Zuliefergigant Bosch verstärkt Präsenz im Motorradmarkt

Zuliefergigant Bosch verstärkt Präsenz im Motorradmarkt
Zweirad als Wachstumsmarkt

Veröffentlicht am 29.04.2015

Dirk Hoheisel einen beschränkten, gar motorradspezifischen Horizont zu unterstellen, wäre einigermaßen verwegen. Der gebürtige Hamelner promovierte auf dem Gebiet der Halbleitertechnik, bevor er beim schwäbischen Technologie- und Dienstleistungsriesen mit weltweit rund 360.000 Mitarbeitern, 440 Tochtergesellschaften und Standorten in rund 60 Ländern Karriere machte. Seit Juli 2012 ist Hoheisel bei Bosch einer von zehn Geschäftsführern und verantwortet im Konzern-Sprech „die Systemintegration des Unternehmensbereichs Mobility Solutions sowie die Bereiche Chassis Systems Control, Car Multimedia, Automotive Electronics und Automotive Steering“. Klarer ausgedrückt: Hoheisel ist im schwäbischen Zuliefer-Imperium ein ziemlich hohes Tier. So jemand hat vermeintlich wichtigere Dinge zu tun, als sich mit der Zukunft des im Vergleich zum Automobilsektor winzigen Zweiradmarktes zu beschäftigen.

Hoheisel tut es dennoch, und zwar mit Engagement: „Wir wollen eine dezidierte Organisation haben, deren Herz für Motorräder schlägt und die sich wirklich nur um dieses Thema kümmert.“ So plastisch beschreibt der 57-Jährige die Integration des neu gegründeten Produktbereichs „Two-Wheeler and Powersports“ (hier dreht sich alles vor allem um Motorräder, aber auch um Quads, Jetboote und Snowmobile) in den Geschäftsbereich „Mobility Solutions“, den größten der Bosch-Gruppe. 33 Milliarden Euro setzte „Mobility“ im Geschäftsjahr 2014 um, 49 Milliarden waren es bei Bosch insgesamt. Angesichts dieser Größenordnungen nehmen sich die bislang 40 Mitarbeiter der neuen „Two-Wheeler“-Abteilung (mit Sitz nicht in Gerlingen bei Stuttgart, sondern in Yokohama, Japan) eher bescheiden aus. Allerdings haben diese 40 Spezialisten Zugriff auf ein weltweites Netzwerk von Bosch-Mitarbeitern. Und natürlich auf die Fertigungskapazitäten des Konzerns, was vor dem Hintergrund, dass der wesentliche Teil der Motorrad-Hardware aus dem riesigen Bosch-Automobilgeschäft kommt, eine nochmals andere Bedeutung erhält.

Motorrad bietet Raum für zusätzliche Sicherheitsüberlegungen

Denn eines macht Hoheisel unmissverständlich klar: Allein für Motorräder zu entwickeln – das käme zu teuer. Jedenfalls dann, wenn es um die in geringen Stückzahlen produzierten hubraumstarken, hochtechnisierten Bikes für den europäischen und den nordamerikanischen Markt geht. Trotzdem nimmt Bosch dieses Geschäft ernst. Zum einen, weil man mit jahrzehntelanger ABS-Erfahrung und vor allem mit dem neu entwickelten MSC (Motor­cycle Stability Control) in diesem Bereich bestens sortiert ist. Und zweitens, weil die Stuttgarter selbst in diesem technoiden Luxussegment langfristig ein Geschäftsfeld mit glänzenden Aussichten sehen, weil irgendwann die Millionen Zwei­radler in Indien und Südostasien ebenfalls nicht nur mehr Hubraum und Leistung, sondern auch mehr Sicherheit wollen, als auf ihrem bisherigen Basisgefährt. Und dann verfüge man ja mit dem MSC über das Filetstück eines modernen Sicherheitssystems. Mithilfe der im MSC vorhandenen Sensorik, der entsprechenden Steuerung und der immer kleiner und leichter werdenden Hydraulik kann man sich zwischen dem Firmenhauptquartier im Schwäbischen und Yokohama sowohl für die Hightech-Bikes hierzulande als auch die nächste und übernächste Generation der Massenmobilisierung in Asien vieles vorstellen. Aber noch nicht über alles reden.

Jedenfalls nicht öffentlich. Aber an einem zweifeln weder Hoheisel noch der in Japan arbeitende ABS-Spezialist und MSC-Entwickler Dr. Fevzi Yildirim. Nämlich daran, dass gerade das Motorrad mit seinen schwierigen Rahmenbedingungen (Stichworte: keine Knautschzone, Einspur-Fahrzeug) jede Menge Raum für zusätzliche Sicherheitsüberlegungen biete. Zum Beispiel, die verschiedenen Steuergeräte im Motorrad weiter zu vernetzen und Funktionen zu optimieren. „Natürlich sind wir auch mit allen japanischen Kunden bezüglich MSC im Gespräch“, zeigt sich Yildirim selbstbewusst. Und selbstredend denke man bereits über zukünftige, sensor- und auch datenbasierte Funktionen nach, die kritische Situationen vorausschauend erkennen, frühzeitig warnen oder gar eine automatische Funktion des Motorrads einleiten könnten. Vorstellbar sei da alles, vom Warnlicht im Cockpit bis hin zum leichten Bremsmanöver, sobald zum Beispiel die Umgebungssensoren eine Gefahrensituation erkennen. Ein spannendes Thema, fürwahr, über das sich die Bosch-Spezialisten im Detail noch nicht auslassen möchten. Doch eines stellt Hoheisel klar: Das sind keine in ferner Zukunft angesiedelten Szenarien, sondern konkrete Pläne. Umsetzung folgt.

„Massenmotorisierung wird immer über das Zweirad gehen“

Etwas anderes ist hingegen, so die Bosch-Experten, jetzt schon spruchreif. Es geht um jene Massenmärkte, wo zweiradmäßig die ganz großen Stückzahlen gespielt werden. Einfache, kostengünstige Einspritz- und ABS-Technologie für die motorisierten Zweiräder dieser Welt – das ist der Plan. Die Rede ist von einer geschätzten Jahresproduktion von 160 Millionen motorisierten Zweirädern im Jahr 2021, von denen rund 90 Prozent in China, Indien und Südostasien hergestellt werden. „Massenmotorisierung wird immer über das Zweirad gehen“, ist sich Hoheisel sicher. Und auch darin, dass in diesen riesigen Märkten die Themen Sicherheit und Umwelt bereits jetzt auf der Agenda stehen.

Erst jüngst hat Bosch ein neues Einspritzsystem für kleinvolumige Motoren unter 250 Kubikzentimetern vorgestellt, das auch kostenseitig mit dem dort in dieser Klasse üblichen Vergaser konkurrieren kann und sowohl Verbrauch als auch Emissionen (bis zu 16 Prozent) senken soll. Ein Front-ABS von Bosch geht aktuell in Indien bei der Pulsar RS von Bajaj, dem fünftgößten Motorradhersteller der Welt, in Serie. Quasi als Pilotprojekt, andere sollen folgen. Und dann wird Bosch mit der Zweiradsicherheit weiter glänzende Geschäfte machen. Mit Sicherheit.

Bosch und die Zweiradsicherheit

Bosch

Bosch und das Motorrad-ABS: Das ist eine lange Geschichte. Das erste Bosch-Motorrad-ABS ging Ende 1995 in der Kawasaki GPZ 1000 in Serie. Seither hat Bosch rund 1,7 Millionen ABS-Einheiten abgesetzt (zum Vergleich: Von 1978 bis 2014 wurden 190 Millionen Pkw-ABS produziert). Dennoch blieben die Techniker auch beim Motorrad stets am Ball, erhöhten die Funktionalität und senkten das Gewicht. 4,5 Kilogramm wog das erste Hydraulikaggregat 1994, aktuell sind es noch 0,7 Kilogramm.

Die derzeitige Spitze der Bremsregelungstechnik: die Stabilitätskontrolle MSC mit Schräglagensensor für Motorräder mit Verbundbremssystem. Davon gibt es eine Basisvariante (MSC Base) für Zweikanal-Bremssysteme. Ähnlich die Struktur beim reinen ABS: ABS 9 light für Einkanal-Bremsanlagen, ABS 9 base für zwei Kanäle. Darüber ist das ABS 9 plus mit Überschlagserkennung angesiedelt, das ABS 9 enhanced setzt auf ein Verbundbremssystem.

Interview mit Dirk Hoheisel

Bosch

„Die Voraussetzungen müssen da sein“

Bosch-Geschäftsführer Dr. Dirk Hoheisel über das große Interesse am Motorrad, über die guten Aussichten auf den „emerging markets“ sowie die Sicherheitssysteme der Zukunft.

Herr Hoheisel, das Thema Zweirad stand in der Vergangenheit bei Bosch nicht unbedingt ganz oben auf der Agenda. Das scheint sich jetzt geändert zu haben, obgleich die Erkenntnis, dass die Massenmotorisierung gerade des asiatischen und des indischen Marktes nur über das Zweirad gehen kann, nicht ganz neu ist. Warum?
Bosch ist schon viele Jahre als Zulieferer im weltweiten Motorradmarkt aktiv. Bevor wir aber mit unseren Motorrad-Sicherheitssystemen auch in Schwellenländern sinnvoll eingreifen können, müssen erst einmal die Voraussetzungen da sein. Wenn ich nicht zumindest ein einkreisiges hydraulisches Bremssystem im Motorrad habe, kann ich kein ABS installieren. Diese Hydraulik gibt es jetzt auch in den
kleineren Fahrzeugen in Indien und China. Der andere Punkt ist, dass unsere Einspritztechnik jetzt auch für Zweiräder aus den „emerging markets“ attraktiv wird. Wir können den Käufern in diesen Ländern vorrechnen, dass sie mit unserer Technologie günstiger fahren.
Gilt diese Aussage nur für die Bosch-Einspritztechnologie oder auch für ein Sicherheitsfeature wie das ABS?
Die gilt für beides. Wir bei Bosch wollen Technik fürs Leben produzieren, wir wollen Menschen schützen. Auch
in den entwickelten Märkten können und werden wir hier noch viel mehr machen. Wir müssen aber auch die aufstrebenden Märkte im Fokus haben und können jetzt auch da etwas anbieten. Wenn sie die weltweiten Unfallzahlen sehen, dann sind die erschreckend. Allein in Indien starben im Jahr 2012 nach Schätzungen des indischen Verkehrsministeriums rund 35 900 Motorradfahrer. Weltweit sind es beinahe
300 000. Das ist auch ein volkswirtschaftliches Problem. Und unterschätzen sie nicht das gesteigerte Sicherheitsbedürfnis der Menschen dort.
Was bedeutet das in Zahlen? Sie wollen ja nicht nur Leben retten, sondern auch Geld verdienen.
Natürlich lässt sich unser Engagement im Motorradmarkt bei uns im Hause auch wirtschaftlich darstellen. Immerhin sind wir bereits Marktführer für Motorrad-Sicherheitssysteme. Nur ein Beispiel: Unser Front-ABS kommt für 20 Prozent aller Motorräder des indischen Marktes in Frage. Das sind viele potentielle Kunden.
Stichwort Kunden: Was haben denn die Motorradfahrer hierzulande an technischen Innovationen von Bosch zu erwarten?
Wir haben noch viele Ideen. Gerade bei der jüngeren Klientel spielt das Thema „Vernetzung des Motorrads“ mit dem Smartphone über unsere Connectivity Control Unit eine wichtige Rolle. Aber auch in Sachen Sicherheit haben wir mit der Motorrad-Stabilitätskontrolle MSC eine ideale Basis. Gefahrensituationen schon in der Entstehung verhindern – das ist ein Thema, daran arbeiten wir.