Dass alles relativ ist, weiß nicht nur der Quantenphysiker, sondern auch der Maurer mit Zahnschmerzen, dem plötzlich ein Backstein auf den Fuß fällt. Es hilft eben, sich hin und wieder neu zu orientieren, mal einen Blick über den Tellerrand zu werfen. Eine ähnliche Erfahrung aber eine weniger schmerzhafte wollte Honda einigen handverlesenen Journalisten bieten, die zu einer Testsession mit der neuen VFR 1200 F nach Japan auf die Rennstrecke von Sugo eingeladen wurden. Das Hightech-Prestigeobjekt soll eine neue Ära einläuten. Und on top gibt es ein Bonbon, die innovative Doppelkupplungs-Automatik (siehe MOTORRAD 22 und 23/2009), die neue Dimensionen eröffnen soll.
Aber beginnen wir mit der manuell müsste das nicht peduell heißen? geschalteten VFR, die der einst so beliebten Spezies der Sporttourer einen neuen Kick geben soll. Mit ultrakompaktem Japan-V4 und europäisch inspiriertem Design tritt sie gleichzeitig in die Fußstapfen von 800er-VFR und 1100er-Doppel-X.
Dass typische Honda-Tugenden im Vordergrund stehen, wundert kaum, doch beim Streben nach Perfektion und Balance setzt die VFR auch innerhalb der Honda-Welt einen neuen Meilenstein. Etwa mit einer optimierten Ergonomie. Die Taille ist dank der kompakten Motorkonfiguration schmal, die Sitzhöhe bleibt moderat, das Polster wirkt bequem. Weder kurz-noch langbeinige Fahrer ecken irgendwo an one size fits all.

Dass die Kupplung keine austrainierten Unterarme verlangt, der Gasgriff sich leicht abrollen läßt, die Schaltung exakt funktioniert im Einzelnen alles keine Sensationen, die Summe bringt‘s. Wohltuend des Weiteren, dass der V4 in allen Bereichen ohne lästige Vibrationen läuft, man denke da nur an die nervig feinen Schwingungen vieler Big-Bike-Reihenvierer.

Den aggressiven Punch einer K-BMW liefert der VFR-V4 allerdings unten herum nicht, der Schub setzt eher sanft, unspektakulärer ein. Aber wahrscheinlich übertüncht der geschmeidige Charakter wie ein Weichzeichner die tatsächlich vorhandene Kraft. Honda proklamiert schon bei 4000/min 90 Prozent des Drehmomentmaximums von satten 129 Nm, da darf man gespannt auf die ersten Messwerte sein. Subjektiv fällt der Hammer bei 6000/min. Besonders im zweiten Gang legt der Unicam-V4 da so vehement zu, dass der Dunlop Road-smart schwarze Striche zieht und die Maschine zwei, drei Mal herzergreifend quer stellt. Elektronische Helferlein, die rettend einschreiten könnten, sind nicht an Bord.

Laut Honda wurde die Charakteristik mit Vorsatz so gewählt, dass der Motor sich im unteren Bereich fromm benimmt, oben heraus hingegen die sportliche Klientel auf ihre Kosten kommt. Was schließlich Tradition hat, bei der alten VFR sorgte die V-Tec-Ventilsteuerung für einen ähnlichen Charakterwechsel. Deren heisere Stimme hat die Neue aber nicht geerbt. Die dezente, grummelnd-bassige Stimmlage des 1200ers klingt weniger provokant, doch unverwechselbar. Über die Spitzenleistung muss man eigentlich nicht viele Worte verlieren. Nur soviel: Aus dem Kampf um das Blaue Band der Speedbikes hält sich die Honda auf jeden Fall heraus. 173 PS reichen wohl nicht für Tempo 300, für alles andere immer und überall.
Die VFR auf der Rennstrecke

Für die Rennstrecke ohnehin. Sicher nicht das Revier der VFR, doch trotz unpassender Besohlung macht sie selbst hier richtig Laune. Wie die Techniker es schaffen, die doch ziemlich gewichtigen 267 Kilogramm einfach wegzuzaubern, bleibt ihr Geheimnis. Tatsächlich fühlt sich die 1200er erheblich leichter, handlicher an. In den ersten Kurven steuert man überrascht innen auf die Kerbs zu, um sich Augenblicke später über die schnelle und leichte Reaktion auf Richtungskorrekturen zu freuen. Geradeaus bleibt die VFR bei den in Sugo möglichen 250 km/h ebenfalls tadellos auf Kurs. Erfreulich auch, dass die ausgeklügelte Verkleidung praktisch keine Turbulenzen erzeugt. Daher ist es kein Problem, dass den Helm die freie Anströmung trifft.

Ebenfalls recht ausgereift erscheint bei der VFR das heute angesagte, aber oft noch störrisch agierende Ride-by-wire, also die elektronische Betätigung der Drosselklappen. Nur bei Fotofahrten auf den umliegenden Zufahrtsstraßen der Rennstrecke bei Tempo 30 greift der Motor beim Lastwechsel im untersten Drehzahlbereich etwas unwirsch ein. Dann meldet sich auch erstmals der bis dahin völlig unauffällige Kardanantrieb mit etwas Spiel im Antriebsstrang sowie geringen Kardanreaktionen auf Bodenwellen. Zudem surren die Kegelräder am Getriebeausgang ein leises Lied.
Selbstverständlich besitzt solch ein Technologieträger auch entsprechende Bremsen. Erstmals verfügt das bekannte Combined-ABS in der VFR über fette Sechskolben-Festsättel. Auf der Straße gehört diese Anlage zum Allerfeinsten, besser geht‘s kaum. Auf der Rennstrecke regelt sie im Grenzbereich nicht ganz so elegant wie das Sport-ABS der Fireblade.

So viel wird also schon beim ersten, kurzen Eindruck klar: Die VFR wird ein großer Wurf, sie wird mit einer enormen Bandbreite zwischen Autobahn und Sport ihr Segment beleben. Keine Wundermaschine, aber eine wunderbare Maschine.
Doch zum Abschluss noch der angekündigte Blick über den Tellerrand. Beinahe jeder wird beipflichten, dass die herkömmliche Schalttechnologie im Prinzip top funktioniert. Doch dieses Bild könnte sich nach einer Fahrt mit der VFR mit Doppelkupplungsgetriebe DCT schnell relativieren. Mit stufenlosen Rollerantrieben oder der hydrostatischen Übertragung der DN-01 hat die Kraftübertragung der VFR rein gar nichts zu tun. Es handelt sich um ein normales Zahnradgetriebe, bei dem je drei Gänge nämlich die geraden und ungeraden ihre eigene Kupplung besitzen. Diese switchen also beim Schalten immer zwischen den beiden Getriebesätzen hin und her, so dass die Übergänge unglaublich sanft ohne den geringsten Ruck ablaufen.

Auch das Anfahren steuert die Elektronik auf geradezu perfekte Weise, man kann nur über den Gasgriff zwischen gemächlichem Losrollen und durchdrehendem Hinterrad regulieren verblüffend. Die Schaltpunkte wählt entweder die Automatik bei unterschiedlichem Drehzahlniveau in den Einstellungen Sport oder Normal, man darf aber die Gänge auch manuell am linken Lenkerende wählen. Das Ganze funktioniert so geschmeidig, so komfortabel, dagegen sieht ein herkömmliches Schaltgetriebe ziemlich alt aus. Leider ist Geduld gefragt, die DCT-Version kommt erst im Sommer. Nur, wie heißt es noch in dem Schlager von Katja Ebstein: Wunder gibt es immer wieder, wenn sie dir begegnen, musst du sie auch sehn.
Interview mit dem VFR-Projektleiter

MOTORRAD: Ist die VFR 1200 F mehr als Sport- oder als Tourenmotorrad konzipiert?
Hasegawa: Zielsetzung war ein sportlich-dynamisches V4-Motorrad für den Straßenbetrieb, dessen Qualitäten auch auf längerer Tour überzeugen.
MOTORRAD: Eben mal 300 Kilometer zum Mittagessen fahren, an dieser Vorstellung orientierten wir uns während der Entwicklung. ? Bei 6000/min legt der Motor kräftig zu, speziell im zweiten Gang.
Hasegawa: Das haben Sie sehr gut festgestellt. Das ist beabsichtigt, die Ride-by-wire-Steuerung gibt uns die Möglichkeiten. Abhängig von verschiedenen Parametern wie Gangstufe, Drosselklappenstellung und Drehzahl werden unterschiedliche Zünd- und Einspritzwerte eingesteuert.
MOTORRAD: Die VFR hat viele technologische Neuerungen, aber wenige elektronische Features wie Traktionskontrolle oder wählbare Mappings.
Hasegawa: Wir denken, dass wir in Bezug auf die Elektronik die beste Wahl für das zugrunde liegende Konzept gewählt haben.
MOTORRAD: Welche Fahrer will Honda mit der Doppelkupplungs-automatik ansprechen?
Hasegawa: Alle Fahrer, unabhängig von ihrer Fahrerfahrung, kommen dank des DCT in einen sehr sportlichen Fahrgenuss. Das Getriebe ermöglicht einen direkten Kraftschluss und ist einfach zu bedienen.
Technische Daten

Motor:
Wassergekühlter Vierzylinder-Viertakt-76-Grad-V-Motor, je eine obenliegende, kettengetriebene Nockenwelle, vier Ventile pro Zylinder, Gabelkipphebel, Nasssumpfschmierung, Einspritzung, geregelter Katalysator, Lichtmaschine 570 W, Batterie 12 V/12 Ah, hydraulisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung (Anti-Hopping), Sechsganggetriebe, Kardan.
Bohrung x Hub 81,0 x 60,0 mm
Hubraum 1237 cm3
Verdichtungsverhältnis 12:1
Nennleistung 127,0 kW (173 PS) bei 10000/min Max.
Drehmoment 129 Nm bei 8750/min
Fahrwerk:
Brückenrahmen aus Aluminium, Upside-down-Gabel, Ø 43 mm, verstellbare Federbasis und Zugstufendämpfung, Einarmschwinge aus Aluminium, Zentralfederbein mit Hebelsystem, verstellbare Federbasis und Zugstufendämpfung, Doppelscheibenbremse vorn, Ø 320 mm, Sechskolben-Festsättel, Scheibenbremse hinten, Ø 276 mm, Zweikolben-Festsattel, ABS.
Alu-Gussräder 3.50 x 17; 6.00 x 17
Reifen 120/70 ZR 17; 190/55 ZR 17
Maße und Gewichte:
Radstand 1545 mm, Lenkkopfwinkel 64,5 Grad, Nachlauf 102 mm, Federweg v/h 120/130 mm, Sitzhöhe 815 mm, Leergewicht 267 kg (mit DCT 274 kg), zul. Gesamtgewicht 463 kg, Tankinhalt 18,5 Liter.
Garantie drei Jahre
Farben Rot, Silber, Weiß
Preis k. A.