Für Reisemotorräder gelten eigene Gesetze. Hier schielt niemand nach dem letzten Quäntchen Leistung, regt sich keiner über ein paar Pfunde mehr oder weniger auf. Vielfahrer wissen stattdessen Zuverlässigkeit, eine nervenschonende Motor- und Fahrwerksauslegung, menschenfreundliche Ergonomie, guten Wind- und Wetterschutz sowie professionellen Gepäcktransport zu schätzen. Doch braucht es einen sieben Zentner schweren Brocken, um Reiselust zu erleben? Oder genügt schon eine clever gemachte 650er zum halben Preis? MOTORRAD hat vier bereits durch Spitzen-ergebnisse geadelte Bewerber von BMW und Honda auf die Reise geschickt.
Den David im Feld mimt die Honda Deauville, trotz ihres vergleichsweise schüchternen Auftritts will sie als Vollwert-Tourer ernst genommen werden. Das andere Extrem bildet die BMW K 1200 LT angesichts von Ausstattung, Gewicht und Preis ein würdiger Goliath. Und ob BMW R 1100 RT und Honda ST 1100 tatsächlich die goldene Mitte bilden, wird sich am Ende zeigen.
Schon beim Bepacken der soliden, fest installierten Koffer freut sich die LT-Besatzung auf das serienmäßige Unterhaltungsangebot des Luxusdampfers: Radio, Cassette, Bordcomputer und Tempomat. Frostknödel werden auch die Griff- und optionale Sitzheizung zu schätzen wissen.
Nachdem das Reisegepäck in den bei allen Kontrahenten serienmäßigen Koffern verschwunden ist, was bei den Honda wegen der umständlicheren Öffnungsmechanismen etwas länger dauert, gehts los. Noch liegt herbstlicher Frühnebel über dem Land, und so ist der RT-Treiber dankbar über die zuschaltbare Warmluftheizung, die für ein fast kuscheliges Klima hinter der elektrisch höhenverstellbare Windschutzscheibe sorgt. Zwar nie ganz vibrationsfrei, doch dafür kernig und dynamisch treibt der Vierventil-Boxer das 285 Kilo schwere Trumm über die Landstraße. Ab 4000 Touren geht beim 1100er richtig die Post ab. Zwar erfordert die wegen des hohen Lenkers aufrechte Sitzposition etwas Eingewöhnung, aber dann kann man die Kuh mächtig fliegen lassen. Das stabile Fahrwerk mit Tele- und Paralever sowie die üppige Bodenfreiheit machen die RT zum Kurvenwetzer unter den Reiseprofis.
Doch Obacht, trotz des Hubraum- und Leistungsmankos kann sich die Deauville im Windschatten halten. Hier zahlt sich das vergleichsweise niedrige Gewicht aus, immerhin wiegt die Honda einen Zentner weniger als die RT, und gar drei als die LT. Allerdings muss der V2 mit drei Ventilen pro Zylinder in deutlich höheren Tönen jubeln, will die Besatzung an der RT dranbleiben. Statt im großen Gang aus den Ortschaften herauszuschieben, bedarf es bei der 650er ein oder zwei Tritte auf den Schalthebel. Dafür macht es ihre kompakte Gestalt und ausgeprägte Wendigkeit vor allem Ungeübten leicht, mit einem lustigen Lied auf den Lippen flott über die Landstraße zu swingen.
Behäbiger, aber auch deutlich souveräner wirken die Hubraumriesen. So schiebt der mächtige Zwölfhunderter der LT unter tiefem Murmeln sanft und gleichmäßig wie ein Automotor an. Lediglich um 4500 Touren herum verliert er für einen Moment die Contenance und sendet Vibrationen aus, die die Besatzung wieder auf den Boden der Realität zurückholen. Die vergisst nach einigen Kilometern Fahrt im Schoße des üppig gepolsterten Sattel, verwöhnt von den Klängen der perfekten Stereoanlage, nämlich gern mal Zeit und Raum. Kein Wunder, entkoppelt doch das LT-Fahrwerk mit den recht soft abgestimmten Tele- und Paralever-Radführungen einem Luftkissen gleich von fast allen Unbilden, die nachlässig gepflegte Straßen bereithalten. Lediglich kurze Absätze werden zu Fahrer und Beifahrer durchgestellt.
An solchen Passagen verliert auch die ansonsten lammfromme ST 1100 kurz die Fassung und lässt ihr Hinterrad beim vollen Beschleunigen nervös über die Huckel hüpfen. Sobald sich das Asphaltband glättet, kehrt auf der großen Honda wieder Ruhe ein, und die immerhin 328 Kilo schwere ST lässt sich mit erstaunlich wenig Kraftaufwand selbst durch enge Kurven scheuchen. Das ausgewogene Handling - es reicht fast an die Qualität der viel leichteren Deauville heran - ist unter anderem ein Verdienst des schwerpunktgünstig platzierten, exklusiv der ST vorbehaltenen V4-Motors. Dezent brummend produziert er ab Standgasdrehzahl satt Power bis jenseits des roten Bereichs bei 8000 Touren. Und das bei kaum wahrnehmbaren Vibrationen - perfekt. Auch in puncto Getriebe kann Honda glänzen. Beide Tourer besitzen akustisch ausgedrückt exakt agierende Klick-Boxen, während die bajuwarischen Schwestern Gangwechsel mit einem metallischen »Klonk« unterstreichen.
Beim Kilometerfressen auf der Autobahn schlägt dann aber die Stunde der BMW: Die Devise des LT-Kapitäns lautet: Tempomat rein und rollen lassen. Die opulente Verkleidung mit elektrisch höhenverstellbarer Frontscheibe und zusätzlichen Windabweisern nimmt die Passagiere dabei bis knapp Tempo 200 perfekt in Schutz, ja, sogar Musikfetzen aus den vier Bordlautsprechern sind noch zu erhaschen. Nur in langgezogenen Kurven, wenn eine halbe Tonne Mensch und Maschine ins Rühren geraten, wird es hinter dem sehr elastisch gelagerten Lenker etwas ungemütlich.
Aber so schnell geht es nur ein kurzes Stück, schließlich soll die Deauville-Besatzung nicht allzu weit zurückfallen. Mit 56 PS ist bei Tempo 170 Ende, was dem Fahrer nicht ungelegen kommt, stempelt ihn die knappe Verkleidung mit der kleinen Frontscheibe schon nach kurzer Zeit zum Windgesicht. Also gilt auch hier: Weniger Geschwindigkeit ist mehr, bis Tempo 140 sind selbst lange Strecken hinter dem flachen Lenker relaxt zu bewältigen. Selbst der Mitfahrer ist auf der weich gepolsterten Bank mit den niedrig positionierten Fußrasten gut untergebracht.
Über eine sturmfreie Bude freuen sich nicht nur liebestolle Teenager, sondern auch die Piloten von RT und ST. Sogar bei Topspeed 210 herrscht hinter den Verschalungen von RT und ST noch erstaunliche Ruhe, wobei die BMW die anstürmenden Naturgewalten noch einen Tick eleganter umleitet als die Honda, die dem Fahrer dafür mehr Platz lässt. Klaustrophobisch Veranlagte fühlen sich auf der Münchnerin bisweilen etwas eingeengt.
Wird die Fahrt durch einen Stau hinter der nächsten Kurve überraschend eingebremst, kann das keinen der vier Piloten schrecken. Serienmäßig mit ABS versehen, verzögern die Stopper beider BMW die großen Massen stets zuverlässig, und das Telelever sei Dank mit minimalem Gabeltauchen. Leider verlangen beide nach einer starken Hand am Hebel, was die Dosierbarkeit etwas beeinträchtigt.
Honda setzt bei der ST auf die Kombibremse CBS samt Antiblockiersystem. Mit wenig Kraftaufwand am Hand- oder Fußhebel lässt sich der Reisedampfer auch aus hohen Tempi sicher zum Stehen bringen, wobei Vorder- und Hinterrad automatisch gemeinsam verzögert werden. Da die ST beim Bremsen genug Gewicht auf die Hinterhand bringt, funktioniert das CBS stets tadellos.
Ganz ohne Hilfsmittel arbeitet die Dreischeibenanlage der Deauville. Also muss der Fahrer auf nasser Straße oder bei Panikbremsungen die Bremskraft selbst verteilen, was wegen des nicht allzu hohen Gewichts und der guten Dosierbarkeit kein Problem ist. Selbst im Zweipersonenbetrieb bei voller Beladung ist der kleine Tourer mit leichtem Griff runterzubremsen.
Plötzlich beginnt der Deauville-Motor zu stottern. Kaputt? Nein, Sprit ist alle. Keine Warnlampe oder Tankuhr hat vor drohender Ebbe gewarnt. Also kurz zum Benzinhahn gegriffen, und die Fuhre läuft auf Reservestellung weiter. Etwas später äußern auch ST und RT den Wunsch nach einem Tankstopp mittels Benzinuhr und Warnleuchte. Über solche Info-Quellen kann der LT-Kapitän nur müde lächeln, schließlich wird er durch den Bordcomputer permanent über die Restreichweite auf dem Laufenden gehalten. Wie bei den anderen drei ist nach gut 350 Kilometern Schluss. Am größten ist die Verbrauchsdifferenz beim Expresstempo auf der Autobahn zwischen Deauville und LT liegen dann mehr als drei Liter. Dass unsere Reisegesellschaft trotzdem gemeinsam an der Zapfsäule einkehrt, liegt an den unterschiedlichen Tankvolumina.
Weniger Eintracht herrscht beim Fazit: Den besten Kompromiss aus Langstreckenkomfort und Fahrdynamik findet die BMW R 1100 RT, während die Honda ST 1100 von ihren Allround-Qualitäten und der problemlosen Handhabung profitiert. Die Deauville kann den in puncto Motorleistung und Ausstattung verlorenen Boden auf der Fahrwerks- und vor allem Kostenseite zum Teil wieder gutmachen. Die K 1200 LT hingegen setzt zwar neue Komfort-Maßstäbe, muss aber wegen des prinzipbedingt hohen Gewichts Abstriche in anderen Bereichen hinnehmen. Außerdem ist sie 20000 Mark teurer als die Deauville. Und so kommt es, dass David, wenn auch knapp, über Goliath triumphieren kann.
4. Platz - BMW K 1200 LT
Eines kann man der dem Bayern-Goliath nicht vorwerfen: Inkonsequenz. Im Gegenteil, die LT ist das personifizierte Bekenntnis zum Techno-Fulldresser. Gutbetuchte können sich an der durchdachten, perfekt funktionierenden Ausstattung und dem bedingungslosen Komfort erfreuen. Außerdem hat das Cabrio auf zwei Rädern einen ganz grossen Trumpf im Gepäck: den besten Soziusplatz aller Zeiten. Wo sonst kann man oder frau sich Hinterteil und Rücken angenehm wärmen lassen und sich während der Fahrt ins Musikprogramm einmischen?
1. Platz - Fazit BMW R 1100 RT
Ein Sieger mit Charakter. Zugegeben, der zunächst etwas rüde wirkende Boxermotor und das ungewöhnliche Fahrwerk sowie die aufrechte Sitzposition bedürfen einer kurzen Eingewöhnung. Wer sich aber einmal auf die agile RT eingeschossen hat, der kann sie überaus aktiv und fast schon sportlich bewegen. Das gilt gleichermaßen für die sonntagmorgendliche Tour über die Hausstrecke wie auch den großen Urlaubstrip zu zweit. Spätestens hier kann die RT ihre perfekte Ausstattung von der Verkleidung bis zu den Koffern auspielen.
2. Platz - Honda ST 1100
Seit fast zehn Jahren am Markt und immer noch für einen Podestplatz gut. Das soll der Pan European erst mal einer nachmachen. Die große Honda kann alles, ohne irgendwo besonders herauszustechen. Daher werden im Sattel der ST vor allem Perfektionisten glücklich, die das trotz des hohen Gewichts ausgewogene Fahrverhalten und den leisen, gleichmäßig zupackenden V4-Motor zu schätzen wissen. Eine üppige Ausstattung sowie die längst überfällige Abgasreinigung gehören jedoch (noch?) nicht zum Lieferumfang des Longsellers.
3. Platz - Honda Deauville
Auf den ersten Blick scheint die Deauville den übermächtigen Konkurrenten unterlegen. Doch in der Praxis ist die clever gemachte 650er erste Wahl für Pragmatiker. Wer stressfreies Reisevergnügen bei problemloser Handhabung im Alltag luxuriösem Komfort und fettem Motor-Punch vorzieht, der kann zum preisgünstigen Underdog greifen. Statt sich von der Stereoanlage berieseln und einer Sitzheizung den Hintern wärmen zu lassen, muss man selbst ein Liedchen pfeifen und sich warme Gedanken machen 20000 Mark Differenz zur LT helfen dabei.