Reportage über das Projekt "Starthilfe"

Reportage über das Projekt "Starthilfe" 24-Stunden-Endurorennen als Belohnung

In der "Starthilfe" bekommen Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen eine Chance auf ein geregeltes Leben – und dürfen zum Abschluss des einjährigen Projekts als Team beim 24-Stunden-Enduro in Langensteinbach teilnehmen.

24-Stunden-Endurorennen als Belohnung Arturo Rivas
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Eine große Staubwolke, gleich einem kleineren Sandsturm, erhebt sich. Sahara? Nein, die sanften Hügel Mittelsachsens. Staub ist zunächst alles, was du siehst vom Endurorennen in Langensteinbach, wenn du nach der Motocross-Strecke fahndest. Am besten folgst du der Kakofonie jeder Motorsportveranstaltung: dem Stakkato der Motorräder, dem Lachen und Rufen der Menschen und der Musik aus Ständen und Zelten. Vereinzelt bellt ein Hund, und ein Kind schreit. Endlich, wenn du das Areal im Kiesabbaugebiet gefunden hast, hat auch dich längst der feine, gelbe Staub eingehüllt. 

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Reportage über das Projekt "Starthilfe" 24-Stunden-Endurorennen als Belohnung
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Es ist das 24-Stunden-Endurorennen, das hier jährlich zu Pfingsten startet. Die meisten Teams nehmen seit Jahren teil, so auch das Race Project von Uli Gottwald und Peter Steger. Beide leiten das Projekt „Starthilfe“ im bayerischen Fürstenfeldbruck: Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen erhalten hier eine neue Chance auf ein geregeltes, erfolgreiches Leben. Das Rennen bildet den krönenden Abschluss jedes zwölfmonatigen Kurses.

„Es ist cool hier – ich bin echt gern dabei“

Seit 2013 startet das Race Project in Langensteinbach mit einem Zweier- und ­einem Viererteam. Steger fährt immer im Zweierteam mit, Gottwald betreut die Fahrer und Jugendlichen – seine „Schatzeleins“. Auch Tobi ist von Anfang an mit dabei. 2013 war er einer der Jungs aus der „Starthilfe“-Gruppe. Danach hat er seine Ausbildung zum Mechatroniker bei R&R Fahrzeugtechnik begonnen. So heißt die Autowerkstatt, bei der Steger Miteigentümer ist und in deren Räumen auch die „Starthilfe“ untergebracht ist. „Es ist cool hier – ich bin echt gern dabei“, sagt er, während er das Motorrad seines Chefs frisch betankt. 

„Wir werfen Jung und Alt zusammen“, erklärt Gottwald. Er sieht nicht mehr besonders frisch aus – wie die anderen Teammitglieder hat er die letzte Nacht in einem Schlafsack im Fahrerlager verbracht. Nur die sechs Fahrer durften in einem Hotel übernachten. „Die Jungs haben hier mit Männern zu tun, die ihre Arbeitgeber und ­Vorgesetzten sein könnten. In freundschaftlicher Umgebung erfahren sie, was Zusammenarbeit wirklich bedeuten kann.“

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Maschine von Michael Volz bleibt nach Fahrerwechsel stehen

Und wie sie Krisen meistern. Gleich die erste hat es in sich: Das Rennen läuft noch nicht lang, da bleibt nach dem Fahrerwechsel im Viererteam die Maschine von Michael Volz stehen – rund 200 Meter nach der Boxenausfahrt. Er muss das lahmende Motorrad zurück an die Box schieben. Die Jungs aus der Werkstatt stürzen herbei. Erste Diagnose: „Das kann nur eine defekte Zündkerze sein!“ Unter der Aufsicht von Chefschrauber Günther Witt tauschen die Mechaniker das fehlerhafte Teil – nichts. Schnell prüfen sie alle möglichen Ursachen. Ratlosigkeit. Ein Zuschauer kommt vorbei, hört die Geschichte und sagt: „Klingt aber trotzdem nach der Zündkerze. Wechselt die noch mal.“ Siehe da: Räträträäääät! – der Motor springt an. „Seht ihr, lasst euch nie entmutigen von Rückschlägen – Auslöser kann auch mal nur eine spinnende Zündkerze sein“, witzelt Gottwald und lobt seine Jungs für ihren Einsatz. Noch läuft es nicht ganz rund, sie sind nervös, ihrer Rollen nicht ganz sicher. Aber das bessert sich mit der Zeit; bereits nach wenigen Stunden Rennen klappt alles wie geschmiert. 

Bis hierher war es ein weiter Weg für die Heranwachsenden. Viele haben die Schule abgebrochen, sind verschuldet. „Wenn das Arbeitsamt die Jungs zu uns schickt, machen wir die ersten Monate nichts anderes als Aufbauarbeit“, fasst Gottwald zusammen. Die Jugendlichen müssten einfache Dinge lernen: sich abzumelden, wenn sie krank wären. Nach dem Essen das dreckige Geschirr spülen. Aufräumen. „Peter und ich haben nachts schon das restliche saubere Geschirr weggeräumt. Da hatten die Jungs am nächsten Morgen nur ihr Benutztes und haben ziemlich dumm geschaut.“

Arturo Rivas
Die Motocross-Strecke und der Staub sind für die an Enduro gewöhnten Fahrer eine Herausforderung.

Mit sauberem Geschirr ist das hier in Langensteinbach heute auch so eine Sache. Zwar stehen Tscheger und Mohsin schon zum dritten Mal an den Biertischen, vor sich Wannen mit heißem Wasser und Spüli. Geschirr abwaschen. Achtmal werden sie das in diesen 24 Stunden wiederholen. Doch der allgegenwärtige Staub legt sich binnen Sekunden über alles. Da fällt es schwer, die Wanne mit dem sauberen von der mit dem schmutzigen Geschirr zu unterscheiden – beide stehen nebeneinander in der improvisierten Küche des Fahrerlagers. Prompt vertut sich Witt, wirft seinen Kaffeebecher zu den frisch gespülten Tellern und Tassen. „Halt! Des is sauber“, kommt es von Gottwald, er muss selbst lachen: „Also staubig, aber sauber.“ Der Missetäter fischt den Becher aus der Wanne und legt ihn in die richtige.

Fahrer David Lerche, der dieses Jahr zum ersten Mal dabei ist, hat gerade seinen Turn beendet und es sich in einem der wenigen Stühle bequem gemacht. Er hat die Szene beobachtet und eine Lösung parat: „Macht Schilder dran: schmutzig auf die eine, staubig auf die andere.“ Das findet auch Tscheger lustig. Der 18-Jährige ist beim Rennen für die Küche zuständig – also abwaschen und kochen. Er koche gerne, räumt er ein, aber „beruflich will ich das nicht machen“. Eher was in der Logistik-Branche, das könne ihm gefallen. Mit einem bereits staubigen Tuch wischt er flüchtig über Tische und Bänke. Gleich ist Essenszeit.

„Du siehst kaum was und rutschst ständig weg“

Der Staub setzt vor allem den Fahrern zu. „Du siehst kaum was und rutschst ständig weg“, erklärt Lerche. Gottwald nickt. „Es ist verblüffend, aber alle unsere Fahrer mögen Regen am liebsten. Dann fahren sie vorne mit.“ Er schmunzelt und klopft Lerche auf die Schulter. Einer von denen, die trotz Trockenheit und Staub verdammt schnell unterwegs sind, ist Steger. Seit Jahren fährt er mit seinem Partner Peter Staudigl im Zweierteam beim 24-Stunden-Enduro unter die ersten vier. „Sag Peter, er soll jetzt die Nudeln essen – wenn er das nächste Mal reinkommt, bekommt er Fleisch“, weist Gottwald Flo an. Der ist für das Zweierteam verantwortlich.

Doch zwei Stunden später ist das Rennen für ihn und seine Fahrer vorbei. Staudigl, der sich vor einem Monat drei Rippen gebrochen hatte, ist gestürzt und hat große Schmerzen. Während Gottwald ihn ins Krankenhaus fährt, versuchen die anderen, Steger zu überreden, das Rennen allein zu fahren. „Das hat keinen Sinn“, grummelt der. „Wie stellt ihr euch das vor? Das Rennen ist für uns aus.“ Und dabei bleibt es. Flo, der nach der Starthilfe als Mechatroniker in Stegers Werkstatt beginnen wird, legt den Klemmblock mit den Zeiten beiseite und sucht sich eine neue Beschäftigung. „Dann bin ich jetzt wohl Mädchen für alles“, meint der 22-Jährige und grinst. Sein Kollege im Viererteam, Ahmed, hört das und hat eine Aufgabe parat. „Weck mal David auf. Der ist gleich dran.“

Nachts sieht man fast gar nichts mehr

Inzwischen ist es Nacht geworden – die Fahrer fluchen noch mehr über den Staub, denn nun sehen sie fast gar nichts mehr. Als gegen zwei Uhr erste Tropfen fallen, die sich innerhalb weniger Minuten zu einem Regenguss ausweiten, wird das Fahren einfacher. Noch ist Markus Huber auf der Strecke. Als er zurückkommt, starren er und seine Maschine vor Schlamm. „Ich hab mich noch gewundert, warum der vor mir so lahm war und hab am Hang überholt“, erzählt er. „Plötzlich konnte ich nicht mehr bremsen und das Motorrad wurde immer schneller.“ Doch dann sei ihm das Hinterrad ausgebrochen und er samt Maschine den Hang runtergerutscht. „Die Strecke ist glatt wie Seife.“ Die Rennleitung reagiert und sperrt für den Rest der Nacht die steilen Passagen.

Mit den ersten malerischen Sonnenstrahlen über den Hügeln verzieht sich der Regen. Jetzt ist die Strecke perfekt. Der Staub hat sich gelegt, die Bahn ist feucht, aber nicht mehr glitschig. Die Jungs rauchen jetzt eine nach der anderen, schütten Red Bull in sich hinein – und werden doch nicht mehr richtig munter. Aber das Rennen ist nicht vorbei; anders als die Jugendlichen blühen die Fahrer wieder auf, wittern Morgenluft. Das Team hat noch Chancen, unter die besten zehn zu kommen. Volz holt in seinem Turn allein fünf Minuten auf. Am Ende landet das Team Race Project auf Platz neun. Jubel. „Das erste Mal einstellig“, freut sich Gottwald. Und mit ihm die Jungs. „Was für eine geile Erfahrung“, resümiert Ahmed. Dem Staub zum Trotz.

Das Projekt

Arturo Rivas
Das Race Project von Uli Gottwald und Peter Steger.

Vor zwölf Jahren startete Kfz-Meis­ter Peter Steger (52) in Maisach bei Fürstenfeldbruck ein ehrgeiziges Vorhaben: Heranwachsenden aus schwierigen Verhältnissen eine zweite Chance zu geben. Er holte den Kreisjugendring Fürstenfeldbruck als Projektträger ins Boot und das Arbeitsamt Fürstenfeldbruck, das jährlich geeignete Jugendliche für das Programm vorschlägt. Der Theologe und pädagogische Leiter Ulrich Gottwald kam 2008 dazu, die Leitung übernahm er ein Jahr darauf.

Die Starthilfe ist aber keine Lehre – die Jungs und Mädchen werden schlicht auf das Leben vorbereitet. „Ich habe mit 15 angefangen zu arbeiten. Ich wollte nicht mehr zur Schule gehen, war aber noch viel zu unreif, um zu wissen, was ich tun muss. Mir haben damals meine Eltern geholfen“, erzählt Steger. Und fährt fort: „Viele dieser Jugendlichen haben aber keine Eltern, die helfen könnten.“ In der Praxis bedeutet das: Gottwald und Steger werden zur Ersatzfamilie und zu Vorbildern. Und irgendwie auch zu echten Freuden.

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