Vor einigen Wochen durften wir schon erste Fahreindrücke mit der Aprilia RS 660 als Vorserienmodell sammeln. Jetzt stand erstmals die Serienversion zur Kontaktaufnahme bereit.
Sitzposition passt
Nach einer 200 km langen Testrunde über italienische Alpenstraßen gibt es viel Positives über Aprilias neuen Brenner zu berichten. Beginnen wir mit Handling und Sitzposition: Jawoll, die 660er fährt mindestens so schneidig, wie sie aussieht! Durch den knackig kurzen Radstand von 1.370 mm sowie mageren 183 kg fahrfertigem Gesamtgewicht (inklusive aller Flüssigkeiten und mit 90 Prozent Tankinhalt) biegt die RS 660 wieselflink ab. Trotzdem beherbergt die Aprilia auch Fahrer über 1.80 Metern Körpergröße komfortabel. Das bequeme und griffige Sitzpolster, die in adäquater Höhe angebrachten Fußrasten und die relativ breit ausgestellten Lenkerstummel ergeben ein ergonomisches Dreieck, das sowohl im Stadtverkehr als auch beim Kurvenwetzen klasse funktioniert. Der saubere Knieschluss bzw. die großzügige Kontaktfläche am Tank helfen dabei, die Maschine locker und leicht von einer Schräglage in die nächste zu bugsieren. Wenden auf engsten Kreis gelingt dank des großzügigen Lenkeinschlags außerdem mühelos. Kurz und knapp: Im Sattel der RS 660 rastet man richtig schön ein und fühlt sich im Stadtverkehr genau wie beim Angasen auf kurvigen Strecken bestens untergebracht!
Fahrwerk mit Qualität
Dann das Fahrwerk. Sowohl die voll einstellbare Gabel als auch das direkt angelenkte und in Vorspannung und Zugstufe einstellbare Federbein stammen von Kayaba. Bei der Abstimmung hat sich Aprilia viel Mühe gegeben, denn die RS dämpft und federt wunderbar und liefert knackiges Feedback. Spätbremser freuen sich über das transparente Gefühl zum Vorderrad, wenn man die 660er am Kurveneingang entschlossen verzögert. Durchweg fällt das Ansprechverhalten von Gabel und Federbein erstaunlich fein aus, außerdem sind die Dämpfungsreserven (insbesondere der Gabel) bei sportlicher Gangart groß.
Umfangreiches Elektronik-Arsenal
Dynamisch bis rasant bewegt zu werden liegt der handlichen RS 660 also in den Genen. Aber mit dem 659 Kubik großen Twin (270 Grad-Hubzapfenversatz) geht auch Alltag bestens. Möglich machts unter anderem die neue Elektronik, bei der Aprilia ein riesiges Besteck auffährt. Erstmal kommt bei einem Aprilia-Modell die neue Motorsteuerung Marelli ECU 11MP anstatt der bisherigen 7SM-Einheit zum Einsatz. Die neue ECU bietet über ein weiterentwickeltes CAN-BUS-System eine umfangreichere Datensammlung- und Verarbeitung aller möglicher Komponenten im Motorrad und ist mit 200 MHz gegenüber bisher 50 MHz höher getaktet.
Das heißt in der Praxis, dass die 660er je nach gewähltem Mapping und weiterer elektronischer Einstellungen von Kuschelkurs bis Sturmangriff alles beherrscht. Im Fahrmodus "Commuting" erfolgt die Leistungsabgabe beispielsweise sehr weich und weitestgehend ruckelfrei. Wer es spritzig mag, wählt "Dynamic", konfiguriert sich einen individuellen Modus nach eigenen Wünschen oder geht gleich über zum Fahrprogramm "Race". Das pralle Assistenzpaket arbeitet mit einer 6-Achsen-Sensorik (IMU) von Continental. Von schräglagenabhängiger Traktionskontrolle (acht Stufen) über dreistufiges ABS (ein Modus deaktiviert das ABS am Hinterrad und macht schneidige Anbremsdrifts möglich, die beiden übrigen verfügen über Kurven-Funktion und sind defensiver ausgelegt) bis zur Wheelie-Kontrolle (ein und aus) sowie dreifach einstellbarem Motorbremsmoment (Novum bei Aprilia) ist jegliche Spielerei an Bord.
Abstriche bei der Fertigungsqualität
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Wer den 100 PS starken Motor in einem der beiden Race-Programme "Challenge" oder "Time-Attack" von der Leine lässt, erlebt Aprilias neuen Zweizylinder konsequent sportlich. Sowieso stehen schon ab 4.000/min mehr als 80 Prozent des maximalen Drehmoments zur Verfügung. Doch im Race-Modus hängt der Twin dann auffällig spontan am Gas, schiebt in der Drehzahlmitte fest an und geht ab 8.000/min bis zum Begrenzer bei 11.500/min noch zorniger ab. Kleiner Wehrmutstropfen: Zumindest gefühlt leistet sich der Motor zwischen 6.000/min und 8.000/min eine ganz kleine Verschnaufpause. Dazu muss auch gesagt werden, dass es sich bei den Motorrädern während der Pressevorstellung immer noch um Vorserienmaschinen (die Serienproduktion der RS 660 startete am 12. Oktober) handelt. Insofern hoffen wir, dass am auslieferungsfertigen Produkt noch letzter Feinschliff stattfindet. Hier und da wäre etwas Kosmetik auch bei den Spaltmaßen der Verkleidung oder beim Oberflächenfinish einiger Plastikteile wünschenswert. Bei Materialgüte und Verarbeitungsqualität kann die RS 660 ihren sportlichen (und natürlich deutlich teureren) V4-Schwestern nämlich dem ersten Eindruck nach nicht das Wasser reichen.
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Fazit
10.770 Euro kostet die Aprilia RS 660 in Deutschland, und dafür bekommt man ein leicht zu fahrendes, sehr vielseitiges und modernes Sportmotorrad mit vorzüglichen Fahreigenschaften. Neueinsteiger* werden mit Sicherheit genauso viel Spaß an der 660er finden wie erfahrene Piloten.
*für A2-Führerscheininhaber wird eine 95 PS-Version verfügbar sein