MotoGP-Fahrer blinzeln seltener als Moto2- und Moto3-Fahrer. Und allesamt blinzeln Rennfahrer sehr viel weniger als andere Vergleichspersonen. Das ergab ein Forschungsprojekt von SIFI und dem LCR Team.
MotoGP-Fahrer blinzeln seltener als Moto2- und Moto3-Fahrer. Und allesamt blinzeln Rennfahrer sehr viel weniger als andere Vergleichspersonen. Das ergab ein Forschungsprojekt von SIFI und dem LCR Team.
Sie fahren 350 km/h auf einem Motorrad. Jetzt. Stellen Sie es sich vor. Und dann, plötzlich, sind Sie blind. Ihre Augen geschlossen. 15 Meter Blindflug – dann ist der Wimpernschlag vorbei. Genau, Sie haben nur geblinzelt, wie Menschen es eben tun. Und dabei für 15 Meter, etwa sieben Motorradlängen, den Überblick verloren.
Manche Dimensionen ändern sich im Wortsinn rasend, stellt man sie in den Kontext der MotoGP-Klasse: extreme Geschwindigkeiten, enorme Belastungen für den Körper und Gefahrensituationen, die im Bruchteil einer Sekunde entstehen. Zum Beispiel in 0,15 Sekunden und somit etwa für die Dauer eines Wimpernschlags. Könnte dies der Grund dafür sein, dass MotoGP-Fahrer nahezu unmenschlich selten blinzeln? Ein lebenserhaltender Notlauf, der allen körperlichen Reflexen trotzt? 540 Sekunden – neun Minuten (!) – war die längste gemessene Zeit, die zwischen zweimal Blinzeln eines MotoGP-Fahrers verging. Woher wir das wissen? Gehen wir ein paar Schritte zurück.
Ein gewohntes Bild: Rennmotorräder sind voller Sponsoren, voller kleiner Logos und Markennamen. Einige sind in der Szene bekannt, andere hingegen fremd. So wurden wir auf SIFI aufmerksam, ein Unternehmen, dessen Logo in der Box des LCR Teams (Lucio Cecchinello Racing) auftaucht. Aktuell drehen Álex Márquez und, wie unten im Bild zu sehen, Takaaki Nakagami damit ihre Runden; von 2015 bis 2020 auch Cal Crutchlow. Wir treffen Lucio und sein Team in der Saisonpause in Brünn. Und finden uns in einem Gespräch über Augenheilkunde wieder.
SIFI ist ein italienisches Unternehmen, das sich mit Forschung, Pharmazie und Medizintechnik rund um die Augenheilkunde beschäftigt. Seit 2015 arbeitet es mit dem LCR Team an einem gemeinsamen Forschungsprojekt, um – grob gesagt – die Augen von Rennfahrern zu analysieren. Und was machen Forscher, bevor sie analysieren? Sie testen. Cal Crutchlow, hier unten im Bild, war der Erste, der sich 2015 beim Valencia-GP untersuchen ließ. 2018 kam Takaaki Nakagami dazu, 2019 wurden gar alle Fahrer der Moto3, Moto2 und MotoGP getestet. Jeweils vor dem Rennen und 30 Minuten danach.
Einer der simpelsten Versuche ist ein Reaktionstest auf dem Tablet. Der zeigte grundsätzlich auf, dass die Reaktionen nach dem Rennen deutlich schneller sind, der Körper sich noch im "Race Mode" befindet. Ein zweiter Test hinsichtlich der Reaktion der Pupillen zeigte auf, dass ein Rennen die Augen extrem beansprucht und sie ermüdet. Eines der interessantesten Ergebnisse war jedoch, dass MotoGP-Fahrer im Schnitt viel seltener blinzeln als Moto2- oder Moto3-Fahrer (nicht nur während der Rennen, sondern sogar in Rennposition ohne Fahren) und diese wiederum viel seltener als Vergleichspersonen außerhalb des Rennsports. Aber: Kein Fahrer litt unter trockenen, roten Augen oder Entzündungen. Trotz des Fahrtwinds und des permanenten Hochblickens. Die Untersuchungen zeigten auch keinerlei Reizungen. Und: Die Osmolarität der Tränenflüssigkeit ist nicht wie bei einem trockenen Auge erhöht, sondern verringert.
Die Geschichte ist auch in PS Ausgabe 1/2022 nachzulesen
Das ist höchst ungewöhnlich. Professor Stefano Barabino, Sprecher des Projekts, sieht mehrere mögliche Gründe: "Ihre Tränenflüssigkeit ist besonders reich an Lipiden, der Tränenfilm auf dem Auge bricht also nicht, und sie müssen nicht blinzeln. Eine andere Hypothese ist, dass sie den Reflex zum Blinzeln im Gehirn ausschalten, um zu überleben." Möglichst wenig Blindflug also. Nun? Geht es weiter. Ursachenforschung, neue Messgeräte und die Entwicklung von Augentraining für Normalos. Wir werden sehen.
Interview mit Carmelo Chines
Chines: Das war 2015, als wir nach Möglichkeiten gesucht haben, ophthalmologische Forschungsprojekte mit dem Sport zu verbinden. Wir waren von Beginn an kein normaler Sponsor, sondern ein Projektpartner.
Und wie war die Reaktion von Teamchef Lucio Cecchinello?Chines: Er war aufgeschlossen, schließlich waren beide Parteien daran interessiert, Projekte zu entwickeln, die einen echten Mehrwert für die Gesundheit und Sicherheit der Fahrer haben. Wir wollen nicht nur zusammen Punkte einfahren, wir wollen zusammen etwas für den Sport selbst tun und mit den Ergebnissen auch normalen Fahrern im Alltag weiterhelfen.
Chines: Sie waren sehr neugierig. Der erste Fahrer, mit dem wir gearbeitet haben, war Cal Crutchlow. Er hat direkt großes Interesse an den Ergebnissen gezeigt und wollte verstehen, wie seine Augen unter Stress und Anstrengung reagieren.
Was sind die nächsten Schritte in eurer Forschung?Chines: Wir wollen grundsätzlich weiter erforschen, worin die Unterschiede zwischen "normalen" Augen und denen der MotoGP-Fahrer liegen. Außerdem wollen wir den Zusammenhang zwischen Konzentration und Blinzelrate untersuchen. Aus diesen Ergebnissen erwarten wir zu verstehen, ob man mit kleinen Tricks, Übungen oder Augentropfen arbeiten kann, um Ermüdung, trockenen oder entzündeten Augen und der Verschlechterung der Sehkraft entgegenzuwirken.
Habt ihr schon Trainingsmethoden entwickelt, mit denen die Augen auf ein höheres Leistungslevel kommen könnten?Chines: Explizite Trainingsmethoden für die Augen sind in der Planung für 2022 und 2023. Daneben wollen wir generell eine andere Wahrnehmung von "Augenpflege" in der Gesellschaft schaffen und die Menschen für Prävention sensibilisieren.
Was würdet ihr Hobbyrennfahrern oder "normalen" Fahrern in Bezug auf ihre Augen präventiv raten?Chines: Zunächst einmal empfehlen wir, jedes Jahr einen Sehtest zu machen. Zweitens empfehlen wir, immer qualitativ hochwertige Helme und Visiere zu benutzen. Drittens, die Augen so gut es geht – auch im Alltag – vor UV-Strahlen und vor allem vor Wind zu schützen.
Was können wir in den nächsten Jahren noch von eurem Projekt erwarten?Chines: In den letzten beiden Jahren wurden wir durch die Corona-Maßnahmen in unserer Arbeit stark gebremst, sodass wir nun erst die Grundlage für weitere Aktivitäten in den nächsten zwei Jahren erarbeitet haben. Wir wollen uns künftig vor allem auf die Bereiche Konzentration, Sehvermögen und Augentraining fokussieren.