Der hektische Stadtverkehr in Brescia ist längst vergessen, als wir den Lago d’Iseo auf unseren Multistrada V2 passieren. Der See markiert für uns den Anfang des Tals, dem wir uns nun voller Vorfreude nähern. Wir folgen auf der SS 42 zunächst den Windungen des Flusses Oglio, eines Nebenflusses des Po, der das Valcamonica (auch Val Camonica oder Valle Camonica genannt) durchfließt. Leider sieht es nach Regen aus.
UNESCO-Stätte im Camonica-Tal
Kein Problem! Wir tauschen Kurven- mit Kulturprogramm und rollen früher als geplant vor das kleine Holztor des Bildungsmuseums in Nadro. Dort befindet sich einer der Eingänge zum Naturschutzgebiet und den Felsgravuren von Ceto, Cimbergo und Paspardo. Es ist das größte archäologische Schutzgebiet im Camonica-Tal und übrigens die erste UNESCO-Stätte in Italien, die 1979 eingerichtet wurde. Hier treffen wir Dr. Paolo Medici, der uns durch eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Region führt.
Dort stoßen wir auch auf die Camunische Rose, die sich 92 Mal in den Felsgravuren des Parks wiederholt. Sie ziert noch heute das Wappen der Lombardei. Abgesehen vom Gebiet rund um die nahe gelegene Rocca di Cimbergo, wo erst vor Kurzem neue Petroglyphen entdeckt wurden, sind die Felsritzungen nicht eingezäunt, es gibt keinen offfiziellen Zugang, man kann also frei zwischen den Inschriften und Symbolen spazieren, die über einen Zeitraum von siebentausend Jahren entstanden sind, Fluchwörter und Herzen inklusive. Sie alle zeugen vom kulturellen Austausch in einem reichen und üppigen Land in den Alpen, das über Jahrtausende Kulturen und Technologien absorbierte und in der Eisenzeit eine Hochzeit erlebte. Fast wie ein antikes Silicon Valley.
Ponte di Legno in 1.260 Metern Höhe
Von Kopf bis Fuß regenfest eingepackt touren wir weiter Richtung Norden, die Schönheit dieser Straße bleibt dabei leider etwas auf der Strecke. Bald erreichen wir Ponte di Legno und damit das nördliche Ende des Hochtals, ganz in der Nähe entspringt auch der Oglio. Der auf 1.260 Meter Höhe gelegene Ort ist ein optimales Basisquartier für Ausflüge auf zwei wunderschöne Pässe: den Tonale, der Richtung Osten in weiten, schnell zu fahrenden Kurven in die Provinz Trient hinabführt, und den mit seiner rauen Schönheit faszinierenden Gavia, der ins nördlich gelegene Valtellina führt. Wir entscheiden uns zunächst für den Gavia und sehen schon nach wenigen Metern in der Ferne, wie sich die Wolken über den Berggipfeln öffnen. Offensichtlich die richtige Wahl.
Selbst Autos sind in diesem Gebiet selten
Nach so viel Regen können wir es kaum abwarten, dem guten Wetter entgegenzufahren. Auch deshalb werden die 17 Kilometer bis zur Passhöhe zum absoluten Traum, den wir praktisch alleine genießen dürfen. Die gesamte Strecke ist für Fahrzeuge über dreieinhalb Tonnen verboten, selbst Autos sind in diesem Gebiet selten. Genial! Die engen Kurven zwischen Wäldern und Felsen verbieten zwar eine knieschleifende Fahrweise, liefern dafür aber ein einzigartiges Schauspiel zwischen rauer Natur und Straßenbaukunst. Auf dem Weg entdecken wir in Case di Viso noch die Bergkäserei von Andrea Bezzi, der hier wunderbare Käsesorten herstellt und unseren Tour-Tag perfekt macht. Am Abend fahren wir zurück nach Ponte di Legno und genießen das Spektakel der SS 300 einfach noch mal aus der anderen Richtung.
In 1.852 Metern Höhe auf dem Mortirolpass
Auch am nächsten Tag ist es in dieser Gegend ein Leichtes, unsere Ducatis mit Kurven zu füttern und unsere Sehnsucht nach Schräglagen zu stillen. Nach einem kurzen Abstecher zum Tonalepass rauschen wir bald wieder Richtung Westen. Bei Monno lassen wir die SS 42 erneut hinter uns und fahren auf einer schmalen Straße zum weitaus weniger bekannten Mortirolopass. Der 1.852 Meter hohe Pass ist vor allem bei Radfahrern sehr beliebt und bietet neben beachtlichen Steigungen auch ein großartiges Panorama, das dieses Gebiet auf halbem Wege zwischen Valcamonica und Valtellina zu jeder Jahreszeit umgibt.
Liquorificio Alta Valle Camonica: Beste Destillerie im Tal
Um Corteno zu erreichen, fahren wir in Richtung des Aussichtspunkts Chiesetta Alpina und biegen kurz darauf rechts auf eine alte unbefestigte Militärstraße ab, die zwischendurch im hohen Gras und zwischen den Bäumen zu verschwinden droht. Eine schöne Abwechslung für unsere Reiseenduros, die leicht zu finden ist, wenn man den Schildern zum Pfadfinderlager Corteno Golgi folgt. Wieder zurück im Tal treffen wir in Edolo Giovanni und Matteo Tevini, Vater und Sohn und die Besitzer der Liquorificio Alta Valle Camonica – der mit Sicherheit besten Destillerie im ganzen Tal. Ihr Aushängeschild "Elixir Noreas" ist ein Likör, der immer noch aus den 15 Wildkräutern hergestellt wird, die Matteos Urgroßvater erstmals 1920 in einem Rezept festhielt. Gin-Liebhaber sollten sich den "Tevin’s Gin" nicht entgehen lassen, der aus denselben Bergkräutern hergestellt wird.
Spuren der Römerzeit im historischen Camonica
Schon jetzt haben wir viele Facetten des Tals gesehen – die Spuren der Römerzeit sind eine weitere. Denn im Valle Camonica erzählen nicht nur Gravuren die Geschichte. Bereits der Ortsname unseres nächsten Ziels ist ein Hinweis auf die historische Epoche, die diesen Ort bis heute prägt: Cividate Camuno. Hier halten wir am Nationalen Archäologischen Museum, einem kleinen Juwel, für das man unbedingt eine Führung buchen sollte. Vier Abteilungen thematisieren die römischen Herrschaft, die hier nach der Eroberung im Jahr 16 vor Christus begann. Eines der beeindruckendsten Artefakte – neben der Statue der Minerva Hygeia – ist das "Alpenhaus" der Camuni, in dem man noch das intakte Bett eines Kindes, die Originaltür mit Schloss, viele Alltagsgegenstände und verschiedene Holzwerkzeuge besichtigen kann. Paradoxerweise war es ein Feuer, welches das Haus kurz vor der Ankunft der Römer zerstörte und damit die eigentlich so vergänglichen Materialien wie Holz oder sogar Stroh verkohlte und damit bis heute erhielt. Im Außenbereich sind immerhin die Überreste eines Amphitheaters zu sehen, der Grundriss ist vollständig sichtbar.
Auf der SP 345 Richtung Dorizzo
Als wir wieder auf unsere Motorräder steigen, ist keine einzige Wolke am Himmel. Perfekt, denn vor uns wartet eine Achterbahnfahrt rund um den Crocedomini-Pass. Eigentlich wollen wir nach Bienno, nur wenige Kilometer von Cividate Camuno entfernt. Aber warum sollten wir uns diesen kleinen Umweg durch die atemberaubende Landschaft entgehen lassen? Die V2-Multis bringen uns mühelos auf die Passhöhe, wo die schmale, aber meist fein asphaltierte SP 345 kurz darauf zur Schotterpiste wird. Ein absolutes Highlight in dieser Gegend, das vergleichsweise einfach zu fahren ist und so auch zwischendurch Staunen angesichtes der umliegenden Bergwelt erlaubt. Ein Blick auf die Karte lädt dazu ein, daraus eine Rundtour inklusive Abstecher ins benachbarte Valle Dorizzo zu stricken. Vielleicht ein andermal, mit mehr Zeit im Gepäck. Nach ein paar Kilometern auf der unbefestigten Piste kehren wir um und fahren ein letztes Mal zurück ins Valle Camonica.
Bienno: Eines der schönsten Dörfer Italiens
Noch von diesem traumhaften Umweg begeistert, erreichen wir Bienno, die letzte Station unserer Tal-Tour. Das Dorf gehört zu den "Borghi più belli d’Italia", den "schönsten Dörfern Italiens", aber diese Bezeichnung greift für diesen schmucken Ort fast zu kurz. Er hat seine mittelalterliche Struktur bis heute bewahrt, Natursteinhäuser bilden enge Gassen, und Kunsthandwerksläden stehen an jeder Ecke. Ein Dorf wie der Fantasie entsprungen, das eine charmante Kulisse für unsere Führung mit Marta Ghirardelli liefert. Sie erklärt uns, dass Bienno sich als Dorf der Künstler definiert und wie alles vor einigen Jahren mit einem jährlichen Wettbewerb begann, der sich an aufstrebende Künstler richtete. Die Gewinner, die sowohl aus Italien als auch aus dem Ausland kommen, werden jedes Jahr nach Bienno eingeladen, um das Dorf mit weiteren Kunstwerken zu bereichern. Bienno ist aber auch das Dorf des Eisens – schließlich wird das Valcamonica wegen der vielen Schmieden auch "Tal der Hämmer" genannt.
Historisches Schmiede- und Mühlenmuseum
Für den Antrieb der Fallhämmer nutzte man einfach das über Holzleitungen verteilte Wasser der umliegenden Flüsse. Im Laufe der Zeit konzentrierte sich die Fertigung auf Haushaltsgegenstände wie Eimer und Pfannen, doch mit der Invasion des Plastiks in den 1980er-Jahren verschwand das Handwerk vollständig. Im Schmiedemuseum erzählt der eindrucksvolle, vom Rauch geschwärzte Raum noch heute von dieser langen Tradition. Auch das Mühlenmuseum vermittelt nur wenige Hundert Meter entfernt viel Geschichte. Mit dem Unterschied, dass die um 1400 gebaute "Mulino" sowohl innen als auch außen in ihrer Ursprünglichkeit erhalten blieb – bis hin zu den alten Mühlsteinen, die noch immer ihre Arbeit hervorragend verrichten – und die hier hergestellten Mehle auch zum Kauf angeboten werden. Nach all diesen Eindrücken aus eindrucksvoller Natur und Straßenbaukunst ist es umso verwunderlicher, dass das Valcamonica selbst unter italienischen Motorradfahrern vergleichsweise unbekannt ist.





