'Erhöht worden ist er, der Anteil an Silica in der neuen Gummimischung. Mehr Nasshaftung soll das bringen.' So klingt die Essenz nahezu jeder Meldung über neue Motorradreifen seit 10 Jahren. Silica steht immer für Nasshaftung und höhere Laufleistung. In Winterreifen – oder Eis-Reifen für den hohen Norden – ist Silica unerlässlich für Grip bei extrem niedrigen Temperaturen. Gleichzeitig sind Trocken-Rennreifen, egal für welches Fahrzeug, nie mit Silica gemischt. Da liest sich eine Tendenz heraus. Fassen wir das landläufige Wissen über das Wundermittel Silica zusammen: Mehr Nasshaftung, mehr Laufleistung, mehr Grip im Kalten und kommt bei Hitze schnell ins Schwitzen.
Gewünschte Randerscheinungen
Grundsätzlich ist das richtig, das sind allerdings die Ergebnisse der eigentlichen Eigenschaft des Silica: In die sehr steife Mischung aus Kautschuk und Ruß bringt Silica Bewegung. Das Gummi wird nicht weicher, es fängt auf molekularer Ebene früher an zu schwingen. Der Reifen nimmt daher früher die Energie auf, die während des Abrollens entsteht und wandelt sie in Wärme um. Diese Energieumwandlung, die Hysterese, ist Basis der guten Eigenschaften an Reifen mit Silica. Und je nach Mischung von Kautschuk, Synthese-Kautschuk, Ruß und Silica werden gewünschte Randerscheinungen fokussiert. Übrigens: Besonders gut funktioniert Silica in Verbindung mit dem synthetischen Styrol-Butadien-Kautschuk, kurz SBR.
Beziehungsstatus: Kompliziert
Klingt einfach, aber das ist es ganz und gar nicht: Silica in eine Gummimischung zu bringen, ist sehr kompliziert. Das liegt an der Herkunft und den chemischen Eigenschaften von Silica. Es wird aus Silizium als Salz gewonnen. Salze sind zunächst polare Verbindungen. Das erklärt die Löslichkeit in Wasser und eine hydrophile, also wasseranziehende Lebenseinstellung. Die eigentliche Gummimischung aus Kautschuk, Ruß und allerlei Ölen ist eine unpolare Mischung. Das passt nicht zusammen, würde sich nicht verbinden und verlangt einen Zwischenschritt.
Aus hydrophil wird hydrophob
Das hydrophile Silica muss zunächst silanisiert, also hydrophobiert, werden. Das erfolgt bei Reifen durch ein meist schwefelhaltiges Silan auf Siliziumbasis. Die Temperatur für die Silanisierung liegt zwischen 120 und 150 Grad, also mitunter deutlich höher als die spätere Vulkanisations-Temperatur des Reifens. Die Dauer der Silanisierung entscheidet jeder Reifenhersteller selbst. Das ist Teil des Entwicklungsprozesses. Durch speziell für die Vulkanisation entwickelte Silane wird die Verbindung zwischen Gummi und Silica zusätzlich funktionalisiert, also gezielt abgestimmt. Klar wird: Reifen mit Silica sind aufwendiger herzustellen und im Vergleich kostet eine nutzbare Silica-Mischung gut das Doppelte als vergleichbare Mengen Ruß im Reifen. Interessant: Es gibt nicht nur ein Silica oder einen Ruß für Reifen. Allein Chemieriese Evonik bietet heute 47 Silica und Silane für die Gummiindustrie an. Und: In einem Reifen ist selten nur eine Art Silica enthalten. Beispiel: Pirelli mischt in den aktuellen Diablo Rosso IV hinten bis zu drei unterschiedliche Silica.
Silica ist besser für Nässe
Genug der Chemiestunde. Arbeiten wir die positiven Eigenschaften ab. Ein Reifen mit Silica in der Lauffläche reagiert in seiner Molekularstruktur schneller auf das Abrollen. Silica schwingt früher als Ruß und wärmt dadurch schneller auf, was die Temperatur des Reifens generell schneller steigert. Durch die flexiblere Struktur der Lauffläche passt sich der Reifen beim Bremsen auf Nässe feiner dem Untergrund an. Hierzu muss gesagt werden, dass die Hersteller und die Werbung bei Nasshaftung immer das Bremsen aus Nässe meinen. Wobei das eine das andere bis zu einem gewissen Grad bedingt. Übrigens: Neben den bewiesenen Eigenschaften kursiert die Theorie, dass die polare Ladung von Silica das Wasser auf der Straße besser teilt und dadurch mehr Haftung aufbaut. Sicher ist jedoch: Durch das bessere Anpassen des Gummis an die Fahrbahn, erhöht sich der chemische Grip durch die elektrostatische Ladung der Reifenmoleküle und der Straße. Ist zu viel Wasser auf der Oberfläche, muss der mechanische Grip das ausgleichen. Hier hilft erneut eine anpassungsfähigere Silica-Lauffläche.
Also: Ja, Silica erhöht die Nasshaftung der Reifen, primär beim Bremsen durch schnelleres Aufwärmen und hohe Flexibilität der Lauffläche. Grip und/oder Haftung kann durch Silica erhöht werden, durch höhere chemische Haftung oder mehr mechanische Verzahnung – je nach Silica.
Silica rollt besser
Limitiert wird der Einsatz von Silica für eine bessere Nasshaftung durch den Zielkonflikt des verringerten Rollwiderstands. Braucht es für eine hohe Nasshaftung oder allgemein Haftung höhere Anregungsfrequenzen der Moleküle, verringert sich der Rollwiderstand durch niedrige Anregungsfrequenzen in den Molekülen. Sprich: Je mehr die Moleküle tanzen, desto mehr Rollwiderstand hat der Reifen. Den Zielkonflikt können Reifenbauer mit unterschiedlichen Silica im Gummi lösen. Unter anderem, wenn unterschiedliche Gummimischungen auf der Laufläche genutzt werden oder teilweise übereinander liegen, wie bei Pirellis Cap&Base-Mischungen oder Michelins 2CT+-Technik.
Also: Ja, unterschiedliche Silica in der Gummimischung oder unterschiedliche Silica-Gummischichten können den Rollwiderstand eines Reifens senken. Selbst wenn das bei Motorradreifen derzeit nicht das höchste aller Ziele in der Entwicklung ist.
Silica hält länger
Grundsätzlich erhöht Silica nicht die Laufleistung eines Reifens. Ein Reifen mit Silica hält mitunter länger, da das schnellere Aufwärmen der Mischung und die bessere Anpassung der Lauffläche an die Straße, erhöhten Abrieb des Gummis, unterhalb der Betriebstemperatur mildert.
Also: Per se verlängert Silica nicht die Laufleistung. Es mildert den Abrieb, was umgekehrt mehr Kilometer bedeuten kann. In Kombination mit einer Silica-Mischung, die den Rollwiderstand senkt, wird dieser Effekt mitunter verstärkt.
Silica auf der Rennstrecke
Silica entwickelt seine Eigenschaften optimal bei niedrigen Temperaturen und kommt demnach bei hohen Temperaturen an seine Grenzen. Eine zu heiße Silica-Mischung fängt an zu schmieren und verschleißt schnell. Jedoch: Moderne Hypersportreifen haben mitunter Silica-Mischungen, die gelegentliche Einsätze auf der Rennstrecke mitmachen, oder die Mischungen sind auf der Lauffläche sehr funktional verteilt: Außen weniger oder kein Silica. In der Mitte mehr.
Also: Ja, die Rennstrecke ist nicht das beste Einsatzgebiet für Reifen mit hohem Silica-Anteil, da Silica bei hohen Temperaturen anfängt seine guten Eigenschaften zu verlieren.
Fazit
Silica ist bei Motorradreifen omnipräsent. Es erhöht die Haftung bei Nässe, bietet mehr Komfort und sogar die Laufleistung kann erhöht werden. Dabei sorgt Silica nicht direkt für diese Eigenschaften. Silica gibt der eigentlichen Gummimischung eine höhere Beweglichkeit auf molekularer Ebene. Doch dafür muss das Silica erst aufwändig behandelt werden.