Kupplung kurz ziehen, ein kleiner Tipp mit der Fußspitze, klack, der Gang sitzt. Mit nur minimaler Unterbrechung geht es voran. Schalten ist uns in Fleisch und Blut übergegangen, das geht wie von selbst. Es läuft so unbewusst ab, dass wir meist gar nicht die Frage stellen, ob das eigentlich so sein muss. Das permanente Schalten und Kuppeln zwackt jedoch, auch wenn es wie automatisch abläuft, ein wenig von der Konzentration ab, die in manchen Situationen woanders vielleicht dringender gebraucht würde.
Moderne Großroller machen deutlich, dass eine stufenlose Riemenübersetzung samt Fliehkraftkupplung einen ganz speziellen Komfort bietet, den man sich auch in einem Motorrad gut vorstellen könnte. Und auf diese Idee sind ja bereits einzelne Hersteller gekommen. Aprilia beispielsweise hat die Symbiose aus Motorrad-Chassis und Roller-Antriebstechnik in der Mana umgesetzt.
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Futuristische Flanke: Honda DN 01.
Aber Honda wäre nicht Honda, wenn den Japanern nicht etwas Besonderes zu diesem Thema einfiele. Das zeigt schon der erste Blick auf die DN-01. Motorrad? Roller? Irgendetwas dazwischen? Wie so oft liegen die wirklich wichtigen Dinge unter der Oberfläche. Stechen nicht ins Auge wie die gesteckten Proportionen. Bleiben nicht haften wie die weit vorgeschobene Frontpartie, das breite Maul, der böse Blick. Irritieren nicht wie die Räder im ausgewachsenen Motorradformat in der Statur eines Großrollers.
Das Neue an der DN-01 (Dream New Concept 01) kommt subtiler daher. Es verbirgt sich unauffällig und kompakt im Motorblock und nennt sich Human Friendly Transmission, kurz HFT. Was impliziert, dass Getriebe in der Vergangenheit unfreundlich zu ihren Nutzern waren. Stattdessen also schalten ohne Kupplung, schalten auf Knopfdruck, ja, sogar schalten ohne schalten. Und genau auf diesem Feld bietet HFT eine ganz eigenständige Lösung an. Denn im Gegensatz zu den etwas simpel anmutenden Riemenantrieben der Roller wird in der DN-01 die Antriebskraft hydrostatisch übertragen. Grundsätzlich nichts Sensationelles, das gibt es in Baggern, Treckern oder Rasenmähern bereits. Aber bisher eben nicht in Motorrädern. Die physikalische Grundlage: Der Kurbeltrieb des Verbrennungsmotors treibt eine Hydraulikpumpe an, die wiederum einen Hydraulikmotor versorgt. Die Hydraulik ermöglicht eine stufenlose, elektronisch gesteuerte Übersetzungsänderung. Mit einem Schalter am rechten Lenkerende kann man zwischen zwei Automatikmodi (D wie Drive und S wie Sport) wählen, links stehen sechs manuell zu bedienenden Fahrstufen zur Verfügung.
So richtig rollern tut's nicht
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Probesitzen auf der DN 01.
Das funktioniert, egal ob von der Automatik vorgegeben oder von Hand angewählt, butterweich. Was nicht weiter verwundert, weil da die Übersetzungsänderung eben hydraulisch funktioniert, nicht mechanisch. So gesehen ist es beinahe selbstverständlich, dass etwaige Ruppigkeiten sowie menschliche Bedienfehler im Fahrbetrieb ausgeschlossen sind. Im Automatikmodus "D" wird die Übersetzung entsprechend der relaxten Natur der DN-01 rechtzeitig und seidenweich dem Tempo angepasst, in "S" darf der Motor beim Beschleunigen höher drehen. Etwas höher, da der 52-Grad-V2, bekannt aus Deauville und Transalp, auch im DN-01-Umfeld gewiss kein Temperamentsbündel ist. Im Gegenteil: Unter dem Einfluss von HFT mutiert der Motorrad-Motor subjektiv ganz eindeutig zum Scooter-Treibsatz.
Womit die Frage, welches Wesen in der DN-01 überwiegt, trotz der eindeutigen Motorrad-Gene bei Fahrwerk und Motor fast schon beantwortet ist. HFT bestimmt das Bewusstsein, die cruisige Sitzposition und der ellenlange Vorbau erledigen den Rest. Da fällt dann nicht mehr entscheidend ins Gewicht, dass die 17-Zoll-Felgen Reifen im Supersportlerformat tragen hinten ist ein mächtiger 190er aufgezogen, vorne lebt der totgeglaubte 130er wieder auf oder dass vorne eine Telegabel und hinten ein direkt angelenktes Federbein werkeln. Konventionelles Motorrad-Feeling kommt selbst dann nur bedingt auf, wenn manuell am linken Lenkerende die Übersetzung geändert wird und der 61-PS-Motor in den sechs vorgegebenen Fahrstufen bis in den Begrenzer (bei 7800/min) drehen darf.
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Die beeindruckende Nase signalisiert "Shark-Attac".
Andererseits: So richtig rollern tut es trotz HFT ebenfalls nicht. Dazu agiert das Fahrwerk mit dem ellenlangen Radstand zu gelassen und zu zielgenau, dazu ist der Wetterschutz trotz des vielen Plastiks und der mächtigen Trittbretter zu schlecht. Und Stauraum im Roller-Sinn ist praktisch nicht vorhanden. Weder unter der Sitzbank noch in der mächtigen Verkleidung. Da es zudem weder Gepäckhaken noch Gepäckträger gibt, wird auch der Fernreisende der DN-01 zunächst skeptisch gegenüberstehen, während ein Sozius es sich auf der breiten Sitzbank gerne gemütlich machen dürfte.
Womit man beinahe zwangsläufig wieder bei der eingangs gestellten Frage landet, was die DN-01 nun eigentlich ist. Die Antwort: Man kann die Sache sowohl positiv wie auch negativ angehen. Wer es positiv sieht, entdeckt die Vorteile verschiedener Gattungen. Fahrwerksseitig hat die DN-01 das Zeug zum Motorrad, antriebsseitig hingegen schlägt das problemlose Wesen des Rollers durch. Und ergonomisch tendiert sie mit ihrer extrem niedrigen Sitzposition (690 Millimeter), den weit vorne angebrachten Trittbrettern und dem langen Geweihlenker eindeutig zum Cruiser.
Man könnte hingegen mit ebenso viel Recht behaupten, die DN-01 vereine die Nachteile verschiedener Systeme in sich. Die passive Sitzposition, den schlechten Wetterschutz und den mangelnden Stauraum vom Cruiser, die behäbige Fahrdynamik, das Gewicht und die riesigen Ausmaße vom Großroller. Dazu ein Preis, der mit fast 12000 Euro Roller- ebenso wie Motorrad-Mittelklasse-Grenzen sprengt. Eines steht angesichts dieser Gemengelage aber zweifelsfrei fest: Honda hat mit der DN-01 ein neues Konzept mit überzeugender Kraftübertragung vorgestellt. Ob das tatsächlich den Traum vieler Kunden verkörpert, wird die Zukunft zeigen.
Daten Honda DN-01
Motor:
wassergekühlter Zweizylinder-Viertakt-52-Grad-V-Motor, je eine oben liegende, kettengetriebene Nockenwelle, vier Ventile pro Zylinder, ø 36 mm, stufenlose hydrostatische Kraftübertragung, Kardan. Bohrung x Hub 81,0 x 66,0 mm, Hubraum 680 cm³, Verdichtungsverhältnis 10:1, Nennleistung 45,0 kW (61 PS) bei 7500/min, max. Drehmoment 64 Nm bei 6000/min
Fahrwerk:
Doppelschleifenrahmen aus Stahl, Telegabel, ø 41 mm, Einarmschwinge, Zentralfederbein mit Hebelsystem, verstellbare Federbasis, Doppelscheibenbremse vorn, ø 296 mm, Dreikolben-Schwimmsättel, Scheibenbremse hinten, ø 276 mm, Doppelkolben-Schwimmsattel, Alu-Gussräder 3.50 x 17, 6.00 x 17; Reifen 130/70 ZR 17, 190/50 ZR 17
Maße und Gewichte:
Radstand 1605 mm, Lenkkopfwinkel 61,5 Grad, Nachlauf 114 mm, Federweg v/h 106/120 mm, Tankinhalt 15,1 Liter, Gewicht 270 kg Farben: Schwarz, Dunkelrot
Preis:
11960 Euro inklusive Nebenkosten