
Diskussionen über die extravaganten Fahrzeuge des Albin Liebisch aus Schönlinde in Nordböhmen (heute: Krásná Lípa, in einem Ausläufer der Tschechischen Republik zwischen Dresden und Zittau gelegen) sind so alt wie die Motorräder selbst. Auch andernorts entstanden Mitte der 20er-Jahre farbenfroh lackierte Zweiräder, doch die schiere Größe einer Böhmerland – selbst in der hier gezeigten "Normallänge" über drei Meter – machte sie weit prominenter, als ihre Verbreitung dies vermuten lässt. Neben der "normalen" baute Liebisch eine lange Version, die auf der Sitzbank und dem Einzelsitz über dem Hinterrad drei Personen hintereinander aufnehmen konnte.
Mit so einen Trumm fahren? Einen Sumoringer zum Wiener Walzer zu bitten, scheint die leichtere Übung. Alles schön der Reihe nach, die Checkliste für Vorkriegsmotorräder sauber abarbeiten: Den Zündzeitpunkt mit einem Hebel am rechten Lenkerende auf "spät" stellen, damit der Fahrer samt Fußgelenk keinen Rückschlag erleidet. Die Messinghähne für Öl und Kraftstoff öffnen. Vergaser fluten. Das Auslassventil mit dem Dekompressionshebel anheben. Wo ist der nun schon wieder? Ah, am Kipphebelgehäuse! Jetzt gleichzeitig mit Schwung und vollem Körpereinsatz den Kickstarter durchtreten und den Deko-Hebel wieder loslassen. Zum Glück ist der Hauptständer genauso ausladend und stabil wie der Rest der Böhmerland, so dass diese Turnübung ohne Kippen gelingt.
Kein Vertun: Zwischen den Beinen des Fahrers arbeitet ein direkt mit dem Rahmen verschraubter Einzylinder mit 600 Kubik. Entsprechend fallen die Vibrationen aus, die das Triebwerk ins Chassis einleitet. Die beiden Kipphebel des Ventiltriebs laufen ungekapselt, was die Kleidung des Fahrers über kurz oder lang mit Ölnebel verziert. Geradezu paradox muten dagegen die hochgezogenen Trittbretter an, die offensichtlich die Schuhe vor Schmutzspritzern bewahren sollen. Hat man sich mit diesem Konzept erst einmal arrangiert, sitzt es sich auf dem breiten Ledersattel außerordentlich bequem.
Jetzt ein Dreh am Gasgriff, die Kraft aus dem Handgelenk schütteln – Fehlanzeige: Gasgeben funktioniert mit einem weiteren Hebel am rechten Lenkerende, der jedoch nach dem Loslassen in seiner Position verharrt – Gewöhnungssache, aber machbar. Der extrem langhubig ausgelegte Motor - aus 79,8 mm Bohrung und 120 mm Hub resultieren 600 cm³ - entwickelt bereits im Drehzahlkeller sattes Drehmoment, nährt aber naturgemäß den Respekt vor hohen Drehzahlen. Drei Gänge stellt das Getriebe bereit, und keinen davon will man auch nur annähernd ausdrehen. Frühes Schalten und gemütliche Gangart bereiten viel mehr Freude. Das starre Heck und die Vorderradführung delegieren einige Dämpfungsaufgaben an die Ballonreifen, welche diese nach Kräften erledigen. Und zumindest die Kurzversion fährt sich handlicher, als ihr Aussehen suggeriert. Da gab es in den 20er- und 30er-Jahren Zweiräder mit kürzerem Radstand, die keineswegs wendiger waren, auch wenn die Böhmerland ihre Maße und Masse nicht verhehlen kann.
Hinter so einem exotischen Fahrerlebnis stehen ungewöhnliche Technik und ein eigenwilliger, fast dickköpfiger Ingenieur. Die wesentliche Struktur des Doppelschleifen-Rahmens ist aus einem einzigen Rohr gebogen: Vom Lenkkopf läuft es unter dem Motor entlang zur hinteren Achsaufnahme, auf Höhe des Zylinderkopfs am Motor vorbei wieder zum Lenkkopf und wendet dort zu einer zweiten Schleife. Mit ihren Querstreben wirkt diese Architektur so stabil wie eine Eisenbahnbrücke. Eine geschobene Kurzschwinge mit einstellbaren Reibungsdämpfern führt das Vorderrad, je eine Zugfeder links und rechts soll Unebenheiten der Fahrbahn ausgleichen.
Statt für die allgemein üblichen Drahtspeichenräder entschied sich Liebisch für Leichtmetall-Gussräder, die erst 60 Jahre später Einzug in den Großserien-Motorradbau hielten. Unser Exemplar hat Gusssterne, die mit der Felge verschraubt sind.
Wie ein Wachturm steht der ohv-Einzylinder im Rahmen. Sein Zylinderkopf mit halbkugelförmigem Brennraum ragt deshalb hinter dem Tank über den Rahmen hinaus. Dem modischen Trend zu Doppelport-Auslässen folgte Liebisch nicht, sondern blieb beim Monoport-Prinzip. Bohrungen erleichtern das im Gesenk geschmiedete Pleuel, die Kurbelwelle rotiert in einem Gehäuse aus Aluguss. Der Kraftstoff lagert konventionell in einem kurzen 10-Liter-Tank, der 1,5-Liter-Tank für die Frischölschmierung ist rechts neben dem Hinterrad untergebracht. Von dort versorgt eine Ölpumpe den Motor. Den Ventiltrieb muss der Fahrer manuell schmieren: Durch Bohrungen im Kipphebelgehäuse gelant das Öl zu den wälzgelagerten Kipphebelwellen.
Technische Daten
Anfangs setzte der Ultra-Langhuber 16 PS bei 4000/min frei, im Laufe seiner Produktionszeit stieg die Nennleistung gar auf 24 PS bei 3500/min. Der Hersteller versprach, je nach Modell, Höchstgeschwindigkeiten von 120 bis 130 km/h; eine Rennversion sollte sogar 150 km/h erreichen. Ein motorsportbegeisterter Großindustrieller verschaffte Liebisch finanzielle Unabhängigkeit. Er musste sich also nicht um Werbung und Absatzzahlen sorgen, sondern konnte auserhalb jeder kalkulatorischen Vernunft auf bestens bewahrte Werkstoffe und Konfektionsteile zugreifen: Mannesmann-Rohre fur das Chassis, Getriebe von Sturmey Archer oder Hurth und Bosch-Elektrik.
Die Kehrseite: Liebisch kümmerte sich nicht um Vertretungen oder Händler fur sein Motorrad. Wer eine Bohmerland oder "Čechie", wie sie in den tschechischsprachigen Gebieten hieß, haben wollte, musste sie im Werk abholen. Bis 1937 baute Albin Liebisch jahrlich etwa 50 Motorrader. Die meisten Maschinen gingen nach Nordböhmen, Sachsen und Thüringen, einige auch nach Österreich. Ungefähr 75 davon existieren noch, gut die Hälfte in fahrbereitem Zustand. Und die regen bei ihrem Erscheinen auch heute noch Diskussionen an wie am ersten Tag.
Technische Daten Böhmerland Kurzversion
Motor: Luftgekühlter Einzylinder-Viertaktmotor, zwei unten liegende Nockenwellen, zwei Ventile, über Stoßstangen und Kipphebel betätigt, Bohrung 79,8 mm, Hub 120 mm, Hubraum 600 cm³, 16 PS bei 4000/min, Trockensumpfschmierung, Bing-Rundschiebervergaser
Elektrische Anlage: Kickstarter, Bosch-Zündlichtmagnet
Kraftübertragung: Primärtrieb: Kette, Mehrscheiben-Trockenkupplung, handgeschaltetes Sturmey-Archer-Dreiganggetriebe, Sekundärantrieb: Kette
Fahrwerk: Doppelschleifenrahmen aus Stahlrohr, vorn Kurzschwinge mit Zugfedern, hinten Starrrahmen, Leichtmetall-Gussräder, Reifen vorn und hinten 3.25-19, vorn und hinten Simplex-Trommelbremse
Maße und Gewicht: Radstand 1475 mm, Sitzhöhe 650 mm, Gewicht 185 kg, Tankinhalt 10 Liter
Fahrleistungen: Höchstgeschwindigkeit 115 km/h
Baujahr: 1930
Hersteller: Albin Liebisch Motoren & Motorradbau, Schönlinde, Nordböhmen