Fahrbericht und Technik MotoGP-Suzuki GSV-R
Blaue Runde

2005 blieben durchschlagende Erfolge für Suzuki aus. Daraus aber zu schließen, dass die GSV-R der Konkurrenz in keiner Hinsicht das Wasser reichen kann, wäre ziemlich verkehrt. Wovon sich MOTORRAD bei einem exklusiven Fahrtermin überzeugen konnte.

Blaue Runde
Foto: Milagro

Unbeeindruckt von Schlaglöchern und Kanaldeckeln rumpelt das Proton-Taxi ebenso unsanft wie zackig ins Fahrerlager von Sepang, der Passagier im Fonds hüpft herum wie auf einem Trampolin. Die Nähe der Grand-Prix-Strecke scheint die Renninstinkte in den malaysischen Taxifahrern zu wecken. Drei Tage offizielle MotoGP-Testfahrten stehen hier auf dem Programm, bei denen Journalisten eigentlich nichts zu suchen haben. Dennoch ermöglichte Suzuki-Teammanager Paul Denning exklusiv für MOTORRAD unmittelbar vor Testbeginn einige Proberunden auf John Hopkins’ GSV-R-Werksmaschine.
»Um neun Uhr kannst du raus, drei fliegende Runden, die anderen Teams wissen Bescheid«, hatte Denning am Abend zuvor noch den Schlachtplan ausgegeben und einen zügigen Ablauf der Aktion angemahnt. Aber es herrscht keinerlei
hektische Aktivität in der Boxengasse. Ein Blick auf die Strecke erklärt, warum. Die Piste ist vom nächtlichen Regenschauer noch klatschnass. Entspannt lümmeln John Hopkins und die MotoGP-Piloten Colin Edwards und Casey Stoner an der Boxenmauer, während die Mechaniker die beiden V4-Suzuki der letzten Saison durchchecken. Dazwischen, sorgsam abgedeckt unter einer Plane, schlummern zwei Prototypen für die kommende WM-Runde.

Als das Finale in Valencia abgewunken wurde, rangierten die Suzuki-Piloten in der Endwertung auf den trostlosen Plätzen 13 und 14. In der Markenwertung war der drittgrößte japanische Motorradhersteller hinter Kawasaki. Ist die Schlagkraft der GSV-R tatsächlich so weit hinter der Konkurrenz zurück?

Abwarten. 10.40 Uhr, die Boxenampel beharrt auf Rot. Hopkins ist immerhin schon in die Lederkombi geschlüpft. Ehe die GSV-R dem Gast in die Hand gedrückt wird, soll er den Zustand von Strecke und Motorrad prüfen. Um elf ist es so weit. »Hopper« rückt aus und knallt bereits nach einer Runde stehend im Wheelie die Zielgerade hinunter. Aus seiner Besichtigungsrunde werden fünf. Der Mann hat sichtlich Spaß bei der Arbeit. Dann rollt er wieder in die Box. Kurzer Wortwechsel mit Cheftechniker Stuart Shenton. Der blickt zu mir, hebt den Daumen – na dann.

Draußen herrscht bereits Betrieb, ziehen die Herren Nakano, Rossi, Edwards und Melandri am Kabel. Himmel hilf. Ein Mechaniker drückt den Startermotor durch eine Öffnung in der linken Flanke der Verkleidung gegen den linken Kurbelwellenstumpf, zieht mit kurzem Aufheulen den Motor durch, der sofort mit rohem Blaffen aus den beiden Titan-Trompeten antwortet.

Tschak, erster Gang nach oben und ab ins Getümmel. Derweil machen die Mechaniker die zweite GSV-R von Suzuki-Neuling Chris Vermeulen startklar. Na klasse, auch noch einen MotoGP-Piloten direkt im Genick. Egal, die werden ihren Weg vorbei schon finden. Jetzt gilt die volle Konzentration der Suzuki. Die aber so viel Eingewöhnung gar nicht fordert. Die Lenkerstummel sitzen zwar ziemlich tief, doch ansonsten ist das Platzangebot recht üppig. Zack, schon klappt sie in die erste Kurve. Holla, das ging ja richtig flott. Nun heißt es Tempo machen, bevor der Moto-GP-D-Zug von hinten anrollt.

Mit mächtig Schmackes den langen Rechtsbogen hinunter und vorsichtig am Kabel gezupft. Und die GSV-R rauscht wie am Schnürchen auf der Ideallinie entlang. Also Vollgas. Herzhaft brüllt der V4, kein Big-Bang-Sound, der Suzuki-Motor besitzt noch eine konventionelle Zündfolge. »Wir haben in den letzten Jahren verschiedene Zündfolgen ausprobiert, Big Bang wird künftig sicher eine Option sein, auch wenn das kein Allheilmittel ist und wiederum andere Probleme bringt«, gab Paul Denning am Vorabend zu bedenken.

Keinen Millimeter weicht die Suzi vom Kurs ab. Die Zielgenauigkeit ist allererste Sahne. Noch verblüffender allerdings, mit welchem Verve sich das weißblaue Geschoss über noch so verzwickte Kurvenfolgen hermacht. Kaum hat man sich für eine Linie entschieden, sticht sie auf genau diesem Radius um die Kehren. Über den ganzen Schräglagenbereich bleibt der Kraftaufwand ebenso gering wie konstant. Was das Hineinzielen in sich zuziehende Kurven oder Kurskorrekturen zum Kinderspiel macht.

»Die Fahrer waren mit den Chassis-Qualitäten vor allem in Sachen Wendigkeit sehr zufrieden«, so Denning. Wahrlich, das Fahrwerk ist die große Stärke der Suzuki. Überaus wendig, präzise und mit traumhafter Rückmeldung vom Vorderrad gesegnet. Weshalb es während der Saison kaum Änderungen in diesem Bereich gab. Lediglich an der Balance wurde gegenüber dem Vorjahr etwas gefeilt. Bei den Fahrwerksqualitäten befindet sich die GSV-R durchaus auf Augenhöhe mit den Top-Bikes der Liga, liegt beim Anbremsen sogar wesentlich ruhiger als die Werks-Honda.

Balsam für die Nerven, wenn am Ende der Zielgeraden der Bremspunkt mit Lichtgeschwindigkeit angerauscht kommt. Einfach die Gänge herunterklopfen, einkuppeln, den Rest übernimmt die mechanische Rutschkupplung. Bändigt zuverlässig das Heck und hindert es daran, unkontrolliert herumzutanzen. Aber da ist noch etwas. Jedes Herunterschalten begleitet der V4 selbständig mit einem kleinen Gasstoß, um die Gangwechsel geschmeidiger über die Bühne zu bringen. Abwinkeln, Kurvenscheitel und Gas. Lastwechselreaktionen? Fehlanzeige. Einfach klasse, wie wohldosiert sich die über 240 PS freisetzen lassen.

Der mit Titan-Ventilen und Zahnradtürmen für den Nockenwellenantrieb bestückte Vierzylinder, der seine Zylinderbänke im ungewöhnlichen Winkel von 65 Grad spreizt, baut sehr kompakt. Das ermöglicht eine mit gut 650 Millimetern recht lange Schwinge. Grundvoraussetzung für Grip ohne Ende. Was per Popometer dankbar registriert wird und zu immer mutigeren Aktionen am Quirl führt. Die feinen Umgangsformen des Suzuki-Aggregats machen es selbst weniger versierten Piloten leicht, Vertrauen zu fassen. Die mit Ausgleichsgewichten bestückte Antriebswelle der Wasserpumpe erstickt Vibrationen
im Keim. Gasannahme und Lastwechsel meistert die Suzuki tadellos. Und am Kurvenausgang erschreckt sie den MotoGP-Laien auch nicht mit dampframmenartigen Drehmoment-Attacken, was es ungemein erleichtert, die Kraft des V4 einzusetzen.
Aber genau das ist das Problem der Suzuki. Ihr fehlt vor allem eine Portion Drehmoment, um der Konkurrenz am Kurvenausgang auf den Fersen zu bleiben. So müssen die Piloten wahnwitzige Schräglagen und Kurventempi fahren, um den
Anschluss zu halten.

Wie bestellt platzt in diesem Moment Chris Vermeulen mit triumphal brüllender Suzuki auf der Kampflinie innen in die
Lücke, biegt schräg wie der Teufel ab, dass beinahe der Lenkerstummel eine Furche in den Asphalt zieht und gibt eine kleine Kostprobe davon, was so an Schräglage wirklich geht. Biegt auf die Gegengerade ein, dreht furchtbar am Gas und ist kurz darauf aus der Blickweite verschwunden.

Zwar hat Suzuki für 2005 die Drehzahl um rund 500/min auf 16000/min heraufgesetzt, dazu Zylinderköpfe und Ventiltrieb überarbeitet, was die Leistung um 20 auf über 240 PS gepuscht hat. Dennoch fehlt es gegenüber der Konkurrenz nach wie
vor an Spitzenleistung. Auch wenn der V4 ein verdammt lebendiges Kraftwerk ist, das auf der knapp einen Kilometer langen Zielgeraden ratzfatz durch das Drehzahlband schnalzt, um bei 15000/min förmlich zu explodieren. Und mit jähzornigem Aufschrei seinem Fahrer den Tank vor die Nase zu klatschen. Bereits tausend Umdrehungen später grätscht der Begrenzer ein. Doch so hart die Suzuki auch in die Zielgerade hineinbeschleunigt wird, es fehlen hier in Sepang am Ende wenigstens zehn km/h auf die 310 km/h Topspeed der Honda.

Und mir offensichtlich noch mehr. Denn während ich mich schon auf den Bremspunkt vorbereite, auf das Zusammenspiel der brutal zubeißenden Brembo-Zangen mit der sämig-straffen Gabel freue, knallt innen John Hopkins durch. Zeigt mit sanft schlingerndem Heck, dass man quer stehend ebenfalls wunderbar einbiegen kann – wenn man’s drauf hat. Einen Wimpernschlag später ist er durch die anschließende Schikane verschwunden. Kurz darauf plärrt außen herum auch noch die giftgrüne Kawasaki von Shinya Nakano vorbei. Macht nix, die Boxentafel hat ohnehin die letzte Runde eingeläutet. Da will ich ja nichts mehr verbiegen.

Unsere Highlights

Technische Daten - Suzuki GSV-R

Motor: wassergekühlter 65-Grad-V4-Viertaktmotor, vier über Schlepphebel betätigte Ventile
pro Zylinder, Nockenwellenantrieb über Zahnräder, Hubraum 990 cm3, Leistung über 240 PS, Höchst-
drehzahl zirka 16000/min, zwei Einspritzdüsen pro
Zylinder, Nasssumpfschmierung, frei programmierbares Motormanagement, Vier-in-zwei-Auspuff-
anlage, Sechsgang-Kassettengetriebe, hydraulisch
betätigte Anti-Hopping-Kupplung. Fahrwerk: Aluminium-Brückenrahmen, Öhlins-Upside-down-Gabel, Ø 42 mm, Zweiarm-Alu-Schwinge mit Öhlins-Zentralfederbein mit progressiver Umlenkung, Lenkkopfwinkel einstellbar, zwei 320-Millimeter-Karbonbremsscheiben vorn, eine 220-Millimeter-Stahlbremsscheibe hinten, geschmiedete JB-Magnesium-Räder, vorn wahlweise 3.00, 3.60 oder 3.75 x 16.50 Zoll, hinten 6.00, 6.10 oder 6.25 x 16.50 Zoll, Bridgestone-Slicks, vorn 125/60, hinten 190/
65, Radstand 1450 mm. Trockengewicht 148 kg

Saisonbilanz Suzuki

Die Saison 2005 markierte
für Suzuki im MotoGP-Sport einen Neuanfang. Garry Taylor, dienstältester Teamchef im MotoGP-Fahrerlager, wurde von Paul Denning abgelöst,
der bis dahin für die Suzuki-Aktivitäten in den nationalen britischen Meisterschaften
verantwortlich war. Die beiden amerikanischen Fahrer Kenny Roberts und John Hopkins wurden aus dem Jahr 2004 übernommen. Für Roberts,
der Suzuki in der verregneten Saison 2000 noch auf dem 500er-Zweitakter einen Weltmeistertitel einfuhr, sollte 2005 zum Desaster werden. In
China stoppte ihn in Führung liegend ein Technikproblem,
im Training zum GP von
Australien stürzte er schwer – das unglückliche Ende der
Saison für ihn, das mit der Auf-
lösung seines Suzuki-Vertrags sozusagen perfekt wurde.

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023