Was wäre der Mensch ohne Erinnerungen? Ohne Bilder und Emotionen, Erlebnisse und Erfahrungen, Höhen und Tiefen, Menschen und Landschaften? Traurig, wenn das alles nur für den Moment wäre. Erst die Fähigkeit, zu erinnern, macht den Mensch zum Menschen. Motorradfahrer erleben immer etwas, das zu erinnern sich das ganze Leben lang lohnt. Und je mehr Erinnerungen man gesammelt hat, desto mehr spürt man, dass es im Leben nicht allein um den Augenblick geht. Es sind vor allem die Highlights auf zwei Rädern, die sich in den Hirnwindungen verankern. Für Profi-Tester die besonderen Storys, außergewöhnliche Erlebnisse. Wie das Alpen-Masters 2014.
Das alljährlich stattfindete Alpen-Masters ist der größte Motorradtest der Welt und findet in diesem Jahr bereits zum zehnten Mal statt. Ein ganz spezielles Finale sollte daher das Jubiläum krönen. Eines, das Erinnerungen weckt: Auf einer großen Tour quer durch die Alpen sollen alle früheren Stationen noch einmal besucht werden.
Vier Regionen mit jeweils eigenem Charakter
Es begann alles 2005 am legendären Stilfser Joch. Danach fand das Alpen-Masters für zwei Jahre in Frankreich am Col du Galibier statt. Anschließend, 2008 und 2009, fuhr das Testteam in die Dolomiten ins Val di Fassa, im Jahr darauf erneut zum Stilfser Joch und schließlich 2012 und 2013 in das Grenzgebiet zwischen Frankreich und Italien mit dem Col de la Bonette als Höhepunkt. Die diesjährige Vorrunde (siehe MOTORRAD 15 und 16/2014) fand wiederum im Fassatal in den Dolomiten statt. Vier Regionen mit jeweils eigenem Charakter und ganz unterschiedlichen Straßenverhältnissen, die eines gemeinsam haben: Alle bieten begeisternde Motorradreviere mit tollen Straßen, eingebettet in faszinierende Gebirgslandschaften.
Der Modus ist bekannt: Wie gewohnt werden die Punkte der Vorrunde im Finale gelöscht, die internationale Testcrew bewertet die fünf Gruppensieger und den Titelverteidiger – in diesem Fall die Vorjahressiegerin BMW R 1200 GS – rein subjektiv. Es ist eine Wahl, über Platz und Sieg können also durchaus individuelle Schwerpunkte und Perspektiven entscheiden. Die Gruppensieger der Vorrunde durften zur Finaltour tourenmäßig aufgepeppt antreten, schließlich müssen fast 3000 Kilometer in knapp sechs Tagen bewältigt werden. Und auch der Titelverteidiger tritt in der Adventure-Version an, die gegenüber der Basis-GS für lange Touren einige Vorteile mitbringt: nämlich eine extreme Reichweite durch den riesigen 30-Liter-Tank, außerordentlichen Fahrkomfort durch verlängerte Federwege und schließlich mehr Laufkultur beim Boxer durch vergrößerte Schwungmassen und Ruckdämpfer im Antriebsstrang. Ein übermächtiger Gegner?
Yamaha FJR 1300 AE ersetzt ursprünglichen Touren-Sieger
Zumindest kann es nicht zum hausinternen Boxer-Duell kommen: BMW konnte keine fahrfähige Testmaschine des Typs R 1200 RT – Testsieger bei den Tourern – zur Verfügung stellen, da ein Rückruf und Umtausch des ESA-Federbeins wegen Bruchgefahr der Kolbenstange zurzeit alle neuen RT-Maschinen stillgelegt hat. Niemand darf fahren, solange keine neuen Federbeine geliefert werden können. Des einen Pech, des anderen Glück: Der Gruppenzweite, die Yamaha FJR 1300 AE, durfte nachrücken, sicher keine schlechte Alternative.
Stuttgart als MOTORRAD-Basis bildet Ausgangs- und Zielpunkt der Reise. Da die Schwabenmetropole bekanntermaßen nicht am Rand der Alpen liegt, beginnt der Trip mit einer zügigen Anreise über die Autobahn. Die erste Etappe soll zum Fernpass, dann über die Brenner-Autobahn zum Sellajoch nach Canazei im Val di Fassa führen.
Ab in den Süden
Am ersten Tag stehen daher die Reisequalitäten des Sextetts im Vordergrund. Hier kann ein gelernter Tourer wie die Yamaha FJR 1300 AE brillieren. Viel Komfort, viel Platz für Passagiere und Gepäck, toller Windschutz, ein stabiles und souveränes Fahrwerk – so sind ermüdungsfrei lange Etappen drin. Die beiden großen Reiseenduros bieten ähnlich hohen Fahrkomfort und ebenfalls viel Stauraum in den Alu-Koffern, allerdings fehlt es der KTM 1190 Adventure bei Beladung und Geschwindigkeiten über 160 km/h ein wenig an Stabilität, der Fahrtwind rüttelt trotz höherer Zubehörscheibe unangenehm am Helm.
Der sonntägliche Reiseverkehr verhindert jedoch ausgiebige Highspeed-Passagen, sodass selbst die Honda NC 750 X mit nur 55 PS nie den Anschluss an die Gruppe verliert. Mit Adventure-Paket sieht das Crossover-Bike fast wie eine kleine Reiseenduro aus, die höhere Scheibe bietet überraschend guten Windschutz. Schade nur, dass die Sitzbank auf Dauer etwas unbequem ist. Stabil geradeaus laufen die beiden unverkleideten Maschinen BMW S 1000 R und Yamaha MT-09 zweifellos, allerdings werden Geschwindigkeiten über 130 km/h ohne Windschutz auf Dauer doch ziemlich anstrengend. Und viel Gepäck passt in ihre Softbags auch nicht hinein.
Berge und Täler, Pässe und Kurven
Von alpinen Bergkonturen ist zunächst lange nichts zu erkennen. Erst ein gutes Stückchen hinter Ulm, ab dem Rasthof „Allgäuer Tor“, hebt die sich blass im Dunst abzeichnende Alpenkontur die Stimmung. Berge und Täler, Pässe und Kurven – wir kommen. Insgesamt 19 Pässe, darunter die höchsten der Alpen, liegen in den nächsten Tagen vor uns. Okay, der erste – der Fernpass gleich hinter der österreichischen Grenze – ist kein wirklich großer Alpenpass, eher eine Verbindungspassage. Doch immerhin ein Auftakt für das, was das Sextett in den nächsten fünf Tagen erwartet.
Ein Verkehrsunfall erzwingt eine Zwangspause. Der Rettungshubschrauber ist auf der Straße gelandet, ein verletzter Motorradfahrer wird weggeflogen. Vielleicht auch eine Mahnung, dass die Alpen nicht nur faszinierend sind, sondern mit ihren anspruchsvollen Straßen auch ein höheres Risiko für Biker darstellen. Besonders hier am Fernpass wegen der hohen Verkehrsdichte. Die Brenner-Autobahn bringt die Gruppe schließlich nach Südtirol, wo mit dem berühmten Sellajoch der erste renommierte Alpenpass wartet.
Die Reiseroute

Die große Alpen-Runde, die alle vier bisherigen Stationen des Alpen-Masters umfasst – das war die Idee für das diesjährige Jubiläumsfinale. Start- und Zielpunkt der insgesamt 2650 Kilometer langen Tour über 19 Alpenpässe ist die MOTORRAD-Basis in Stuttgart. Von da aus führt die Route zunächst über Fernpass und Brenner-Autobahn in die Dolomiten ins Val di Fassa am Fuße der legendären Sella-Runde. Über Karer- und Mendelpass gelangen die Tester daraufhin von Canazei ins Ortler-Gebiet, wo der wunderschöne Passo di Gavia und das legendäre Stilfser Joch mit seinen gefürchteten Spitzkehren warten. Oben am Joch versorgt Bratwurst-Bruno die Tester.
Wegen miserablen Wetters wird hier kurzfristig umdisponiert: Über Mailand und Turin geht die Reise ins Piemont. Bei schönstem Wetter startet die Gruppe anschließend von Pietraporzio aus über den idyllischen Col de la Lombarde zum beeindruckenden Col de la Bonette, den die Schleife um den Cime de la Bonette zum höchsten asphaltierten Alpenpass macht. Inmitten der grandiosen französischen Alpen folgen weitere Pässe, Col de Vars und Col d’Izoard , die schließlich zum nächsten Etappenziel Valloire am Berg der Radfahrer, dem Col du Galibier, führen. Auch die Rückreise enthält noch einige der bekanntesten Pässe wie den Col de l’Iseran sowie den Großen und Kleinen Sankt Bernhard. Durch die Schweiz führt die Autobahn abschließend zurück nach Stuttgart.
Die Dolomiten

Zum dritten Mal war MOTORRAD vor einigen Wochen für die Vorrunde des Alpen-Masters in den „Bleichen Bergen“. Man glaubt, hier jeden Meter Asphalt zu kennen, wird aber doch immer wieder überrascht, weil in den Alpen Straßen nichts Konstantes sind. Berge bewegen sich, der Frost tut sein Übriges, so ändert sich die Fahrbahn permanent. Hinzu kommen die üblichen unkalkulierbaren Dinge vom Reisebus, der immer genau im ungünstigsten Moment hinter der uneinsehbaren Kehre kommt, bis zum Murmeltier, das sich auf dem Asphalt liegend aufwärmt und immer genau zur falschen Seite weghoppelt. Dass es mittlerweile Abend wurde, hat einen Vorteil: Man hat seine Ruhe am Sellajoch. Tagsüber ist der Verkehr – zumindest auf der berühmten Sella-Runde – schon früh in der Saison stark. Das einmalige zackige Dolomiten-Panorama darf man immer genießen. Und jetzt im Frühsommer sind die Täler in saftiges Grün getaucht, die Wiesen ein endloses Blütenmeer.
Für die Motorräder ein erster Prüfstein. Die Yamaha MT-09 hat sich in der Fun-Gruppe wegen der überlegenen Charakteristik des Dreizylinders durchsetzen können. Im Finale ist die Konkurrenz härter. Motorisch gesehen kann sich das Mittelklasse-Funbike gegenüber der stärkeren Konkurrenz locker behaupten. Der Dreizylinder liefert immer und überall jede Menge Schub, ist jederzeit sofort da. Das riesige Leistungsband erlaubt dem Schaltfuß lange Pausen. Gewöhnungsbedürftig bleiben allerdings in Kehren unsanfte, harte Lastwechsel. Der B-Modus agiert etwas softer, muss aber nach jedem Start erneut aktiviert werden. Wenig geschmeidig sind außerdem die selten nötigen Gangwechsel.

Erheblich mehr Kritik muss dagegen das Fahrwerk einstecken. Besonders oben am Sellajoch, wo die Straße nach den Winterschäden nur behelfsmäßig geflickt ist, entwickelt das kippelige Fahrwerk ein Eigenleben, das dem Fahrer auf Dauer den Spaß nimmt. Unterdämpft über den Boden hoppelnde Federelemente sind das eine, schlimmer jedoch sind deren Auswirkungen auf die Lenkung. Der Fahrer ist auf kaputten Passpisten permanent mit Lenkkorrekturen beschäftigt. Alles kein Problem, wenn die Straßen eben sind, aber das gibt es hier im Hochgebirge nun einmal selten.
Ein kurzer Abstecher zum Pordoijoch krönt den Tag. Purer Fahrgenuss auf griffiger Kurvenpiste. Hier oben erinnert sich jeder an das sensationelle Siegerfoto von 2009, als die Honda CB 1300 mit der Seilbahn hochgefahren und haarsträubend nah an den 1000 Meter tiefen Abgrund bugsiert wurde. Honda ließ damals Poster davon drucken. Am Tag darauf soll es Richtung Stilfser Joch gehen. Vom Val di Fassa im Trentino führt die Tagesetappe über den Karerpass, der bereits zum deutschsprachigen Südtirol gehört. Ein etwas abseitiger, vielleicht gerade deswegen reizvoller und lieblicher Pass mit viel Wald, der an seiner Westseite schließlich nach Bozen führt.
Wie ein Stück Rennstrecke mitten in den Alpen
Der dichte Verkehr um die Südtiroler Stadt ist unumgänglich, doch mit dem wenig bekannten Mendelpass folgt kurz darauf ein unerwartetes Highlight. Nicht unbedingt wegen grandioser Aussichten, eher wegen der perfekt ausgebauten Straße, die sich über die nur 1363 Meter flache Passhöhe windet. Sanfte, gleichmäßige Schwünge, keinerlei unliebsame Überraschungen, allerfeinstes Gripniveau, praktisch null Verkehr – fast wie ein Stück Rennstrecke mitten in den Alpen. Das manchen Touristen zum Heizen verleitet: Eine Gruppe westfälischer BMW-Fahrer fühlt sich provoziert, deren Leader gibt mit seiner BMW R 1200 R alles. Doch Vorsicht, Alpen-Glühen ist auch hier keine gute Idee.
Trotzdem, einem Power-Naked wie der BMW S 1000 R tut ein wenig Auslauf mal ganz gut. Es ist immer wieder ein ganz spezielles Vergnügen, diesem Vierzylinder-Kraftpaket mal die Sporen zu geben. Bei solch einer Sprinteinlage passt einfach alles: ein Motor mit sanftem Einsatz, aber unglaublichem Schub in allen Drehzahlregionen. Ein Fahrwerk, scharf wie ein Klappmesser, aber ohne übertriebene Nervosität. Bremsen wie Schiffsanker, doch immer fein dosierbar. Assistenzsysteme vom Allerfeinsten, aber kein unnötiger Firlefanz.
Durchs Trentino führt die Route über den Passo Tonale
Wenn es darum ginge, aufmüpfige Gegner zu massakrieren, wäre die BMW S 1000 R immer allererste Wahl. Dass so ein Wetzhobel auf holperigem Terrain nicht den Komfort einer Reiseenduro hat, okay, das ist die Kehrseite, die Federwege sind eben sportlich-kurz. Und dass die touristischen Qualitäten eher unterirdisch sind, muss man zwangsläufig ertragen. Zumindest entschädigen 20 prickelnde Kilometer für manche Tortur bei ausgedehnten Passfahrten im Zuckeltempo.
Durchs Trentino führt die Route über den nicht weiter erwähnenswerten Passo Tonale. Bei Ponte di Legno biegen wir ab zum Passo die Gavia. Auch einer aus den Top-Ten der höchsten Alpenpässe – und einer der spektakulärsten. Mit den letzten Jahren hat die malerische Südseite des Gavia ihr Gesicht stark verändert. Der Autor erinnert sich noch an die frühere Offroad-Piste, heute ist die gesamte Strecke asphaltiert. Das schmale Band mäandert nach wie vor ohne jegliche Sicherung an steilen Abhängen entlang. Weil Autos einander nur an bestimmten Ausweichstellen passieren können, verirren sich abgesehen von Radfahrern nur wenige Touristen hierher.

Abenteuerlich ist der Straßenverlauf, da fühlt sich eine Maschine wie die KTM 1190 Adventure per se pudelwohl. Lange Federwege schlucken derbe Holperpisten, die aufrechte Sitzposition bringt Übersicht und ein überlegenes Fahrgefühl. Der Motor hämmert bei Bedarf mit solcher Macht los, dass die Traktionskontrolle in den unteren drei Gängen immer alle Hände voll zu tun hat. Doch sie werkelt unbemerkt im Hintergrund, der Fahrer erkennt es nur am permanenten Flackern der Kontrollleuchte.
Obenheraus liefert der Twin so viel Power, dass sie auf Passfahrten ohnehin nicht umgesetzt werden kann. Im Gegensatz zu der entkoppelt über alles hinwegschwebenden BMW R 1200 GS Adventure bleibt das KTM-Pendant stets exakter, verbindlicher. Das Fahrwerk liefert in Schräglage ein knackiges Feedback und baut mehr Vertrauen auf, in Wechselkurven klappt die KTM 1190 Adventure handlicher um. Einen kleinen Obolus für den dynamischen Auftritt muss der KTM-Fahrer allerdings an der Tankstelle entrichten. Und was die touristische Seite angeht, also etwa Windschutz, Sitz- und Fahrkomfort sowie das Bedienkonzept, da ist die GS sicher einen Tick besser.
Rückblick Alpen-Masters 2009 und 2010 in den Dolomiten
Die Dolomiten sind das Motorradrevier schlechthin in den Alpen, hier gibt es auf engstem Raum wunderschöne Landschaften und begeisternde Strecken. Scharen von Bikern sind vor allem auf der berühmten Sella-Runde anzutreffen, man findet abseits davon jedoch auch ruhig gelegene Pässe. Von Süddeutschland sind die Dolomiten schnell erreichbar, außerdem wird überall eine hervorragende Infrastruktur und Gastronomie geboten. Nur in der Hochsaison sollte man die Sella-Runde eher meiden, da stauen sich Busse und Wohnmobile vor den Spitzkehren.
Zweimal kam MOTORRAD in früheren Jahren zum Alpen-Masters hierher, in diesem Jahr fand die Vorrunde in den „Bleichen Bergen“ statt. Etwas überraschend setzte sich 2009 die Honda CB 1300 durch. Der seidenweiche, kraftvolle Motor und der gute Fahr- und Sitzkomfort waren schlagkräftige Argumente. Zur Belohnung wurde die Honda per Seilbahn zum Sass Pordoi hinaufbefördert. Ein Jahr später kam dann erstmals die BMW R 1200 GS zum Zuge, die Erfolgsserie der Reiseenduros begann.
Sieger 2009: Honda CB 1300
Sieger 2010: BMW R 1200 GS
Das Stilfser Joch

Über Bormio erreicht das Testteam spät abends sein Tagesziel, das Stilfser Joch. Die Westrampe von Bormio aus ist weniger spektakulär, hat aber mit Wasserfall und vielen Tunnels ebenfalls einige Reize zu bieten. Oben auf der Passhöhe treffen wir alte Bekannte. Bratwurst-Bruno etwa, Südtiroler Original, bei dem immer noch die MOTORRAD-Flagge vom ersten Besuch 2005 hängt. Von der Tibethütte kann man die Aussicht auf das Ortler-Massiv und die berühmte Kehrenseite des Stilfser Jochs genießen.
Wie sagt Kollege Koch immer in solchen Situationen: „Da fliegt dir der Hut weg.“ Knapp 50 „Tornanti“, fein säuberlich durchnummeriert, haben das Stilfser Joch zur Legende werden lassen. Fast ein bisschen schade, dass neuerdings topfebener Asphalt die oberen Kehren bedeckt, wo vor ein paar Jahren noch Reste der ehemaligen holperigen Natursteinpiste frei lagen. Das Ursprüngliche, Unzulängliche macht ja immer auch den Charme aus. Doch keine Angst, eine Autobahn wird solch ein Bergpass nie. Und die seit Jahren angedrohte Maut gibt es gottlob auch noch nicht. Was die Testfahrer der Autoindustrie sicher auch nicht davon abhalten würde, hier ihre mehr oder weniger getarnten Vorserienfahrzeuge auf Herz und Nieren zu erproben.

Geändert hat sich auch das Hotel. Gastgeber und Monster-Fahrer Hugo Ortler musste sein Haus in Trafoi, das millimeterweise langsam den Abhang hinunterrutschte, aufgeben und hat ein paar Hundert Meter weiter unten neu gebaut. Hochmodern, aber der alte Vierzylinder-Zapfhahn ist noch da. Und natürlich die alte Gastfreundlichkeit. Für die zweite Reiseenduro im Finale, die BMW R 1200 GS Adventure, ist die anspruchsvolle Kehrenpiste der Südrampe ideales Terrain. Eine Maschine wie ein Panzer, die eine unerschütterliche Souveränität ausstrahlt. Die BMW verwöhnt mit überragendem Fahrkomfort, allein die kurzen Kanten und Löcher kommen etwas hart durch. Wie die Handlichkeit dieses Riesenbikes einzuordnen ist, hängt stark von der Größe des Fahrers ab. Bei den langen Kerls passt alles optimal, die kurzen haben mehr Respekt vor der gewaltigen Größe. Und die sportlich orientierten Kollegen bemängeln das mäßige Feedback der Anakee-Reifen.
Zustimmung auf breiter Basis erntet hingegen der Boxer: oben dynamisch, unten kraftvoll, fein kontrollierbar. Die BMW R 1200 GS Adventure kommt mit viel Drehmoment aus den Spitzkehren, der erste Gang ist fürs Kraxeln und Rangieren schön kurz übersetzt. Die oft kritisierte Schaltung ist nur ein Randthema, Begleitgeräusche beim Schalten in den unteren Gängen sind tolerierbar. Das Gesamtpaket ist durchdacht, die Bedienung perfekt. Und die Adventure hat von allen Maschinen das beste Gepäcksystem. Sturzbachartige Regengüsse über Nacht und die miserable Wetterprognose zwingen tags darauf zu gravierenden Eingriffen in die weitere Planung. Statt weiter dem gewittergetränkten Alpenkamm zu folgen, soll es über Mailand und Turin möglichst schnell ins trockene Piemont gehen, 2012 und 2013 Basisstation des Alpen-Masters.
Rückblick Alpen-Masters 2005/2006 und 2011 auf dem Stilfser Joch
Hier muss man einmal im Leben gewesen sein, das Stilfser Joch ist sicher einer der berühmtesten unter den Alpenpässen. Nicht nur, weil der Passo dello Stelvio zu den höchsten Bergüberquerungen zählt, sondern vor allem wegen seines einzigartigen Straßenverlaufs an der Westrampe mit den vielen Spitzkehren. Gewisse fahrerische Mindestanforderungen sollte man erfüllen, die Tester haben hier bereits Maschinen stumpf umfallen sehen. Sehr empfehlenswert ist der Abstecher in die Schweiz ins Val Müstair über den Umbrailpass, der zum Teil noch geschottert ist. Das Stilfser Joch ist gewissermaßen Geburtsort des Alpen-Masters, hier entstand die Idee, und hier fand der erste große Alpen-Test im Jahr 2005 statt.
MOTORRAD war bereits dreimal am Stelvio zu Gast, Ausgangspunkt war immer das Hotel „Tannenheim“ in Trafoi, direkt am Pass gelegen. Eine große Überraschung war für viele der Sieg der Suzuki V-Strom 650, die trotz kleinen Hubraums und überschaubarer Spitzenleistung so manches Big Bike in die Knie zwang. Ein Beweis, dass es unter solch selektiven Bedingungen auf das Gesamtpaket ankommt, nicht auf schiere Größe und Leistung. 2006 konnte die V-Strom ihren Titel am Stelvio verteidigen, und auch die BMW R 1200 GS schaffte das hier 2011.
Sieger 2005/2006: Suzuki V-Strom 650
Sieger 2011: BMW R 1200 GS
Col de la Bonette

Pietraporzio nahe Cuneo am Abend, es ist trocken – alles richtig gemacht. Besonders attraktiv liegt der Ort am Fuße des viel befahrenen Col de Larche zwischen Italien und Frankreich, den die Italiener Colle della Maddalena nennen, nicht gerade. Umso schöner sind die umliegenden Pässe, weshalb MOTORRAD zweimal hier war. Den Höhepunkt der Testrunde bildete der mit 2802 Metern höchste Alpenpass überhaupt, der Col de la Bonette. Viel besser als der direkte Weg dorthin über den Larche ist jedoch der Umweg über den Col de la Lombarde. Ein besonders an der italienischen Seite landschaftlich fantastischer Pass, abseits üblicher Routen einsam gelegen und wenig frequentiert. Mit seinen wechselnden Kurven und teils rutschigem Untergrund auch fahrerisch anspruchsvolles Terrain.
Heute besonders, denn am frühen Morgen hat eine Kuhherde die Straße in eine schmierig-glatte, braune Soße getaucht. Auf der französischen Seite liegt oben, unterhalb der Passhöhe, das eher hässliche Retorten-Ski-Resort Isola 2000, dem man eine wunderschöne, breite Zufahrtsstraße spendierte. Auf der kann man es mal wieder ordentlich laufen lassen. Das freut die beiden sportlichen Kraftpakete BMW S 1000 R und KTM 1190 Adventure, aber auch die in Spitzkehren etwas schwerfälligere Yamaha FJR 1300 AE. Die endlose Kurverei der vergangenen Tage hat die große Yamaha ganz tapfer über sich ergehen lassen.

Sicher lenkt die Yamaha FJR 1300 AE in Spitzkehren nicht so leicht ein wie der Rest der Finalisten, da muss am Lenker eben etwas mehr gearbeitet werden. Aber gegenüber früheren FJR-Varianten hat sich doch einiges zum Positiven verändert. Die aktuelle AE-Version fährt weniger störrisch, bleibt in Schräglage neutral auf Kurs, und das elektronische Fahrwerk federt komfortabel und spricht fein an. Auf der Wunschliste der Tester bleibt jedoch immer noch etwas mehr Drehmoment, der große Vierzylinder wirkt beim Beschleunigen aus Spitzkehren zunächst immer ziemlich verhalten. Dafür läuft er sanft, Lastwechsel früherer Modelle sind auch kein Thema mehr. Als Ersatz für die zurzeit nicht lieferbare BMW R 1200 RT, die in der Vorrunde begeistern konnte, schlägt sich die FJR auf jeden Fall prima und vertritt die Kategorie Tourer mehr als passabel.
Jausiers war damals der nördliche Wendepunkt der Bonette-Runde, weit ist es von hier aus nicht mehr zu einer weiteren Pass-Legende, dem Col du Galibier, wo MOTORRAD 2007 und 2008 Station machte. Über den Col de Vars könnte man von Guillestre aus schnell durchs Tal nach Briançon kommen. Für Genießer empfiehlt sich unbedingt der Umweg über den Col d’Izoard, der wegen seiner steinigen Geröllfelder und der spitzen Fels-Obelisken wie eine Marslandschaft wirkt. Der hinter Briançon folgende Col du Lautaret ist dagegen eher Verbindungsetappe, an der Passhöhe zweigt die Route zum Galibier ab.
Rückblick Alpen-Masters 2012 und 2013 auf dem Col de la Bonette
Die Gelehrten streiten sich: Ist nun der Iseran der höchste Alpenpass oder doch der Bonette, dem mit einer kleinen Schleife ein paar zusätzliche Höhenmeter spendiert wurden? Auch wenn etwas nachgeholfen wurde, in den meisten Ranglisten wird der Bonette auf Platz eins geführt. Aber eigentlich auch egal, denn der Rundblick über die französischen Alpengipfel vom Bonette aus ist fantastisch. Wer das auskosten will, kann noch 60 Meter weiter zum Cime de la Bonette hochmarschieren, der eine ungestörte Aussicht über den Nationalpark Mercantour bietet.
Die Landschaft ist dermaßen weitläufig, dass manch einen hier oben angesichts der gigantischen Bergmassive ein Gefühl von Einsamkeit überwältigt. Zweimal bildete der Bonette den emotionalen Höhepunkt des Alpen-Masters, die Tester mussten sich jedoch meistens mit profaneren Dingen beschäftigen. Denn wie gewohnt rangen 20 Maschinen um den Titel, verteilt auf fünf Kategorien. 2012 kam es bei der Wahl erstmals zu einer Pattsituation, BMW R 1200 GS und Triumph Tiger Explorer mussten sich am Ende den Titel teilen. Wieder zwei Reiseenduros, und wieder war die GS dabei, allerdings noch das frühere, luftgekühlte Modell. 2013 ging dann am Bonette die neue, wassergekühlte Version erstmals an den Start, die sich dank ihrer verbesserten Dynamik auf Anhieb an die Spitze setzen konnte.
Sieger 2012: BMW R 1200 GS/Triumph Tiger Explorer
Sieger 2013: BMW R 1200 GS
Col du Galibier

Die bucklige Südrampe dieses mystischen Tour-de-France-Passes ist vielleicht nicht besonders prickelnd zu fahren, dafür raubt einem das Panorama oben am Pass den Atem. Man fühlt sich auf dem Dach der Alpen. Radfans machen Pause am Denkmal des Tour-Erfinders Henri Desgrange, auch der bis zur Halskrause gedopte ehemalige Sieger Marco Pantani bekam nach seinem Tod eine Gedenktafel am Galibier.
In jeder Hinsicht prickelnder ist die Nordseite Richtung Valloire, dem nächsten Zielort. Bergab auf solch anspruchsvollen Passagen, wo Leistung nicht das Thema ist, macht die Honda NC 750 X besonderen Spaß. Völlig easy folgt sie kleinsten Lenkimpulsen, hoppelt ungerührt über derben Lochfraß im Asphalt weg. Wenngleich der Fahrer nicht besonders bequem sitzt, bleibt man völlig entspannt. Eine Maschine, die wegen ihrer Anspruchslosigkeit jede Menge Sympathie erntet. Nur darf man eben in puncto Dynamik überhaupt keinen Ehrgeiz entwickeln. Der Twin müht sich tapfer, doch wenn das Tempo angezogen wird, quält er sich am Begrenzer. Nichts für Hektiker, eher für Genussmenschen. Unser Hotel „Relais du Galibier“ liegt direkt am Pass außerhalb von Valloire und bietet einfache Zimmer, aber hervorragendes Essen.
Rückblick Alpen-Masters 2007/2008 auf dem Col du Galibier
Die weitläufige Landschaft der französischen Alpen mit ihrer dünnen Besiedlung hat ihre besonderen Reize, der Fahrspaß auf den kleineren, wenig frequentierten Pässen rund um den Col du Galibier ist unvergleichlich. Durchgangsverkehr gibt es hier nur auf wenigen ausgebauten Hauptstraßen in den Tälern, die man besser meiden sollte. Ein voller Tank ist hier wichtig, Tankstellen gibt es nicht an jeder Ecke. Von der Galibier-Passhöhe ist die Aussicht auf die gigantischen Bergmassive vom Barre des Écrins bis hin zum Montblanc einfach nur grandios.
MOTORRAD besuchte diese Gegend zweimal, Ausgangspunkt war in beiden Fällen das Hotel „Relais du Galibier“ in Valloire. Auch der Sieger war in beiden Jahren der gleiche, nämlich die BMW R 1200 R. Was den Beweis liefert, dass nicht allein Enduros, sondern auch andere Konzepte in den Alpen durchaus eine Siegchance haben. Der Boxer-Roadster konnte sich 2007 im Finale gegen viele verkleidete Maschinen durchsetzen und 2008 sogar den Titel gegen die hauseigene Enduro-Konkurrenz, die R 1200 GS, verteidigen.
Sieger 2007/2008: BMW R 1200 R
Rückreise

Der letzte Etappenort der Alpen-Masters 2014 ist somit erreicht, doch am Rückfahrtag stehen auf dem Weg nach Stuttgart noch einige großartige und renommierte Pässe auf dem Programm. Vor allem der Iseran, mit 2764 Metern sieben Meter höher als das Stilfser Joch und somit Nummer zwei der Rangliste. Von Bourg-Saint-Maurice aus könnte man nun den kurzen Weg durch den Mont-Blanc-Tunnel nach Martigny nehmen, wir entscheiden uns für den Umweg über das Aosta-Tal sowie den Kleinen und Großen Sankt Bernhard.
Erwähnenswert wäre vor allem Letzterer mit seiner schönen Südseite, die mit endlosem Kurvenwedeln bei bestem Untergrund fahrerisch jede Menge Spaß macht. Gut fünf Tage nach dem Aufbruch ist das Testteam wieder in Stuttgart. Etwas ermattet nach 2650 Kilometern im Sattel, aber happy nach fantastischen Erlebnissen. Auf jeden Fall eine Reise, die sich bei allen Fahrern tief in die Erinnerung eingegraben hat.
Technische Daten und Messwerte

BMW R 1200 GS Adventure | BMW S 1000 R | Honda NC 750 X | KTM 1190 Adventure | Yamaha FJR 1300 AE | Yamaha MT-09 | |
Motor | 2-Zylinder | 4-Zylinder | 2-Zylinder | 2-Zylinder | 4-Zylinder | 3-Zylinder |
Hubraum | 1170 cm³ | 999 cm³ | 745 cm³ | 1195 cm³ | 1298 cm³ | 847 cm³ |
Leistung | 125 PS | 160 PS | 55 PS | 150 PS | 146 PS | 115 PS |
Drehmoment | 125 Nm | 112 Nm | 68 Nm | 125 Nm | 138 Nm | 88 Nm |
Gewicht vollgetankt inkl. Zubehör und Koffern | 286 kg | 210 kg | 238 kg | 261 kg | 306 kg | 195 kg |
Zuladung | 194 kg | 197 kg | 190 kg | 179 kg | 198 kg | 170 kg |
ABS/Traktionskontrolle | ●/● | ●/● | ●/- | ●/● | ●/● | ●/- |
Preis ohne Nebenkosten | 15.900 Euro | 12.800 Euro | 6490 Euro | 13.995 Euro | 18.795 Euro | 7795 Euro |
Preis Testmotorrad | 20.675 Euro¹ | 14.950 Euro² | 9016 Euro³ | 18.861 Euro⁴ | 18.795 Euro | 8915 Euro⁵ |
Testverbrauch Alpen | 6,0 l/100 km | 6,1 l/100 km | 4,4 l/100 km | 6,8 l/100 km | 6,5 l/100 km | 5,4 l/100 km |
theoretische Reichweite Alpen | 500 km | 287 km | 320 km | 338 km | 385 km | 259 km |
● = Serie; – = nicht vorhanden; ¹inkl. Touring-Paket (1740 Euro) bestehend aus: ESA, Kofferhalter, Bordcomputer Pro, Vorbereitung für Navigationssystem, Temporegelung, LED-Zusatzscheinwerfer; Komfortpaket (440 Euro) bestehend aus: Abgasanlage verchromt, Heizgriffen und RDC; Dynamik-Paket (1020 Euro) bestehend aus: LED-Scheinwerfer, Fahrmodi Pro, LED-Blinkern; Navigationssystem (675 Euro), Alu-Koffern (900 Euro); ²inkl. Sport-Paket (790 Euro) bestehend aus: Schaltassistent, DTC, Temporegelung und Fahrmodi Pro; Dynamik-Paket (910 Euro) bestehend aus: DDC, Heizgriffen, Motorspoiler und LED-Blinkern, Tankrucksack (200 Euro) und Hecktasche (250 Euro); ³inkl. Zubehör (2526 Euro) bestehend aus: Touring-Windscheibe (138 Euro), Nebellampen (717 Euro), Hauptständer (177 Euro), Koffersatz (821 Euro), Griffheizung (316 Euro), Dekor-Seitenverkleidung (92 Euro), Dekorrahmen (169 Euro), Gepäckbrücke (96 Euro); ein Adventure-Paket mit zusätzlichem Topcase kann für 2553 Euro erworben werden; ⁴inkl. Elektronik-Paket (1400 Euro) bestehend aus: EDS, TPMS, Hauptständer, MSC; Komfort-Paket (748 Euro) bestehend aus: Heizgriffen, beheizter Ergo-Sitzbank für Fahrer und Beifahrer, Windschild hoch, Akrapovic-Slip-on-Enddämpfer (909 Euro), Touringkoffern (908 Euro), Zusatzscheinwerfer (397 Euro), Sturzbügel (252 Euro) und Alu-Motorschutz (252 Euro); ⁵inkl. ABS (500 Euro) und Soft-Bag-Satteltaschen mit Halterung (330 Euro) sowie Komfortsitz (290 Euro).
MOTORRAD-Pässewertung

Reihenfolge der Beliebtheit | Höhe | Land | Punkte |
Col de la Bonette | 2715/2802 m | Frankreich | 10 |
Col de la Lombarde | 2350 m | Frankreich | 10 |
Stilfser Joch | 2757 m | Italien | 10 |
Col du Galibier | 2642 m | Frankreich | 9 |
Col du Grand Saint-Bernard | 2469 m | Frankreich/Schweiz | 9 |
Col d’Izoard | 2361 m | Frankreich | 9 |
Passo di Gavia | 2618 m | Italien | 8 |
Col de I’Iseran | 2764 m | Frankreich | 8 |
Col du Petit Saint-Bernard | 2188 m | Frankreich | 8 |
Mendelpass | 1363 m | Italien | 7 |
Pordoijoch | 2239 m | Italien | 7 |
Sellajoch | 2240 m | Italien | 7 |
Col de Vars | 2109 m | Frankreich | 7 |
Karerpass | 1745 m | Italien | 6 |
Col du Lautaret | 2058 m | Frankreich | 4 |
Passo Tonale | 1884 m | Italien | 4 |
Col du Télégraphe | 1566 m | Frankreich | 3 |
Fernpass | 1216 m | Österreich | 2 |
Brennerpass | 1370 m | Österreich/Italien | 1 |
Mit Pässen ist es so ähnlich wie mit Motorrädern: Man kann Kehren und Kurven auszählen, man kann Passhöhen vermessen, kann Daten vergleichen. Welcher Pass jedoch der schönste, der beeindruckendste ist, bleibt am Ende Ansichtssache. Quasi als Hilfestellung versuchte sich das Testteam trotzdem zum Schluss an einer völlig subjektiven Passwertung, schließlich war man in knapp einer Woche auf sechs der zehn höchsten Alpenpässe gewesen und hatte die schönsten Regionen der Alpen besucht. Dabei hatten die Fahrer zwar unterschiedliche Lieblingspässe, aber unterm Strich war man sich dann doch weitgehend einig. Dass die höchsten Pässe der Alpen in der Gunst der Motorradfahrer vorn liegen, liegt sicher nicht an gefahrenen Höhenmetern, sondern an den tollen Straßen und Landschaften, in die diese Pässe in aller Regel führen. Zu beachten: Fast alle Pässe haben eine Sonnen- und eine Schattenseite, eine schöne und eine weniger attraktive.
MOTORRAD Test-Crew-Bewertung

„BMW R 1200 GS Adventure – geballte alpine Kompetenz“
Gert Thöle (58), MOTORRAD, Deutschland, am Pordoijoch
Zugegeben, die BMW R 1200 GS Adventure ist ein Koloss, aber für mich bei 1,90 Meter Größe gerade richtig. Ich liebe dieses souveräne Fahrgefühl. Der Reisekomfort ist sensationell, das Handling in Kurven und Kehren überraschend easy. Bei Ausstattung und Bedienung liegt die BMW ohnehin meilenweit vorn. Dass es die Reifen bei sportlicher Fahrweise an Feedback vermissen lassen, damit kann ich in den Bergen gut leben. Dafür ist die Stabilität auf der Bahn selbst voll beladen unerschütterlich. Die KTM 1190 Adventure ist sicher sportlicher, direkter, die Schwächen bei Stabilität und Windschutz sind aber eklatant.

„Yamaha FJR 1300 AE – maximaler Komfort auf Touren“
Karsten Schwers (42), MOTORRAD, Deutschland, am Col du Galibier
Hinter den beiden Reiseenduros kommt für mich schon die Yamaha FJR 1300 AE. Dank bequemer Ergonomie, elektrischer Verstellung von Fahrwerk und Windschutz bietet sie maximalen Komfort für zwei Personen auf langen Etappen. Selbst auf engen Passstraßen fährt sich die über 300 kg schwere 1300er erstaunlich einfach. Allerdings könnte der Motor aus niedrigen Drehzahlen etwas kräftiger zu Werke gehen. Die BMW R 1200 GS Adventure bietet für mich ohne Zweifel das beste Gesamtpaket, dagegen schwächelt die KTM 1190 Adventure beim Geradeauslauf, der Motor ist nicht so kultiviert und der Verbrauch hoch.

„Honda NC 750 X – macht wirklich Spaß, aber nur bergab“
Sebastian Schmidt (33), MOTORRAD, Deutschland, am Sellajoch
Die kleine Honda NC 750 X ist ein wirklich sympathisches Motorrad, das sich völlig stressfrei auf engsten Pässen bewegen lässt. Ein echter Underdog, wäre da nicht diese schlappe Motorcharakteristik. Bergauf mit Beladung muss man den Twin ständig am Begrenzer quälen, wenn man den anderen folgen will. Bergab macht mehr Spaß. Ansonsten habe ich es gern komfortabel, und den besten Fahrkomfort bietet nun mal die Yamaha FJR 1300 AE, daher wäre die für mich erste Wahl auf solch einer langen Tour. Da kommen auch die beiden Adventure-Bikes nicht ganz ran. Die KTM 1190 Adventure ist mir zu aggressiv, die BMW R 1200 GS Adventure zu groß.

„Yamaha MT-09 – viel Motor, aber wenig Fahrwerk“
Sergio Romero (36), MOTOCICLISMO, Spanien, am Col de la Lombarde
Eigentlich gefallen mir solche handlichen Fun-Bikes wie die Yamaha MT-09. Der Dreizylinder läuft wirklich fantastisch, hat Power in allen Lebenslagen. Schade, dass das Fahrwerk nicht auf gleichem Niveau arbeitet. Die Yamaha ist immer ein wenig aus der Balance, bräuchte eine straffere Federung. Komfort fehlt auf langen Strecken ohnehin, das Gleiche gilt für die BMW S 1000 R. Daher sind für mich die touristischen Konzepte vorn. Das beste Gesamtpaket liefert die KTM 1190 Adventure, mit der man reisen, aber auch sportlich fahren kann. Die BMW R 1200 GS Adventure ist bequem, aber auf Pässen ist sie zu groß und zu schwer.

„KTM 1190 Adventure – knackig wie ein Sportler“
Federico Garbin (30), IN MOTO, Italien, am Stilfser Joch
Die KTM 1190 Adventure kombiniert die Dynamik eines Sportlers mit dem Komfort einer Reiseenduro. Und die Assistenzsysteme sind absolute Spitze, ein Kurven-ABS hat sonst keiner. Die BMW R 1200 GS Adventure ist vielleicht das komplettere Motorrad, aber für mich einfach zu mächtig, auch geben mir die Michelin-Anakee in Kurven kein gutes Gefühl. Schwächen hat sicher auch die KTM, doch die Instabilität im Highspeed-Bereich ist in den Alpen nicht entscheidend. Überrascht hat mich die Honda NC 750 X, die ist wirklich easy zu fahren, sehr lustig. Schade, dass sie so wenig Power hat.

„BMW S 1000 R – für den kurzen, heftigen Spaß“
Tomas Lofterud (58), MOTORRAD, Schweden, am Col d’Izoard
Eine aufregende Woche, an diesen Trip durch die Alpen werde ich mich den Rest meines Lebens erinnern. Die KTM 1190 Adventure ist mein Favorit, weil sie knackig-sportlich ist. Sicher bietet die BWM R 1200 GS Adventure mehr Stabilität und Ausstattung, allerdings ist sie mir in Kehren zu unhandlich und diffus. Dahinter kommt für mich schon die schnelle BMW S 1000 R mit fantastischem Handling und überragendem Motor. Für den kurzen Spaß am Pass optimal, auf Dauer leider etwas unbequem, die Federung zu hart abgestimmt. Die Yamaha MT-09 hat einen tollen Motor, den man bei der Honda NC 750 X leider vermisst.
Alpen-Masters-Endergebnis & Fazit

Jury-Mitglied | BMW R 1200 GS Adventure | BMW S 1000 R | Honda NC 750 X | KTM 1190 Adventure | Yamaha FJR 1300 AE | Yamaha MT-09 |
Gert Thöle (MOTORRAD) | 1. | 5. | 4. | 2. | 3. | 6. |
Karsten Schwers (MOTORRAD) | 1. | 4. | 5. | 2. | 3. | 6. |
Sebastian Schmidt (MOTORRAD) | 3. | 4. | 5. | 2. | 1. | 6. |
Sergio Romero (MOTOCICLISMO) | 2. | 5. | 4. | 1. | 3. | 6. |
Federico Garbin (IN MOTO) | 2. | 5. | 4. | 1. | 3. | 6. |
Tomas Lofterud (MOTORRAD) | 2. | 3. | 6. | 1. | 4. | 5. |
Summe Platzierung | 11 | 26 | 28 | 9 | 17 | 35 |
Gesamtplatzierung | 2. | 4. | 5. | 1. | 3. | 6. |
Fazit
Immer wieder spannend, das Abstimmungsergebnis, da es mal nicht um Punkte und Messwerte geht, sondern allein um das subjektive Urteil. Dieses Mal, am Ende einer 2650 Kilometer langen Tour, haben es die Naked Bikes besonders schwer. Klar abgeschlagen: Die Yamaha MT-09. Tourer und Reiseenduros bieten mehr Komfort und Bandbreite. Auf Platz eins sehen drei Fahrer die KTM 1190 Adventure, zwei die BMW R 1200 GS Adventure und einer die Yamaha FJR 1300 AE. Unterm Strich gewinnt die KTM mit knappem Vorsprung.
Am Ende hat die KTM 1190 Adventure die kantige Nasenspitze vorn. Sie kombiniert einen sportlichen V-Twin mit viel Reisekomfort und Hightech-Ausstattung. Ein tolles Finale, ein knapper Sieg, ein würdiger Alpen-Meister.