So viel ausladenden Pomp ist man in Zeiten von wenig verkleideten Motorrädern kaum mehr gewohnt. Vor allem die voluminöse Front der Honda NT 1100 polarisiert (102 PS; Preis ab 14.580 Euro, DCT 1.000 Euro Aufpreis). Die üppigen Dimensionen schaffen vor allem eins: Platz. Zum Beispiel für die Besatzung. Diese wird auf der Honda NT 1100 hervorragend untergebracht. Die Kniewinkel sind vorne wie hinten entspannt, der breite Lenker kommt einem angenehm weit entgegen, und die Sitzflächen sind durchaus üppig und bequem.
Reichlich Schutz gegen Wind und Wetter
Aber auch für Wind- und Wetterschutz gibt es reichlich Platz auf der Honda NT 1100: Kleine Windabweiser im Fußraum und vorm Lenker schaffen große, der voluminöse Windschild gar Riesendienste. Ganz hochgefahren kann man sich bis zu geschätzten 175 Zentimetern Körperlänge nahezu vollkommen in Deckung bringen. Bei Kälte wärmt die serienmäßige und kräftige Griffheizung zusätzlich. Leider ist die Verstellung von Windschild und Griffheizung aber nicht so schwungvoll. Es muss recht kräftig am Windblocker gezogen und geschoben werden, sodass man solche Kraftakte lieber nur im Stand wuppen sollte. Und für die Griffheizung gibt es keine eigene Taste, dafür aber einen Gratistrip in die spannenden Tiefen der Fahrzeugelektronik. Und da gibt es allerlei zu entdecken.
Honda NT 1100 mit reichlich Platz
Aber zurück zum Platz. Von dem gibt es an der Honda NT 1100 letztendlich auch reichlich für Gepäck. Zwei Koffer sind immer dabei, Topcases gibt es zu 35 und 50 Liter Volumen gegen Aufpreis. Die Koffer fassen 32 bzw. 33 Liter und haben trotzdem sehr schmale Abmaße. Schade jedoch, dass ein Integralhelm ebendeswegen nicht unterkommt.
Motor der Honda NT 1100
Wenig Neues gibt es vom Motor der Honda NT 1100 zu berichten, entspricht er doch weitestgehend dem Antrieb der Africa Twin, die auch sonst den technischen Backbone der NT liefert. Unser Testmotorrad lässt sich im Kalten zwar auffällig lang bitten, wenn man aufs Knöpfchen drückt, dann aber kommt der große Reihentwin ohne Verzögerung in Schwung. Nein, er ist nach wie vor weder Schmeichler noch Sportler, hat immer noch seinen rustikalen, von einem leichten Grundvibrato dauerbegleiteten Schlag und geht aus dem Schiebebetrieb heraus wie gewohnt etwas forsch ans Gas. Wechselt man von "Tour" in den sanfteren "Stadt"-Modus, wird es angenehmer, aber ein kleiner Ruck bleibt auch hier. "Regen" sollte angesichts der deutlichen Leistungs-Kastrierung genau jenem vorbehalten bleiben.
In jedem Fall liefert dieser Antrieb so gleichmäßige und unspektakuläre Leistung, wie es kaum touriger und Honda-hafter sein könnte. Ab etwa 2.500 Touren lässt er sich sauber ans Gas nehmen und serviert seine Kohlen für weitere 5.000 Umdrehungen gleichbleibend stark, wenngleich mehr als 6.000 Touren im Alltag kaum vonnöten sind. Das führt in Verbindung mit dem schön schmatzig-präzisen Getriebe und der leichtgängigen Kupplung auf Wunsch zu erstaunlich flotten Fahrleistungen. Subjektiv jedenfalls einen Tick flotter gar als das höchstwahrscheinlich höher in der Käufergunst stehende und ebenfalls top funktionierende DCT, mit dem unsere Testmaschine aus dem Fahrbericht (Heft 25/2021) ausgestattet war. Die prestigeträchtigen 200 km/h werden auf unserer GPS-Messuhr trotzdem knapp verfehlt.
Reichweite deutlich über 400 km
Solche Dauertempi sind in diesen Gefilden sowieso eher eher. Wichtig zu wissen ist vor allem, dass der Honda NT 1100 für gehobene Reiseschnitte weder die Puste aus- noch die Contenance flöten geht, denn auch ohne Lenkungsdämpfer rauscht sie bei jeder Geschwindigkeit stabil über die Bahn. Stabil und lange, denn die Kombination aus großem Tank und moderatem Verbrauch schafft eine ordentliche Reichweite von deutlich über 400 Kilometer.
So performen die Bremsen der NT 1100
Markentypisch narrensicher gibt sich die Bremsanlage der Honda NT 1100: Sie verzögert bei angenehmer Handkraft kräftig, lässt sich sehr sensibel dosieren und fängt auch allzu schwungvolle Gashände souverän wieder ein. Auch wenn es richtig ernst wird, bleibt die nicht ganz federleichte Fuhre jederzeit stabil und lupft unter keinen Umständen das Hinterrad, die Regelimpulse des ABS sind zudem fein und nur dezent am Hebel zu spüren. Sehr gut.
Top-Test ermittelt Wermutstropfen
Was den Fahrwerkskomfort angeht, gibt es jedoch einen kräftigen Wermutstropfen. Bei der stark verregneten und entsprechend runtergebremsten Fahrpräsentation noch weitestgehend unauffällig, zeigen sich in unserem ausführlichen Top-Test, bei entsprechend verschärftem Testprozedere, neue Seiten der Honda NT 1100: Auf halbwegs ebenem Asphalt sprechen Front und Heck schön an, auch das komfortable Grundsetting delektiert den gemeinen Tourerfreund. Kurze Unebenheiten können am Heck aber zünftige Schläge auslösen, das Federbein scheint sich manchmal fast schlagartig zu verhärten und federt bei größerem Straßenunbill kräftig und wenig gebremst aus. Wenn nun viel Geschwindigkeit und schnell aufeinanderfolgende Unebenheiten dazukommen, kann man sich ausmalen, dass vielleicht ein bisschen mehr Schwung ins Heck kommt als gewünscht.
Wenig Progression bzw. Federweg, bis man in dieser landet, und überschaubare Zugstufendämpfung kommen schnell als Verdächtige in Betracht. Ersterem kann man mit praktischem Handrad und erhöhter Vorspannung ein wenig begegnen, wodurch die Honda NT 1100 etwas weniger tief in der Feder hängt. Fährt man zu zweit, sollte man die Vorspannung am Heck gar maximal erhöhen, da man sonst gefühlt fast ausschließlich im eng gewickelten und harten Teil der Feder hängt. Bei Letzterem hilft aber nur Gottvertrauen oder eine angepasste Fahrweise. Eine Abstimmung, die Fragen aufwirft, zumal die Honda NT 1100 mit je 150 Millimetern eigentlich genug Federweg bietet, um Komfort und Dämpfungsreserven elegant zu verbinden.
Schwungvolles Kurven, satte Schräglage
Nun gut, längsdynamisch ist die Situation umrissen. Nun die Frage, wie schwungvoll es mit der Honda NT 1100 um die Ecke geht. Ziemlich, könnte man sagen. Was in diesem Fall jedoch wieder Vorteile und Nachteile birgt. Erst mal das Gute: Das Einlenken der gut 240 Kilo geht angenehm von der Hand, anschließend liegt die Honda so satt in Schräglage, wie man es von einem Motorrad dieses Kalibers erwartet. In weiten Bögen folgt sie sicher der angepeilten Linie und lässt sich dank des traktorhaften Drehmoments lustvoll aus dem Eck schnalzen. So lustvoll gar, dass auch deutlich dynamischeres Zweirad-Material mitunter erst mal Probleme hat dranzubleiben. Keine Frage, so kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Honda-NT-1100-Leben lang durch die Welt mäandern, ohne etwas zu vermissen.
Aber nun, wir sind, wer wir sind, und der Top-Test ist kein Zuckerschlecken, deswegen muss sich auch die Honda NT 1100 verschärften Bedingungen stellen, sprich: einer guten Kelle Extraschmalz am Gasgriff. Und jetzt wird’s spannend. Anfangs hat man es nur mit einem gut spürbaren Aufstellmoment beim In-die-Kurve-Bremsen und mit der Tendenz zur etwas weiteren Linie zu tun. Ersterem kann man sicher mit der Reifenwahl begegnen, und Letzterem: Ja nun, ist halt ein großes und nicht fliegengewichtiges Tourenbike. Da lässt sich so was verkraften. Kommen jedoch schnelle Wechsel von links nach rechts oder arge Unebenheiten auf dem Asphalt dazu, meldet sich das unterdämpfte Federbein schnell wieder zu Wort. Das Heck bewegt sich dann durchaus unterhaltsam. Nichts, was halbwegs routinierte Fahrerinnen und Fahrer aus dem Tritt brächte, aber souverän und angenehm fühlt sich anders an.
Null-Risiko-Versicherungspaket qua Markenphilosophie
Das scheint auch die Traktionskontrolle zu wissen, die bei flotter Kurvenhechterei in den defensiveren der drei Settings auffällig lang den Vorwärtsdrang reduziert. Kann man natürlich ausschalten und ignorieren, aber dann greift alsbald das nächste Frühwarnsystem der Honda NT 1100 in Form von den angenehm tief montierten, aber deswegen recht früh über den Asphalt schrabbenden Fußrasten.
Motorräder kommunizieren ja manchmal recht deutlich, was sie mögen und was nicht. Dafür sind nicht mal immer die feinsten Antennen notwendig. Diese Honda NT 1100 verlautbart ihr Wohlfühltempo aber auch für all jene, die gar keine Antennen haben. Klar, es ist ein Touren- und kein Rasermotorrad und zudem noch eine Honda. Da ist das Null-Risiko-Versicherungspaket ja schon qua Markenphilosophie eingebaut. Ein bisschen mehr Reserve und damit auch Komfort am Federbein wäre der größte Punkt auf unserer Wunschliste. Und ganz sicher problemlos umsetzbar, ohne Fahrzeugkonzept und Herstellerphilosophie nennenswert vernachlässigen zu müssen.
Das und wenige Zentimeter mehr Kofferbreite – und die tourige Honda NT 1100 wäre noch mal deutlich runder. Dann könnte man sicher auch einfacher über die etwas sperrige Bedienung der Elektronik hinwegsehen. Ansonsten bleibt festzuhalten, dass das Konzept des stattlichen, aber nicht exzessiven, ungekünstelten Tourenmotorrads ohne sportliche Allüren durchaus charmant ist. Und zudem aktuell dünn besetzt. Dass es von den pragmatisch-effizientesten Japanern, nämlich von Honda, aufgegriffen wird, erscheint nur folgerichtig.