Alpen-Masters 2012: Reiseenduros
Der große Reiseenduro-Test in den Alpen

In den Bergen sind universelle Reiseenduros eine Macht und heimsen traditionell die meisten Punkte ein. Vier ganz unterschiedliche Motorräder wetteifern beim Alpen-Masters in einem starken Kopf-an-Kopf-Rennen um das entscheidende Quäntchen Vorsprung.

Der große Reiseenduro-Test in den Alpen
Foto: Gargolov

Alpen-Masters 2012: Reiseenduros

Schotterpfade auf dem Bergkamm, schnelle Passagen unten im Tal oder steile Serpentinen hoch zum nächsten Gipfel – egal, immer nur her damit, diese Motorräder nehmen das alles und noch mehr gekonnt unter die Räder. Sogar die Anreise zum Abenteuerspielplatz Alpen bewältigen sie locker, denn üppige Dimensionen sorgen für ein reichliches Platzangebot und die gut geschnittenen Verkleidungen für ordentlichen Schutz vor Wind und Wetter. Nicht von ungefähr setzte auch bei der Testcrew von MOTORRAD auf dem Weg zum Alpen-Masters ein eifriges Gerangel um die vier Reiseenduros ein.

Unsere Highlights

Zwei von ihnen, die Triumph Tiger Explorer und Hondas Crosstourer, sind brandneu, die Moto Guzzi Stelvio und die Suzuki V-Strom überarbeitet. Letztere tummelte sich in ihrer ersten Version bereits beim großen Vergleichstest in den Bergen, und zwar mit durchschlagendem Erfolg: 2005 und 2006 eroberte sie die Krone der Alpenkönigin. Wer sich in ihren Sattel schwingt, dem erschließen sich auch heute sofort die Gründe. Trotz überarbeitetem Motor und gefälligerer Optik ist sie die Alte geblieben – in positivem Sinn: Bei ihr passt alles, und zwar für jeden Fahrer. Mit 232 Kilogramm die bei Weitem leichteste Maschine im Endurofeld, wirbelt sie wie ein frischer Windstoß über jeden Pass. So unbeschwert wie sie schwingt keine andere durch Kurven und Kehren, dazu belohnt sie mit präziser Rückmeldung. Das schafft Vertrauen, ebenso wie die Tatsache, dass schon Menschen ab etwa 1,80 Metern mit beiden Füßen sicheren Grund erreichen, speziell bei voller Urlaubsbeladung ein großer Vorteil. In Sachen Fahrverhalten liegt die Suzuki daher weiterhin knapp vorn.

Archiv
Leistung der Reiseenduros.

Ihr Motor hingegen gilt in diesem Umfeld mit gemessenen 71 PS als eher schlafmützig, denn die drei anderen Motorräder
bringen es auf 106 bis 131 Pferdestärken. Unfair ist das, werden Sie sagen, denn wie sollte es eine 650er mit mächtigen 1200ern aufnehmen? Doch ein Siegertyp wie die Suzuki scheut keine Herausforderung. Zwar hat sie, wie erwartet, bei Beschleunigung und Durchzug keine Chance, punktet aber mit dem besten Ansprechverhalten, ihrer leichtgängigen Kupplung und dem präzisen, gut gestuften Getriebe und hält so immerhin die Moto Guzzi Stelvio in Schach. Die ist aus ganz anderem Holz geschnitzt. Groß, schwer und längst nicht so effizient wie die V-Strom, dafür aber eine Bergführerin der handfesten Sorte. Über viel Charakter verfügt sie ohnehin, was vor allem am mächtigen Zweizylinder mit seinen 1151 cm³ liegt, auch wenn er im Vergleich die wenigsten Punkte erntet.

Dafür begleitet er jede Berg- und Talfahrt freudig schnaubend und grollend und so eindeutig lebendig, dass darüber Testwerte glatt in Vergessenheit geraten. An die anderen beiden 1200er kann die Guzzi dank jüngster Modernisierungen des Antriebs den Anschluss halten, und bergauf mit Sozius lässt sie die Crosstourer sogar stehen – in den Alpen garantiert ein starker Antritt eben einen starken Auftritt. Mit Traktionskontrolle versehen, die allerdings äußerst selten in Aktion tritt, verfügt die Stelvio über ein modernes, stabiles Fahrwerk mit guter Rückmeldung und komfortabler Abstimmung. Leichtfüßig allerdings lässt sie sich nicht nennen. Um sie über schmale Serpentinenstrecken zu bugsieren, braucht es Kraft und Konzentration.

Gargolov
Die vier Reiseenduros der Alpen-Masters 2012: Honda Crosstourer DCT, Moto Guzzi Stelvio 1200 8V, Suzuki V-Strom 650, Triumph Tiger Explorer.

Noch mehr als die Guzzi, nämlich 295 Kilogramm, bringt die Crosstourer von Honda auf die Waage, fühlt sich im Kurvengeschlängel aber deutlich leichter an. Besonderes Kennzeichen des Motorrads ist das Doppelkupplungsgetriebe samt Vollautomatik, deren Benehmen in den Bergen die ganze Testcrew gespannt beobachtete. Doch wie sollte es bei Honda anders sein: Alles klappt wie am Schnürchen. In Windeseile gewöhnt man sich daran, die richtige Gangwahl in Kurven und Kehren dem Motorrad zu überlassen. Einzige Ausnahme bilden ganz enge, langsame Serpentinen: Da die Automatik unter 20 km/h unbeirrt in den ersten Gang schaltet, kommt es vor, dass die Crosstourer einen unerwarteten Satz nach vorn macht, wenn der Fahrer, gerade noch im zweiten Gang, genau in diesem Moment wieder Gas gibt.

Doch auch für diese Fälle hat Honda vorgesorgt, denn die Automatik lässt sich deaktivieren; dann navigiert man per Handschalter oder wie gewohnt per Fußhebel durchs Doppelkupplungsgetriebe. Der kernige Vierzylindermotor bringt mit gemessenen 118 Newtonmetern das satteste Drehmoment der Gruppe mit und gibt seine Leistung sehr gleichmäßig ab. Das klingt unspektakulär, ist aber gerade in den Bergen nicht zu verachten, macht es doch die Honda selbst in schwierigen Spitzkehren überaus berechenbar. Sie kann aber auch anders als rational: Sobald man ihr ein wenig Leine gibt, stiebt sie wie ein
Wirbelwind auf und davon. Allerdings zeitigt der Verbrauch von 6,3 Litern hochgezogene Augenbrauen – sie schleppt wohl doch viel Gewicht mit sich herum.

Gargolov
Die Reiseenduros sind in den Bergen eine Macht und heimsen traditionell die meisten Punkte ein.

Das gilt ebenso für die Triumph mit ihren 271 Kilogramm. Zwar bauten die Briten sie ganz offensiv als Klon der BMW GS, sahen aber großzügig darüber hinweg, dass die Münchnerin glatte 50 Pfund weniger wiegt. Doch sei’s drum, das Zusatzgewicht macht sich zwar im Stand, kaum aber im Pässeslalom bemerkbar, wo die Triumph ihrem erfolgreichen Vorbild aus Bayern emsig nacheifert und für ihre Stabilität und das präzise Einlenken viel Lob erntet. Zudem beherrscht ihr Motor alles, was die Bergtour zum unvergesslichen Erlebnis macht, einen Tick besser als die drei Konkurrentinnen, liefert bei Beschleunigung und Durchzug die mit Abstand besten Werte und entfaltet seine gemessenen 131 PS harmonisch, aber dennoch mit beeindruckender Agilität und ordentlich Schmackes.

Bergauf jagt sie an ihren Rivalinnen regelrecht vorbei, so viel Druck entwickelt der etwas hemdsärmelige Dreizylinder von unten. Nur bergab fällt die Explorer aus der Rolle: Durch das sehr konservativ ausgelegte ABS benötigt die Britin für die Verzögerung von 75 auf 25 km/h 30 Meter. Ein Negativrekord beim diesjährigen Alpen-Masters. Doch ein kleiner Fehler ist verzeihlich, ansonsten überzeugt das englische Gesamtpaket voll und ganz und trägt den Sieg davon – und das, obwohl es doch auf der Insel gar keine nennenswerten Berge gibt.

Fazit: Sieger Triumph Tiger Explorer
GS-Klon hin, GS-Klon her: Die Triumph entpuppt sich als wahrer Bergfex und überflügelt die Rivalinnen in der heiß umkämpften Gruppe der Reiseenduros. So zieht sie ins Finale, das höchste Spannung verspricht, denn dort muss sie sich unter anderem mit der Vorjahressiegerin messen – keiner anderen als der BMW R 1200 GS.

Honda Crosstourer DCT

Gargolov
Honda Crosstourer DCT: Die Honda ist brandneu und daher erstmals beim großen Test in den Alpen dabei.

Daten
Vierzylinder, 1237 cm³, 129 PS, 126 Nm, 295 kg, Zuladung 184 kg, ABS,13490 Euro/16772 Euro*

Messwerte
Testverbrauch Pässe: 6,3 l/100 km
Theor. Reichweite Pässe: 339 km
Durchzug 50-100 km/h in 2700 m ü. NN: 9,1 s
Durchzug im 2. Gang 25-75 km/h: 7,5 s
Bremsweg bergab: 27,5 m

Plus
Die tadellos funktionierende Vollautomatik erhöht den Fahrkomfort enorm und lässt mehr Zeit für die wichtigen Dinge in den Bergen wie das Studium der Ideallinie. Bald möchte man sie nicht mehr missen, so perfekt erledigt sie ihren Job. Trotzdem schön, dass man sie in Extremsituationen manuell schalten kann.

Minus
295 Kilogramm vollgetankt sind arg viel, beim Rangieren in steilem oder unebenem Gelände machen sich die vielen Pfunde unangenehm bemerkbar. Geht das denn nicht leichter?

*inkl. Doppelkupplungsgetriebe (1000 Euro), Koffer- und Topcasesatz (1780 Euro), Griffheizung (274 Euro) und Hauptständer (228 Euro)

Moto Guzzi Stelvio 1200 8V

Gargolov
Moto Guzzi Stelvio 1200 8V: Groß, schwer und längst nicht so effizient wie beispielsweise die V-Strom, dafür aber eine Bergführerin der handfesten Sorte.

Daten
Zweizylinder, 1151 cm³, 105 PS, 113 Nm, 282 kg, Zuladung 193 kg, ABS, Traktionskontrolle, 14290 Euro/15004 Euro*

Messwerte
Testverbrauch Pässe: 5,8 l/100 km
Theor. Reichweite Pässe: 549 km
Durchzug 50-100 km/h in 2700 m ü. NN: 9,6 s
Durchzug im 2. Gang 25-75 km/h: 5,7 s
Bremsweg bergab: 28,1 m

Plus
Der bebende V2-Motor ruft nach wie vor einen Kitzel hervor wie kaum ein anderer. Die Komfortwertung müsste die Stelvio eigentlich gewinnen, denn so bequem wie auf ihr thronen Fahrer und Beifahrer sonst nirgends, doch der zwar begeisternde, aber nicht wirklich laufruhige Antrieb schlägt ihr da ein Schnippchen.

Minus
So mächtig und schwer, dass man trotz des stabilen Fahrwerks in engen Kurven kräftig mitarbeiten muss. Nichts für schwache Jungs.

*inkl. Koffersatz (714 Euro)

Suzuki V-Strom 650

Gargolov
Suzuki V-Strom 650: Trotz überarbeitetem Motor und gefälligerer Optik ist sie die Alte geblieben – in positivem Sinn: Bei ihr passt alles, und zwar für jeden Fahrer.

Daten
Zweizylinder, 645 cm³, 69 PS, 60 Nm, 232 kg, Zuladung 183 kg, ABS, 8390 Euro/9213 Euro*

Messwerte
Testverbrauch Pässe: 4,4 l/100 km
Theor. Reichweite Pässe: 452 km
Durchzug 50-100 km/h in 2700 m ü. NN: 11,5 s
Durchzug im 2. Gang 25-75 km/h: 6,9 s
Bremsweg bergab: 28,5 m

Plus
Ginge es rein um Effizienz, läge die Suzuki ganz vorn, denn sie kostet wesentlich weniger als ihre Konkurrentinnen und holt das Optimum aus dem gut abgestimmten Fahrwerk und aus ihrem 650er-Zweizylinder, was auch der geringe Verbrauch belegt. Zudem ist sie am leichtesten und niedrigsten und daher im Gebirge am einfachsten zu handhaben.

Minus
Große Gefühle weckt die V-Strom 650 nicht, dazu fehlt ihr ein Quäntchen Spritzigkeit. Auch optisch bleibt sie trotz der Überarbeitung allzu brav.

*inkl. Koffersatz und Gepäckbrücke (823 Euro)

Triumph Tiger Explorer (Sieger)

Gargolov
Triumph Tiger Explorer: GS-Klon hin, GS-Klon her: Die Triumph entpuppt sich als wahrer Bergfex und überflügelt die Rivalinnen. Damit zieht sie als Sieger der Reiseenduros ins Finale ein.

Daten
Dreizylinder, 1215 cm³, 137 PS, 121 Nm, 271 kg, Zuladung 210 kg, ABS, Traktionskontrolle, 13790 Euro/14114 Euro*

Messwerte
Testverbrauch Pässe: 5,3 l/100 km
Theor. Reichweite Pässe: 380 km
Durchzug 50-100 km/h in 2700 m ü. NN: 7,8 s
Durchzug im 2. Gang 25-75 km/h: 4,7 s
Bremsweg bergab: 30,0 m

Plus
Der grandios laufende Dreizylinder mit seinen aggressiven Untertönen verleiht der Triumph auch in den Bergen einen Extrakick. Vor allem dieser Motor sorgt für die alpinen Höchstleistungen. Und die touristischen Qualitäten ermöglichen auch im Gebirge ermüdungsfreies Fahren.

Minus
Nicht ganz so schwer wie die beiden 1200er von Honda und Moto Guzzi, aber immer noch ein dicker Brocken. Aufgepasst beim Bremsen bergab, da genehmigt sich die Explorer einen Extrameter.

*inkl. Alu-Ölwannenschutz (219 Euro) und Griffprotektoren (105 Euro)

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023