den Vorderreifen beim Bremsen auf den Asphalt presst. Das grün umrandete Feld zeigt die Reifenaufstandsfläche bei Geradeausfahrt mit konstanter Geschwindigkeit. Die rot und grün markierten Flächen zusammen zeigen die Aufstandsfläche bei einer Vollbremsung mit maximalem Anpressdruck des Reifens – er wird bis auf das Dreifache auseinandergequetscht und liefert so deutlich mehr Haftung.
Andy Ibbot, Chef-Coach California Superbike School
Kenne deinen Speed
"Merkt euch eins: Nur wer weiß, wie schnell er ist, kann auch richtig bremsen! Hört sich vielleicht komisch an, ist aber so. Warum? Weil deine auf der Geraden gefahrene Geschwindigkeit und die richtige Kurveneingangsgeschwindigkeit zusammenhängen. Das Bremsmanöver Ende der Geraden verknüpft sie. Nun darfst du aber die Kurveneingangsgeschwindigkeit nicht mit spätem Bremsen verwechseln – denn das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Es erklärt sich leicht, wenn du darüber einmal nachdenkst. Wenn du deine Geschwindigkeit überschätzt und deswegen zu früh bremst, bist du in und meist sogar schon vor der Kurve zu langsam. Dann lenkst du entweder zu früh ein oder die anderen kassieren dich als Pausensnack. Unterschätzt du dagegen deinen Speed, lenkst du im besten Fall zu spät ein und versaust dir die Linie. Oder du schaffst es gerade noch in die Kurve hinein, aber nicht mehr hindurch."