Die frischgebackene und von Grund auf renovierte BMW S 1000 RR des Modelljahres 2019 im MOTORRAD-1000-Punkte-Test. Im Vergleich: das Vorgängermodell von 2018.
Die frischgebackene und von Grund auf renovierte BMW S 1000 RR des Modelljahres 2019 im MOTORRAD-1000-Punkte-Test. Im Vergleich: das Vorgängermodell von 2018.
Irgendwo in Oberschwaben, mitten in einem gut 50 Kilometer langen Kurvenparadies, schwingen zwei S 1000 RR zu Tal. Die Fahrer lassen ihre Motorräder zügig laufen, umkurven zentimetergenau einige Felsvorsprünge, tanzen durch Wechselkurven, spielen beim Hineinbremsen in langsame Kurven mit dem Aufstellmoment, bevor sie zum Scheitelpunkt abtauchen. Sie fahren engagiert, aber unverkrampft. Trotzdem oder gerade deshalb verzeichnen die Displays maximale Schräglagenwinkel von über 50 Grad – einfach so, so einfach. Beim regelmäßigen Motorradtausch schauen die beiden in die leuchtenden Augen des jeweils anderen.
Solche Fahrten gehören zu den schönsten Erlebnissen im Alltag eines Motorrad-Testers. Sie zu schildern, soll jedoch keineswegs diejenigen neidisch machen, die meist nicht an normalen Wochentagen abseits des Berufsverkehrs Motorrad fahren können; das wäre ein unerwünschter Nebeneffekt. In erster Linie soll der voranstehende Absatz einen Maßstab setzen, ein Bewusstsein wecken für das enorme fahrdynamische Potenzial, das in beiden S 1000 RR steckt, der neuen und der noch gar nicht so alten. Die Leserinnen und Leser sind herzlich gebeten, dies bei allen Kritikpunkten zu bedenken, die sich während der Testfahrten und im Fahrlabor des Top-Test-Parcours offenbart haben und im Folgenden beschrieben werden. Es sind feine, wenngleich spürbare Unterschiede, die „gut“ von „nicht ganz so gut“ absetzen.
Das betrifft nicht nur die beiden BMW, sondern die Motorradentwicklung allgemein. Große Fortschritte von einer Modellgeneration zur nächsten sind nicht zu erwarten, es ist das geduldige Optimieren von Details, welches das etwas bessere Motorrad hervorbringt. Und im Lauf der Zeit summieren sich die vielen kleinen Schritte. Das haben die Kollegen von PS am Beispiel der S 1000 RR anschaulich beschrieben, die für ihre aktuelle Ausgabe 7/2019 alle Generationen seit 2009 im direkten Vergleich fahren konnten.
Den größten Fortschritt vom 2018er zum 2019er-Modell hat das semiaktive Fahrwerk gemacht. An der mechanischen Qualität der Dämpferelemente kann das kaum liegen; hier gibt eine bessere Abstimmung den Ausschlag, eventuell spielen auch eine höhere Rechnerleistung und schnellere Verstellung der Dämpferventile eine Rolle. Jedenfalls fährt sich die neue S 1000 RR auf holprigen Straßen selbst im „Dynamic“-Fahrmodus deutlich komfortabler als die 2018er in den gemäßigten Modi „Rain“ und „Sport“. Die Bestätigung für diesen Fahreindruck lieferte die Kreisbahn des Parcours. Während jeder Runde wird zweimal in tiefer Schräglage eine Regenrinne überfahren, dabei verliert das Vorderrad jedes Mal kurz den Bodenkontakt. Die Federelemente der aktuellen S 1000 RR bügeln diese Rinnen so reaktionsschnell glatt, dass die Maschine eine deutlich höhere Geschwindigkeit und eine schnellere Rundenzeit schafft als ihre Vorgängerin. Diese musste immer kurz aufgerichtet werden, damit der Vorderreifen wieder Bodenkontakt finden und Grip aufbauen konnte.
Selbst in einer Disziplin, für die sie ganz und gar nicht gebaut ist, behält die 2019er-BMW dank der semiaktiven Dämpfung einen tadellosen Federungskomfort und gefällige Lenkeigenschaften – mit einem 86-Kilogramm-Sozius auf einer Schlechtwegstrecke. Sie wirkt dabei weit weniger hecklastig, als sie tatsächlich ist. Das Problem ist nur, dass wohl kaum jemand auf dem postkartengroßen Sitz für den Beifahrer Platz nehmen will. „Und was ist mit dem Motor?“, wird jetzt vielleicht der eine oder andere fragen, der die Schaltnockenwelle als spektakulärste Neuerung des Vierzylinder-Hochleistungsmotors registriert hat. Tatsächlich beschert die Einlassnockenwelle mit den zwei unterschiedlichen Nockenprofilen für niedrige und hohe Drehzahlen dem Vierzylinder zwischen 3.000 und 8.000/min einen satten Gewinn an Drehmoment. Die Durchzugswerte, vor allem aus niedrigen Geschwindigkeiten, fallen dann auch noch einen Tick besser aus. Das will etwas heißen, denn schon seit der ersten S 1000 RR zählen die BMW zu den durchzugsstärksten Supersportlern. Die Neue aber kann man so schaltfaul und niedertourig fahren wie ein dickes 1300er-Naked-Bike, zusätzlich bekommt man in höheren Drehzahlbereichen unvergleichlich viel mehr an Leistung und Drehfreude serviert.
Und um jetzt einmal eine Lanze für die konventionell zündenden Reihenvierzylinder zu brechen: Diese Fähigkeit, selbst bei 2.000/min unter Last rundzulaufen und von dort aus lochfrei hochzuziehen, ist auch ein Verdienst der gleichmäßigen Zündfolge. Die 65-Grad-V4-, Twin-Pulse- und Crossplane-Zündfolgen anderer Supersportler mögen ja ihre Vorteile haben, wenn MotoGP- und Superbike-WM-Halbgötter ihre Reifen über eine Renndistanz bringen müssen. Im öffentlichen Verkehr erweisen sie sich als eher nachteilig. Sie fordern beim Anfahren höhere Drehzahlen und längeres Kupplungsschleifen, auf kurvenreichen Strecken viel mehr Schaltarbeit und laufen tendenziell ruppiger. Obgleich die auf geringes Gewicht und wenig Innenreibung optimierten BMW-Motoren keine Ausgleichswellen erhielten und daher nicht zu den vibrationsärmsten Reihenvierzylindern zählen, bieten sie über weite Bereiche des nutzbaren Drehzahlbands ordentliche Laufkultur. Wegen der geringen Gehäusewandstärken bleiben mechanische Laufgeräusche allerdings stets hörbar, bis bei höherem Tempo die Windgeräusche überhandnehmen.
Angenehm zu fahren sind beide BMW-Motoren auch deshalb, weil sie in den Lastwechseln sauber ans Gas gehen. Etwas energischer in den schärferen Modi, aber nie zu harsch, nicht einmal in den Umkehrpunkten des schnellen und langsamen Slaloms, die einer Wende um eine Verkehrsinsel gleichkommen. Ansonsten belegen die Messergebnisse in den beiden Slalomparcours abermals Vorteile der neuen S 1000 RR. Sie erreichte höhere Geschwindigkeiten, und die Rundenzeiten sind nur deshalb nicht signifikant besser, weil sich die Kupplung beim Anfahren nicht so sauber dosieren ließ wie diejenige der 2018er. Offenbar hatte sie schon vor den Testfahrten gelitten.
Paradox ist jedoch, dass die Neue zwar schneller fährt, die Alte sich aber besser anfühlt und objektiv präziser die angepeilte Linie trifft. Nach langen Versuchen kamen die Tester zu dem Ergebnis, dass die messbaren Vorteile der neuen BMW höchstwahrscheinlich ihrem geringeren Gewicht, der um etwa 30 Prozent reduzierten Schwungmasse ihrer Kurbelwelle und der günstigeren Fahrerergonomie zu verdanken sind, dass die bessere Lenkpräzision der 2018er-Maschine hingegen ein Geschenk der Reifen ist. Sie war nämlich mit Bridgestone S22 besohlt, die 2019er dagegen wurde von BMW mit Michelin Power RS an die Redaktion geliefert; auf dem Hinterrad in der Plus-Version und in der Dimension 200/55 ZR 17, die auf den geschmiedeten Rädern homologiert ist. Der Bridgestone erwies sich beim Sportreifentest in diesem Heft dem Michelin in Sachen Handlichkeit und Zielgenauigkeit als überlegen, dieser Befund bestätigte sich. Zudem zeigt das Verschleißbild des 200er-Reifens, dass die Aufstandsfläche wohl nur unter dem extremen Druck voll auszureizen ist, der beim Fahren auf der Rennstrecke entsteht. Für den öffentlichen Verkehr schafft ein 190/55 ZR 17 – ohnehin die Standarddimension für die S 1000 RR – harmonischere Lenkeigenschaften, andere Reifentypen auch noch bessere Nasshaftung.
Den Eigenheiten der Michelin-Paarung schreiben die Tester auch einen Anteil an dem etwas merkwürdigen Bremsverhalten der neuen S 1000 RR zu, zumal es in Ansätzen auch bei einer zum Vergleich herangezogenen Fireblade zu beobachten war. Im Unterschied zur Vorgängerin waren die Räder nicht in einer Linie zu halten, wenn bei einer Vollbremsung das Hinterrad voll entlastet wurde. Das passierte zwar meist nur im unteren Geschwindigkeitsbereich – bei höherem Tempo bleibt das Hinterrad am Boden –, hatte aber sofortiges Ausschwenken des Hecks zur Folge. Instinktiv steuert der Fahrer dagegen, und wenn diese Reaktion mit kurzen Regelvorgängen des ABS zusammenfällt, kommt es bis zum Stillstand zu ausgeprägtem Rühren um die Lenkachse. Im Dynamic-Modus tendenziell stärker als im Road-Modus.
Insgesamt gehen die Verzögerungswerte in Ordnung; viel mehr ist von einem so leichten Motorrad trotz seines verhältnismäßig langen Radstands auch kaum zu erwarten. Man bewegt sich sehr nahe an der physikalischen Grenze. Deshalb sei hier wieder einmal empfohlen, ab und zu eine Vollbremsung zu üben. Wer im Notfall über die Reaktionen seines Motorrads erschrickt, bremst schlechter.
Ein Wort noch zu den elektronischen Fahrhilfen: Die Modi „Race Pro 1“ bis „3“ haben wir für diesen Test nicht probiert. Sie bleiben der Rennstrecke vorbehalten. Während der eingangs geschilderten Fahrt regelte der „Road“-Modus zu defensiv in Schräglage die Leistung zurück. Auch im „Dynamic“-Modus war ab und zu die elektronische Bremse noch vor dem Erreichen des Grenzbereichs zu spüren, doch dies geschah bei einem Tempo, bei dem nicht mehr sehr viele andere Motorradfahrer zum Überholen ansetzen. Dieser Modus passt also gut für flotte Landstraßenfahrten.
Obgleich die aktuelle S 1000 RR eine völlige Neukonstruktion darstellt und in etlichen Details der Vorgängerin leicht überlegen ist, wahrt sie doch in einem wichtigen Punkt die Kontinuität: Sie bleibt eine Supersportlerin, die auch abseits der Rennstrecke im profanen Alltagsverkehr großen Fahrspaß bereitet, ohne ihrem Fahrer mit extremer Sitzposition, überharter Federung oder spitzem Fahrverhalten Stress zu bereiten.