Fahrbericht Werks-Yamaha YZ 500 FM
Spielen verboten

Vier Takte, kleiner Hubraum, hohe Drehzahlen – mit diesem Konzept veränderte Yamaha die Motocross-Welt. Doch Stefan Everts´ WM-Maschine ist anders – ganz anders.

Immer ziehen lassen. Im dritten Gang ziehen lassen«, wiederholt Stefan. Dritter Gang. Ich weiß schon. Alle wissen es schon. Dritter Gang, ziehen lassen – mittlerweile geflügelte Worte im Yamaha-Motocross-Werksteam. Und für Stefan Everts offensichtlich das Motto zum Erfolg. Nach zwei Jahren Verletzungspause gelang ihm ein Comeback par excellence: der 500-cm³-WM-Titel 2001.
Ein Titel auf dem einzigen waschechten Werksmotorrad im gesamten Motocross-WM-Zirkus. Einem ohne Kompromisse. Alurahmen, Alutank, Werks-Federelemente von Kayaba, ein eigens gegossenes Motorgehäuse, Titan-Auspuffanlage, Titan-Fußrasten, Alu- und Titanschrauben en masse, Bremsen aus der Brembo-Versuchsabteilung und und und.
Zeit, an die noble Herkunft zu denken, bleibt im Moment jedoch kaum. Denn die YZ 500 FM verlangt die ganze Aufmerksamkeit. Und der Blick auf die bislang nur aus der Zuschauerperspektive bewunderte Mixtur aus Neonrot und Blau auf dem vorderen Kotflügel mahnt zusätzlich: Junge, Entschuldigungen werden nicht akzeptiert. Okay, Gas auf. Der Single lebt. Tack, tack, tack – mit hartem Schlag hackt er ruppig durch den Drehzahlkeller. Keine Frage, die glättende Hand der Ausgleichswelle fehlt. Auf die haben die Yamaha-Techniker verzichtet.
Auch die Lenkerenden vibrieren kräftig mit. So, als wollten sie noch mal warnen: Das ist kein Spielzeug. Zeit zum Spielen bleibt tatsächlich nicht, wenn die Yamaha antritt. Drehmoment und nochmals Drehmoment hat Stefan von den Ingenieuren nach den ersten Tests im vergangenen Winter gefordert. Und genau das haben sie ihm geliefert. Kurz über besagtem Drehzahlkeller schiebt die YZ an, als wären sämtliche Finanzbeamte Belgiens hinter der Steuererklärung des Wahl-Monegassen her. Kraftvoll, satt und mit unglaublicher Traktion drückt das Aggregat die ohne Benzin 105,5 Kilogramm wiegende Werksmaschine nach vorn. Nur in den allertiefsten Anliegern muss ein Griff an die Kupplung für etwas mehr Drehzahl nachhelfen. Und nur in den engsten Kehren braucht´s den zweiten Gang. Doch bereits am Kurvenausgang passt er wieder, dieser öminöse Dritte. Da die meisten modernen Pisten kaum noch lange Geraden ohne bremsende Sprünge besitzen, kommt der dritte Gang an Stefans Bike fast zum Dauereinsatz. Geschaltet wird nur vor und nach 180-Grad-Kehren, den Rest zieht der Werks-Bulldozer in der Regel in seiner Universalstufe durch.
Wobei das Aggregat in den oberen Drehzahlen seiner Antrittsstärke Tribut zollt. Dann flacht das Leistungsband spürbar ab, und selbst ohne Drehzahlbegrenzer, auf den die programmierbare CDI-Einheit verzichtet, wird schnell klar, dass der Motor sein Heil im mittleren Bereich sucht - so wie das bislang nur bei Motoren mit weit mehr als 500 cm3 Hubraum üblich war. Trügt ihr Name? Besitzt sie wirklich nur 500 cm3 Kubik? Stefan grinste vorhin nur auf die Frage.
Jetzt winkt er vom Streckenrand. Kurze Nachfrage, ob alles passt. Klar doch. Der Moment kommt günstig zum Verschnaufen – und Betrachten. Der Einschleifenrahmen mit seinen dickwandigen Alurohren sei etwas steifer als ein Stahlrahmen, aber nicht leichter. Die Geometrie lehne sich an jene der Serien-YZ 426 F an. Nur die Schwinge sei zur besseren Spurstabilität und für mehr Gewicht auf dem Vorderrad um zwei Zentimeter verlängert worden.
Anders als bei der Serien-YZ arbeitet die Werksmaschine mit einer Nasssumpfschmierung. Kärgliche 0,9 Liter Ölinhalt schmieren das Serien-Fünfganggetriebe sowie Kurbelwelle, Kolben samt Fünfventil-Zylinderkopf mit Titanventilen. Der Vergaser, ein 41er-Keihin-Flachschieber, wurde in Eigenregie des Yamaha Rinaldi Research and Development Centers, gewissermaßen der Entwicklungs-Abteilung des von Ex-Weltmeister Michele Rinaldi in Italien betreuten Motocross-Werksteams, verändert. Aus der Rundbohrung entstand eine ovale Öffnung mit 43 Millimeter Maximaldurchmesser im oberen Bereich.
In Italien wird auch der 7,8 Liter fassende Alutank und die großen Kühler hergestellt, die aus dem Vollen gefrästen Gabelbrücken, die Titanauspuffanlage von Arrow sowie die Brembo-Bremsen. »Unsere Zulieferer sind technisch genauso weit wie die Japaner, und wir können innerhalb von wenigen Tagen geänderte Teile bekommen«, erklärt Michele die Vorteile der Italo-Produktion und schaut auf die Uhr. In 20 Minuten wollen die Mechaniker einpacken. Beeilung. Und schmunzelt: »Probier´ mal den Back-torque-limiter.«
Ja, ja, nix da mit Kolbenrückholfeder. Ich lass mich nicht aufs Glatteis führen. Als Anti-Hopping-Clutch aus dem Superbike-Bereich besser bekannt, lässt eine Mechanik beim starken Bremsen die Kupplung leicht schleifen und verhindert damit das unangenehme Hinterradstempeln. Das von vielen Viertaktern bekannte Rattern beim scharfen Anbremsen langsamer Kehren ist bei der YZ 500 FM spürbar reduziert. Doch trotz aller technischer Kniffe braucht der hart laufende Viertakter die absichernde Hand an der Kupplung. Ein abgewürgter Motor kann schließlich schnell den Sieg kosten. Von einem Elektrostarter will Stefan wegen des Mehrgewichts dennoch nichts wissen.
Umso erstaunlicher, wie wenig Spielraum sich Everts in puncto Bremsen gönnt. Beide Stopper, deren skurrile Scheibenform übrigens die Dosierbarkeit steigern soll, warten mit ultrahart definierten Druckpunkten auf. Man ahnt: Um den superschmalen Grat zwischen maximaler Verzögerung und blockierendem Rad wirklich zu nutzen, braucht´s das Gefühl eines Champions. Nicht mal mehr Schumi und Co dürfen solche Stopper einsetzen. Die Bremssättel von Zulieferer Brembo bestehen nämlich aus extrem leichtem und dennoch sehr festem Beryllium, das wegen möglicher Gesundheitsgefährdung beim Bearbeiten des Materials im vergangenen Jahr in der Formel 1 verboten wurde.
Zur Sache geht´s auf zerfahrenen Abschnitten. Verständlich, denn wenn Stilist Everts rasanter über die Pisten fegt als fast der gesamte Rest der Offroad-Welt, genügen keine Kompromisse. Das bei Werksmaschinen üblicherweise erzählte Märchen von traumhaftem Ansprechen und gleichzeitig überragender Durchschlagssicherheit bleibt daher ungeschrieben. Kleine Löcher geben Gabel und Federbein überraschend ungefiltert weiter. Dafür bügeln sie harte Kanten und wüste Löcher lässig weg.
Und harte Landungen sowieso. Ob zu kurz, zu weit oder korrekt geflogen, die Federelemente stecken nach Flugeinlagen alles weg. Durchschlagen gibt’s nicht. Die Reserven scheinen riesig. Meine nicht mehr. Denn der Motor drückt aus jeder Kurve wie ein gedopter Schiffsdiesel. Reichen 500 cm3 für diesen Punch? Und kann ein 500er-Motor so extrem vibrieren? Stefan steht immer noch am Pistenrand. Ich rolle aus. Reichen 500 cm3 wirklich für diesen Punch? »Schreib einfach, wir haben mehr Hubraum. Ein großes bisschen mehr«, meint Stefan lapidar - und grinst.

Unsere Highlights

250er-Weltmeister

Noch vor wenigen Jahren hieß es, Mickael Pichon bilde sich ein, er könne nur auf einer Honda siegen. Seinen ersten WM-Titel hat der sensible Franzose dieses Jahr in der 250er-Klasse auf Suzuki geholt.Wobei die Werksmaschine Pichons – wie übrigens die meisten der aktuellen GP-Renner – ihrem Serienpendant technisch erstaunlich nahe stehen. Wichtigste Änderungen: Werksfederelemente von Kayaba, größerer, insgesamt zehn Liter fassender Alutank, größere Bremsscheibe (270 Millimeter) im Vorderrad, programmierbare Zündung, Auslasssteuerung und Getriebe entstammen der Vorserie 2002.Und wie fährt sich die RM? Zunächst fällt der hohe, weit vorn angebrachte Lenker auf. Typisch Pichon, der Franzose ist bekannt dafür, weit nach vorn gelehnt auf seiner Maschine zu agieren. Dann besticht der Punch der Gelben in den unteren Drehzahlen. Ob am Start oder beim Beschleunigen aus engen Kehren, Pichons Suzuki macht es ihrem Reiter einfach, schnell zu sein. Nicht von ungefähr gilt der Franzose als Blitzstarter. Selbst ohne Kupplungseinsatz zieht die 250er an wie der Yen-Kurs vor Jahresfrist. Und wer das Spiel mit dem steten Finger an der Kupplung beherrscht, der sollte im wahrsten Sinn des Wortes gut gefasst sein, wenn die Gelbe loslegt. In den oberen Drehzahlen lässt die Suzuki dennoch nicht locker. Gänge ausdrehen, auf kurzen Zwischengeraden einmal weniger schalten, beides verkraftet die Suzi lässig. Fahrwerksmäßig ist umso mehr Sportlichkeit angesagt. Ganz kleine Unebenheiten schlucken Gabel und Federbein etwas unwillig. Dafür sind die Reserven gegen Ende des Federwegs gigantisch. Selbst zu weit gesprungene Table-Tops lassen bei der Landung auf der Ebene die Kayaba-Elemente nur sanft an den Endanschlägen anklopfen. Äußerst bestimmt dagegen sind Mickaels WM-Auftritte. Der neue Champion holte auf der Werks-250er diese Saison immerhin zehn von 14 möglichen Laufsiegen.

125er-Champion

Die Zahlen sprechen für sich: Bei dreizehn von vierzehn 125er-Motocross-WM-Läufen der Saison 2001 saßen die Sieger auf KTM. Kein Wunder, gelten die Achtelliter-Renner aus Mattighofen in ihrer Klasse als das Maß aller Dinge – auch in der Serienversion. Dennoch: Sicher ist sicher, sagten sich die KTM-Techniker und verpassten dem Untersatz von Weltmeister James Dobb eine zusätzliche Kräftigungskur. Zuerst fällt das Motorgehäuse auf. Statt im Spritzguss wird das Gehäuse von Dobbs Flitzer im Sandguss-Verfahren hergestellt. Diese aufwendige Lösung, die eine neue und teure Gussform nötig macht, sorgt für stabilere und damit weniger schwingende Gehäusewände und erlaubt auch Modifikationen am Einlasstrakt. Vergaser und Membranblock sind bei der Werksmaschine in strömungsgünstigerer Linie angebracht als beim Serienmodell. Die Zündung ist programmierbar und lässt das Aggregat bis 13 500/min drehen. Die Kühler fassen 30 Prozent mehr, und auch der Tank bunkert 8,2 statt den 7,5 Litern des Standardmodells. Das Fahrwerk wurde ebenfalls überarbeitet. Ein Rahmen mit einem steileren Lenkkopfwinkel sowie ein reduzierter Gabelbrückenversatz bringen Handlichkeit, ein federleichtes Heck aus Titanrohren, gefrästen Gabelbrücken aus Magnesium (oben) und Alu (unten) schinden Gewicht. Werksfederlemente von White Power sind ohnehin selbstverständlich.Der Eindruck im Sattel: Die Titelträgerin geht wie die Pest. Gewaltiger Druck aus dem Drehzahlkeller, kerniger Biss in der Mitte und gewaltige Drehfreude lassen die Konkurrenz erblassen. Die Federung mag Mister Dobb recht hart. Ordentlich Druck auf den Rasten bedarf´s auf Beschleunigungswellen, dafür verlieren selbst die schärfsten Kanten und extreme Landungen ihre Schrecken. Bremsen? Erstklassig. Verständlich, schließlich soll allein der Brembo-Bremssattel der Vorderradbremse aus Beryllium den halben Neupreis einer Serienmaschine kosten.

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MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023