Wie wirkt sich die Reifenbreite auf das Fahrverhalten aus?
Wie wirkt sich die Reifenbreite auf das Fahrverhalten aus?

Auf die Welt kam die Suzuki GSX-R 750 vor elf Jahren mit einem 140 Millimeter breiten Hinterradreifen - damals eine Sensation, rollten doch mit Ausnahme einiger Big Bikes sämtliche Sportler auf Schlappen der Dimension 120 oder 130 daher.

Wie wirkt sich die Reifenbreite auf das Fahrverhalten aus?

Auf die Welt kam die Suzuki GSX-R 750 vor elf Jahren mit einem 140 Millimeter breiten Hinterradreifen - damals eine Sensation, rollten doch mit Ausnahme einiger Big Bikes sämtliche Sportler auf Schlappen der Dimension 120 oder 130 daher. 1989, im Geburtsjahr der Kawasaki ZXR 750, war ein 170er Reifen das Maß aller Dinge und das neue grüne Superbike natürlich damit bestückt. Ein Jahr darauf legte die GSX-R 1100 mit 180 Millimeter sogar noch eins drauf. Inzwischen waren bei einigen Modellen auch die Vorderradreifen auf eine Breite von 130 Millimeter angewachsen, was fünf Jahre vorher noch als sportliches Format auf Hinterrädern galt.

Unsere Highlights

Die momentan letzte Runde in diesem Wettrüsten eröffneten Honda und Ducati 1994: eine Schwarte der Größe 190/50 auf einer sechs Zoll breiten Hinterradfelge ziert die RC 45 und die 916, und seit 1995 auch die neuen Superbikes GSX-R 750 und ZX-7R von Suzuki und Kawasaki. So gingen die Reifen der Sportmotorräder immer mehr in die Breite, doch allmählich scheint die Physik dem Grenzen zu setzen.


"Respekt", sagt da ein jeder 500er Grand Prix-Pilot oder Superbike WM-Fahrer. In ihren Rennklassen hat sich die hintere Reifenbreite schon vor Jahren zwischen 180 und 185 Millimeter eingependelt. Nur in Ausnahmefällen, auf Strecken wie Zeltweg mit vielen schnellen Kurven wird ein 190er Reifen montiert, um mit einer möglichst großen Reifenaufstandsfläche dem Abrieb mehr Gummi entgegen zu setzen.


Versuche mit 200 Millimeter breiten Schlappen wurden wieder aufgegeben, weil sie kaum noch zu realisierende Schräglagen erfordern: In der Kurve stützt sich ein Motorrad über eine Kraft, die auf der Linie zwischen Schwerpunkt und Reifenaufstandspunkt liegt, gegen die auftretende Flieh- und Gewichtskraft ab. Bei gleicher Kurvengeschwindigkeit und gleichem Kurvenradius muß ein Motorrad um so stärker abgewinkelt werden, je breiter der Reifen ist, da der Reifenaufstandspunkt immer weiter von der Fahrzeugmitte weg zur Kurveninnenseite hin wandert.


Doch die größere notwendige Schräglage ist nicht der einzige Nachteil. Störkräfte durch Bodenwellen oder Absätze im Fahrbahnbelag, die auf den außermittigen Reifenaufstandspunkt wirken, können vor allem auf schlechten Landstraßen für ein kippeliges Fahrverhalten sorgen. So mußte die neue GSX-R 750 im Fazit des Einzeltests (MOTORRAD 26/1995) folgende Kritik einstecken: "Wirklich störend ist im Alltagsbetrieb die sensibel auf Bodenunebenheiten reagierende Bereifung." Grund genug für MOTORRAD-Reifenspezialist Werner Koch, die Suzuki hinten auf Reifen der Größe 180/55 und eine von PVM in Windeseile produzierte 5,5 Zoll breite Felge abzurüsten.


Die Zahl 55 drückt übrigens das Verhältnis zwischen Reifenbreite und -höhe in Prozent aus: Die Höhe beträgt 55 Prozent der Reifenbreite, also theoretisch 99 Millimeter. In der Praxis schöpfen aber die Hersteller schon wegen der optischen Wirkung meist die erlaubte Toleranzgrenze bei den Reifenangaben nach oben hin aus, so liegt zum Beispiel die tatsächliche Breite eines 180/55 Reifen auf einer 5,5 Zoll breiten Felge je nach Marke zwischen 182 und 186 Millimeter. Die in diesem Vergleich gefahrenen Pirelli Dragon MTR02 der Dimensionen 180/55 und 190/50 maßen 185 und 194 Millimeter.


Immerhin zeigten diese neun Millimeter Wirkung: "Sie läuft leichter um enge Kehren, die Kippligkeit auf welligem Belag ist fast weg. Für die Landstraße ist die Kombination 180/55 auf einer 5,5 Zoll Felge die deutlich bessere Wahl", notierte Tester Werner Koch ins Fahrtenbuch der GSX-R. Einzig ihre Spurrillenempfindlichkeit hat die Suzuki auch mit der schmaleren Bereifung nicht abgelegt. Hier spielt wohl eher die Kontur des Vorderradreifens die entscheidene Rolle.


Für eine echte Überraschung sorgte die Alternativbereifung auf der Rennstrecke: Wie erwartet war die Suzuki handlicher beim Einbiegen, doch auch beim Herausbeschleunigen blieb sie trotz der etwas kleineren Reifenaufstandsfläche stabiler auf Kurs als mit der Originalbereifung. Schuld daran ist die weit nach außen gezogene Lauffläche des 190er Pneus: Beim Beschleunigen in Schräglage wirkt auf den äußeren Rand der Lauffläche und auf die Reifenflanken ein solch enormer Druck, daß der Reifen in diesem Bereich nachgibt und einklappt. Ein ständiges Pumpen der Hinterhand ist die Folge. Mit dem schmaleren 180er Reifen ist diese Unruhe verschwunden, und deshalb gewinnt er auch die Rennstrecken-Wertung.


Zumindest was das Breitenwachstum der Vorderradreifen angeht, hat schon vor einigen Jahren die Vernunft über publikumswirsame Optik gesiegt, und man begnügt sich in der Regel mit einer Breite von 120 Millimetern. Vorn bringt der nach außen wandernde Reifenaufstandspunkt den zusätzlichen Nachteil, daß enorme Lenkmomente beim Bremsen in Schräglage auftreten. So stehen die wenigen Motorräder, die noch mit einem 130er Vorderradreifen ausgeliefert werden, regelmäßig wegen ihres starken Aufstellmoments, das Mensch und Maschine an den Kurvenaußenrand drängt, in der Kritik.

Die blaue Silhouette zeigt einen Fahrer mit breiten Reifen, der rote Schatten einen Biker mit schmalen Pneus: Je breiter der Reifen, desto mehr Schräglage ist bei gleicher Kurvengeschwindigkeit und gleichem Kurvenradius notwendig.

Reifenbreite und Schräglage
In Schräglage greift die Gewichtskraft G und Fliehkraft F im gemeinsamen Schwerpunkt S von Fahrer und Maschine an. Ein Gleichgewichtszustand ist dann erreicht, wenn die daraus resultierende Kraft R die gedachte Verbindungslinie zwischen den Aufstandspunkten A von Vorder- und Hinterradreifen schneidet. Der dabei auftretende Neigungswinkel a liegt zwischen der Senkrechten und der Verbindungslinie zwischen A und Schwerpunkt S. Da der Reifenaufstandspunkt A nicht in der Fahrzeugmitte liegt, sondern um den Betrag r zur Kurveninnenseite hin wandert, muß das Motorrad zusätzlich um den mit zunehmender Reifenbreite größer werdenden Korrekturwinkel g geneigt werden. Dieser Korrekturwinkel und der Neigungswinkel a ergeben zusammen den tatsächlichen Schräglagenwinkel d zwischen Senkrechter und Fahrzeugmitte.

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023