Wunder geschehen. Und manchmal gerade dann, wenn man sie wirklich nötig braucht, denn die Zeit drängte für diesen Zweizylinder-Vergleichstest. Nicht nur Ducatisti wollen wissen, was die neue 900 SS taugt. Aber die ersten Desmos wurden gerade erst im Werk in Bologna fertiggestellt. Ob das versprochene Testmotorrad pünktlich über den Brenner kommt? Ein Anruf in Italien. Vorsichtiges Nachhaken. »No problemo«, meint der neue Geschäftsführer von Ducati Deutschland, Umberto Uchelli. Und tatsächlich, pünktlich liegen die Papiere und der Zündschlüssel auf dem Schreibtisch in Stuttgart.
Als sei das noch nicht genug, hat auch der Wettergott ein Einsehen und läßt die Sonnen strahlen. Zwei harte Konkurrentinnen lauern bereits auf die Ducati: Die Honda VTR 1000 wies letztes Jahr (Vergleichstest Heft 7/1997) keine Geringere als die Suzuki TL 1000 S in die Schranken. Die VTR, ein sportlicher Landstraßenfeger par excellence, der viel Leistung zum günstigen Preis bietet. Und mit dem Sondermodell 750 S Formula will Laverda endlich den Beweis antreten, daß mit der mythenumwobenen italienischen Marke wieder ernsthaft zu rechnen ist.
Deren erster Test (Heft 10/1998) fiel allerdings durchwachsen aus. Ein zierlicher, exklusiver wassergekühlter Parallel-Twin, diese Formula, von Laverda mit viel Liebe zum Detail aufgebaut einerseits. Andererseits litt das Motorrad unter Abstimmungsproblemen und ungewohnt großem Benzindurst. Der deutsche Importeur P.G.O. versprach Abhilfe und stellte flugs ein neues Testexemplar zur Verfügung.
So, und nun Butter bei die Fische. Für alle Ducatisti, solche, die es werden wollen und an alle, denen Kollegin Moni Schulz mit ihren ersten Fahreindrücken den Mund wässerig gemacht hat: Ja, es stimmt. Wirklich ein komplett neues Motorrad, die 900 SS, nicht nur rein äußerlich, auch wenn der antiquierte, federbelastete Seitenständer noch immer für eine Schrecksekunde beim Abstellen gut ist.
So sind sie eben, die Italiener: Just in dem Moment, als viele bereits den Abgesang auf den luftgekühlten Desmo-Motor anstimmten, zaubert Ducati einen neuen »alten« V-Twin aus dem Hut, dem die neue elektronische Saugrohreinspritzung mächtig Leben einhaucht. Gesunde 85 PS stemmt die Testmaschinen. Die Ducati sieht sich trotzdem klar in Unterzahl, denn die Laverda preßt trotz Hubraumdefizit tapfer 94 Cavalli ab. Und der wassergekühlte Honda-Kraftprotz schüttelt lässig deren 111 aus dem Ärmel und das mit ungeregeltem Kat. Sauber, sauber.
Aber schiere Spitzenleistung sticht vielleicht beim Quartettspiel auf dem Schulhof, nicht jedoch im wahren Leben, also beim Fahren dieser Twins. In der Formel Eins würden sie jetzt vom perfekten Gesamtpaket reden. Da haben sie in Bologna was Feines zusammengeschnürt. Die 26 PS schwächere Ducati hängt sich nämlich locker ans Hinterrad der bärigen Honda und die Laverda fällt mit jeder Kurve weiter zurück, egal, welcher Tester sich gerade auf dem zierlichen Motorrad versucht, sich mit der sehr versammelten Sitzhaltung und dem ungewöhnlich weit vorn postierten Lenkstummeln anfreunden will. Was nicht etwa am schlechteren Fahrwerk liegt. Oh nein, die vormals kritisierte Upside-down-Gabel von Paioli spricht jetzt sehr fein auf Bodenunebenheiten an, zudem besitzt die Formula die besten Bremsen des Vergleichs.
Der rauhbauzige, mechanisch laute Motor der Laverda vermasselt die gemeinsame Tour. Benimmt sich beinahe wie ein hochgezüchteter Zweitakter und gönnt sich nach wie vor etwas zuviel Benzin. Unter 3000/min spielt sich außer einem unglaublich kernigen Schütteln nicht viel ab, zaghaft spürbarer Vortrieb folgt erst ab 5000 Touren. Bleibt also ein schmales nutzbares Leistungsband zwischen 7000 und 9500/min. Dann setzt aber auch schon hart und unerbittlich der Drehzahlbegrenzer ein. Mit dem macht der ungeübte Laverda-Fahrer öfter, als es ihm lieb sein kann, Bekanntschaft. Der kleine Motor gibt sich sehr kapriziös übrigens auch was das Startverhalten betrifft, egal ob im heißen oder kalten Zustand. Die Laverda ist definitiv nur etwas für einen großmütigen und sportiven Fahrer, dessen linker Fuß nimmermüde das hart zu schaltende Getriebe bemüht und der sich an den zu langen Schaltwegen und dem gigantischen Wendekreis von acht Metern nicht stört.
Da agiert der drehmomentstarke Ducati-Antrieb um einiges kräfte- und nervenschonender. Schön viel Dampf im mittleren Drehzahlbereich ab 3000/min, locker ohne zu schalten zur nächste Kehre rauschen, lautet die Devise. Der überarbeitete V2 verfügt über ein knackig-präzises Getriebe und hängt wunderbar spontan am Gas. Er verbreitet nie ein gequältes Gefühl, die V2-typischen Vibrationen sind eher angenehm als störend und er hat einen betörend schönen Klang. Hört sich verdächtig nach der legendären 916 an, dieses Stakkato, das da unter dem Tank ertönt. Die Neue fühlt sich eindeutig mehr nach dem Ducati-Flaggschiff denn nach der alten 900 SS an. Das vergleichsweise größte und höchste Motorrad, aber mit 204 Kilogramm auch das leichteste. Sogar Fahrer über 1,80 Meter müssen sich mächtig über den langgezogenen Spritbehälter strecken, um an die gut gekröpften Lenkerhälften zu gelangen. Dieser seltsame Gummiknubbel am Tank, er soll laut Ducati »die Einheit zwischen Mensch und Maschine verstärken«, klaut dabei wertvolle Zentimeter, schützt die Lackierung aber auch vor Kratzern.
Die Honda VTR 1000 wirkt dagegen beinahe zierlich. Wären da nicht die ungünstig gekröpften Lenkstummel und die zu schmale Sitzbank, sie würde gar zum perfekten Sport-Tourer nicht nur unter den Twins avancieren. Perfekten Knieschluß am schmalen Tank bietet sie wie keine andere im Vergleich. Überhaupt die Honda: Sie nervt zwar noch immer mit ihrem etwas zu hohen Verbrauch, der daraus resultierenden, lächerlich geringen Reichweite und mit einem neuen, verkleinerten Tankeinfüllstutzen. Wegen einer zusätzlich angebrachten Metallblende entwickelt sich das Volltanken zur Geduldsprobe. Aber ansonsten überzeugt der japanische Breitensportler fast auf der ganzen Linie. Das Fahrwerk besticht durch stabilen Geradeauslauf auf der Autobahn und spielerisches Handling in schnellen Wechselkurven. Auch enge Serpentinensträßchen gerhören zum bevorzugten Revier der VTR. Einziges Manko: Die Gabel schlägt beim harten Bremsen auf schlechten Straßen lautstark durch. Sie hat einen starken Charakter, die VTR. Und ein großes Herz. Der kräftige Motor nimmt klaglos in jedem Drehzahlbereich Gas an und läuft mechanisch sehr ruhig. Trotzdem säuselt er nicht nur, sondern bollert fröhlich vor sich hin, untermalt von spürbaren, aber niemals nervigen Vibrationen. Wer sich hinter der kleinen, vergleichsweise effektiven, aber leider mit lauten Windgeräuschen nervenden Verkleidung klein macht, den trägt die Honda bis über die 240-km/h-Marke.
Der Motor ist also das Pfund, mit dem die Honda wuchert. In Sachen Fahrwerk aber schiebt sich die Ducati leicht in Front. Keine Spur mehr von der kräftig auskeilenden Hinterhand der Vorgängerin. Auch auf holperigen Landstraßen benimmt sich die sportlich-straff abgestimmte Ducati vorbildlich, hopst nicht jeder Bodenwelle hinterher. Die relativ schmal bereifte 900 SS fährt sich zudem zielgenauer und mit spürbar weniger Lenkkraft als die Kontrahentinnen. Die italienische Leichtfüßigkeit verliert sich bei verschärften Tempo jedoch rapide. Ähnlich wie die Ducati 916 muß auch die 900 SS mit strammer Hand durch Wechselkurven gerissen werden. Fahrwerksexperte Mini Koch vermutet als Ursache für die Widerspenstigkeit bei hohem Tempo den langen Nachlauf von 100 Millimetern in Verbindung mit den relativ schweren Dreispeichen-Gußrädern.
Die wohl größte Überraschung: Die Ducati bremst. Ohne Griff ins teure Zubehörregal, sondern ab Werk. Die überarbeitete Brembo-Anlage verzögert nachhaltig und läßt sich gut dosieren, erfordert aber etwas mehr Handkraft als die Stopper der Laverda. Die Honda offenbart weder Licht noch Schatten. Ihre Nissin-Bremsanlage agiert zwar einen Tick stumpfer, aber jederzeit verläßlich. Für die sportive Landstraßen-Hatz genügt es alle Tage, wers bissiger liebt, dem hilft besagter Zubehörhandel (siehe auch VTR-Frisiersalon, Heft 4/1998).
Wunder geschehen, wirklich. Nicht nur, daß die Ducati rechtzeitig zum Test in der Redaktion eintraf, nein, die 900 SS besitzt auch noch die Frechheit und stößt beinahe die Honda VTR vom Thron. Molto bene, Ducati. Wer hätte das ernsthaft für möglich gehalten. Ihr habt dem altehrwürdigen Desmo-Motor erfolgreich seinen zweiten Frühling beschert.
Fazit Honda - 1. Platz
Glückwunsch, Honda. Die VTR gewinnt diesen Vergleichstest vor allem wegen ihrer Ausgewogenheit, des gutmütigen, komfortablen Fahrwerks und ihres bärigen V2-Motors. Der braucht aber leider noch immer etwas zuviel Sprit. Vielleicht sollten die Honda-Techniker mal über eine elektronische Einspritzanlage nachdenken, dann würde der Katalysator noch mehr Sinn machen.
Fazit Ducati - 2. Platz
Sportlicher denn je, spritziger denn je. Wer die altehrwürdige Ducati 900 SS schon auf das Altenteil schieben wollte, wird durch dieses Motorrad Lügen gestraft. Dazu ein tolles Fahrwerk, endlich gute Bremsen und den unvergleichlich schönen Klang des luftgekühlten Desmos. 916-Feeling für die Landstraße, und das unter 20000 Mark? Die 900 SS macht es möglich.
Fazit Laverda - 3. Platz
Die Laverda 750 S Formula, ein kompromißloses Motorrad mit liebvollen, hochwertigen gemachten Details. Nichts für den Berufspendler oder zum Brötchenholen. Wer sich aber an der extremen Leistungscharakteristik nicht stört, eh lieber allein unterwegs ist und ein exotisches Motorrad mit klangvollem Namen sucht, sollte sich eines der raren Sondermodelle sichern.
Zum Thema
Ducati hat es gewagt hat Hand an seinen Klassiker gelegt. Beim Anblick der ersten Fotos konnte man sich ja noch gelassen zurücklehnen, der alten 900er die rote Wange tätscheln und ihr versichern, sie könne ganz entspannt bleiben, die neue sei völlig daneben. Überhaupt nicht ernstzunehmen, so komisch, wie die aussähe. Und Einspritzung und fünf PS mehr brauche auch kein Mensch.Gut, daß man noch eine alte hat. Unkultiviert und rüpelhaft zwar, in Sachen Leistung auch nicht gerade prall, aber eben wunderbar individuell. Klassisch, schön, ohne Firlefanz. Einfach nur sie selbst, mit ihrem kantigen V2, dem luftigen Gitterrohrrahmen, einer gerade noch das Nötigste bedeckenden Verkleidung und diesem phantastischen Sound. Ein Motorrad, das Zeit und Stunde vergessen lassen kann. Allerdings nicht nur beim Fahren. Ungezählte Abende, an denen Vergaser umbedüst, die Endübersetzung geändert, an Federbein, Bremsen und Bereifung herumgetüftelt wurde, um vielleicht irgendwann einmal ein halbwegs ausgereiftes Motorrad zu haben. Okay, das war eben der Preis.Und jetzt das. Jetzt taugt diese neue, bizarre 900 SS wirklich was, bildet die Synthese, schafft das, was in der Autowelt der Porsche 911 während Jahrzehnten verkörperte perfekt zu werden, ohne Charakter zu verlieren. Genau das ist Ducati mit der Supersport gelungen. Die Konstrukteure haben feinfühlig nahezu alle nervtötenden Schwächen an Fahrwerk und Motor in den Griff bekommen und dabei den Salto hingekriegt, immer noch das alte, wilde Ducati-Gefühl beim Fahren aufkommen zu lassen.Ich sehe nur zwei Probleme: Ergonomie und Design. Vom kompakten Allrounder zum unbequem langgezogenen Supersportler zurückzukehren und klare Formen zugunsten wulstiger Plastikschalen aufzugeben ist buchstäblich schmerzhaft. Für den Rücken wie für die Augen. Die alte 900 SS ist für mich ein Stück Gebrauchskunst, Ästhetik für den Alltag gewissermaßen. Zu schade, daß die Neue ausgerechnet in diesem Punkt versagt. Ansonsten wäre sie perfekt.